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Die Alte Uni, Heidelbergs akademisches Schmuckstück und eines der vertrautesten Gebäude der Stadt: ihre weiße, von rotem Sandstein gegliederte Fassade, das markant geschwungene Dach mit seinen tiefdunklen Ziegeln und dem lustigen Türmchen obenauf. Stein gewordener Geist, so wachte sie seit drei Jahrhunderten gelassen über den Uniplatz, das Herz der Altstadt, weshalb man auch als Nichtstudent regelmäßig an ihr vorbeitrottete. Aber ihre Innereien! Wie konnte ich die Aula nur vergessen, diesen Historienschinken in 3-D, diese staubig knarrende Gelehrtenhalle, mit ihren Lüstern und Schnörkeln und Riesengemälden im Kaiser-Wilhelm-Ornat? Die Kassettendecke ein hölzerner Echsenpanzer, die Wände eine kastanienbraune Zumutung, das Licht gedämpft, wie vom Firnis der Heidelberger Bierzipfelromantik überzogen.
Immerhin, die Akustik war gut in dem Raum.
Hier also sollte der Festakt für den greisen Wissenschaftler stattfinden. Der Rektor, als Hausherr, gab sich die Ehre. Er residierte im Ostflügel des L-förmigen Gebäudes, in der sogenannten Bel Etage auf Höhe der Aula. Bei entsprechenden Anlässen holte er seinen Faschingsschmuck aus dem Rektoratsschrank – Robe, Käppi und Amtskette – und ließ alles von seiner persönlichen Referentin abstauben. In voller Montur ähnelte er einem keltischen Druiden, behauptete zumindest Fatty, der einem dieser Aufzüge einmal beigewohnt hatte, aus welchem Grund auch immer.
Wie oft war ich hier gewesen? Zwei, drei Male, und die lagen lange zurück. Als Christine und ich uns ganz frisch kannten, hatte sie mich zu einem Konzert mitgeschleppt, Klavier oder so, und dann hatte es noch einen Vortrag von Gadamer gegeben, dem Heidelberger Vorzeigephilosophen, den man angeblich einmal in seinem Leben gehört haben musste. Gehört hatte ich ihn, verstanden nicht. Dass der Mann trotzdem Eindruck machte, lag an seinem Alter, das fast so biblisch war wie das Albert Butenschöns.
Als ich den Uniplatz erreichte, warteten dort bereits einige dunkle Limousinen: Fahrzeuge mit Stuttgarter Kennzeichen, mit Chauffeur und Parkerlaubnis. Sie standen nur wenige Meter vom Eingang entfernt, damit sich die Großkopferten auf dem Weg zur Alten Aula nicht verliefen, ich aber stellte mein Rad noch näher heran. Fast berührte sein Vorderreifen die Treppenstufen. Eintretend hielt ich einem gesetzten Pärchen die Tür auf und erntete erstaunte Blicke. Die dachten wohl, ich sei der Hausmeister. Dabei hatte ich mir sogar eine Art Sakko übergeworfen. Okay, mit meiner Kellnermontur von gestern konnte es nicht mithalten.
Marc Covet stand bereits wartend im Foyer. Hin und wieder nickte er einem aus dem Besucherstrom zu oder schüttelte flüchtig eine Hand. Der Marmorboden hallte von vielen Absätzen wider, Wellen von Parfüm und After Shave schwappten durch den Raum. Alles geladene Gäste, alle standesgemäß aufgebrezelt. Da gab es die Politiker im parteineutralen dunkelgrauen Anzug, alte Herren mit Burschenband unter ihren Jacketts, Professoren mit Brille und Gelehrtenblick, ja sogar Vertreter der US-Army, fesch in Uniform. Weibliche Gäste gab es natürlich auch. Sie stachen durch ihr mehr oder weniger erfolgreiches Bemühen um ein individuelles Outfit ins Auge, ohne sich ihrer Aufgabe, einen dekorativen Hintergrund abzugeben, entziehen zu können.
»Gehen wir hoch?«, schlug Marc vor.
»Ich warte noch auf meine Begleitung.«
»Begleitung?« Er zog die Brauen nach oben. »Rein grammatikalisch gesehen, ist das ein weiblicher Begriff.«
»Nicht nur grammatikalisch, mein Lieber. Da fällt mir ein: Hast du dich mal wieder in diesem Internetforum herumgetrieben? Du weißt schon, wo du einen Kommentar zu dem Brandanschlag hinterlassen hast.«
»Richtig, da bin ich auf etwas Interessantes gestoßen. Stell dir vor …«
»Den Kerwegroschen-Eintrag kannst du vergessen, der ist von mir.«
»Von dir?« Seine Enttäuschung war mit Händen zu greifen. »Wie kommst du auf so einen dämlichen Nickname?«
»Fahr mal nach Schnakenbach, dann kapierst du es. Und sonst? Etwas von Belang?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine Einträge, die dich interessieren könnten.«
»Mach dir nichts draus. War einen Versuch wert. Schau mal, da kommt unser Oberbürgermeister. Als wüsste er, dass ihm die Presse nichts anhaben kann.«
Gutgelaunt betrat Heidelbergs Stadtoberhaupt das Gebäude. Von Depressionen wegen schlüpfriger Schlagzeilen keine Spur. Auch der Kalbskopf von gestern Mittag, der ihm auf dem Fuße folgte, schaute so heiter drein, als könne er kein Wässerchen trüben. Dabei wollte ich wetten, dass er in seiner Tasche einen Flachmann Bernsteingold mit sich trug. Als ich Dr. Brouwer erspähte, drehte ich mich um und suchte hinter Covet Schutz. Vor dem Rechtsanwalt wollte ich meine Anwesenheit so lange wie möglich geheim halten. Am Ende war sie ihm ein kleines Gespräch mit den Butenschöns wert: Wussten Sie, welcher Profession dieser unpassend gekleidete Mensch dort hinten nachgeht? Student? Da muss ich Sie enttäuschen, Frau Butenschön!
Bei Prof. Gärtner bestand diese Gefahr weniger. An der Seite einer jungen Frau in glänzenden Lederstiefeln und kurzem Rock betrat er eben das Gebäude. Immerhin: Er war da, er hatte eine Einladung erhalten. Als Leiter eines Instituts der Uni? Oder eben doch als Vertrauensmann der Butenschöns? Wenn tatsächlich er Koschaks Name ausgeplaudert hatte – ließ das dann nicht auf ein enges Verhältnis des Ösis zu den Butenschöns schließen? Dabei spielte keine Rolle, ob es sich um ein freundschaftliches oder ein Abhängigkeitsverhältnis handelte, ob Gärtner vor den Butenschöns kuschte oder ob er auf eine Gegenleistung hoffte. Gerechnet hatte ich mit seiner Anwesenheit jedenfalls nicht.
»Kennst du Professor Gärtner?«, fragte ich Covet.
»Das soll ein Prof sein? Du meine Güte, die werden auch immer jünger. Aber wenn ich ehrlich bin, wäre mir die Bekanntschaft seiner Frau noch lieber.«
»Ich weiß nicht, ob das seine Frau ist.«
»Seine Begleitung.«
»Du sagst es. Meine ist übrigens auch nicht ohne.«
Da kam sie schon: Susanne Rabe, blass und ernst wie immer, dezent geschminkt, in der Hand einen Strauß roter Rosen. Unter ihrer Windjacke trug sie einen schwarzen Anzug. Ich fand, sie sah einfach hinreißend aus, und Covets neidischer Blick sagte mir, dass ich mit dieser Meinung nicht allein stand. Ich stellte die beiden einander vor.
»Solltest du einen Artikel über Studenten oder Studierende schreiben wollen, Marc, halte dich an sie. Wenn du einmal groß feiern willst, auch.«
»Feiern?« Covet verstand nicht.
»Und sollten Ihre Gäste über die Tische reihern, hätte ich auch einen Tipp«, erwiderte Susanne ohne das geringste Lächeln. »Gehen wir?«
Mit raschen Schritten erklomm sie die breite Marmortreppe, wir hinterher. Marc, ganz Gentleman, brachte Susannes Jacke zur Garderobe, erhielt jedoch auf seine Frage, für wen der Strauß gedacht sei, keine Antwort. Ihr Handy kontrollierend, ging sie voraus.
»Kühler als ein Novembertag«, murmelte er und ließ einem Rolli, der eben dem Aufzug hinter der Garderobe entschlüpfte, den Vortritt.
Am Durchgang zur Aula wurden unsere Einladungen kontrolliert. Einer von zwei smarten jungen Herren nahm sie in Empfang, bestätigte lächelnd ihre Gültigkeit und wünschte uns angenehmen Aufenthalt. Über knarrende Dielen betraten wir den Saal. Die Stuhlreihen vor uns waren bereits gut gefüllt, auf den wenigen unbesetzten Plätzen lagen Namensschildchen. Wir quetschten uns in eine der seitlich angebrachten Holzbänke, die um die Aula liefen wie das Gestühl einer Apsis. Susanne bestand darauf, außen zu sitzen.
»Musst du früher los?«, fragte ich sie. »Oder hältst du dir immer einen Fluchtweg frei?«
Sie nickte unbestimmt. Ihren angespannten Züge nach zu urteilen, stand sie mächtig unter Druck, kein Vergleich zu dem bisschen Organisationsstress von gestern. Ich war ehrlich gespannt, was diese Frau im Schilde führte.
»Mann, ist das ein Rot!«, hörte ich Covet murmeln.
Ich folgte seinem Blick. Schräg gegenüber leuchtete ein Haarschopf grell aus der Menge hervor: Dörte Malewski! Wenn das mal keine Überraschung war! Ihre Worte klangen mir noch deutlich im Ohr: Was hätte ich zu feiern, Herr Koller? Ja, Frau Malewski, was gibt es zu feiern? Warum sind Sie hier? Und vor allem: Wie kamen Sie an eine Einladung? Sie bemerkte mich und meine verwunderten Blicke, gönnte mir aber nur ein knappes Lächeln über die Stuhlreihen hinweg.
Ich ließ mir von Marc die Namen und Funktionen einiger Anwesender nennen: Würdenträger, Repräsentanten und Leute, um die man bei solchen Veranstaltungen nicht herumkam. In der ersten Reihe, links vom Mittelgang, saßen die Butenschöns, rechts der Oberbürgermeister neben Baden-Württembergs Wissenschaftsminister. Vertreter mehrerer Max-Planck-Institute waren angereist, der halbe Gemeinderat war da, und natürlich durften auch die hiesigen Milliardäre nicht fehlen, die bei jeder Veranstaltung in die Kameras grinsten, weil sie immer und überall ein paar Mäzenateneuros springen ließen.
Apropos Kameras: Gleich zwei Fernsehteams hatten sich in die Aula bemüht, der SWR und ein Lokalsender, um das Publikum und die Honoratioren von beiden Seiten unter Beschuss zu nehmen. Irgendwie hatten sie es geschafft, ihre Gerätschaften in den engen Bankreihen aufzubauen, und zwar ganz vorne, wo sich das Gestühl nach innen neigte, bis es am kanzelähnlichen Rednerpult endete. Im freien Halbrund davor wartete ein riesiger Flügel auf seinen Einsatz, ein Notenpult und ein Stuhl standen ebenfalls herum.
Endlich ging es los. Zwei Musiker zogen unter dem Beifall des Publikum ein wie Pallas Athene in das ländlichschöne Heidelberg. Diese Assoziation kam natürlich nicht von ungefähr, sondern plumpste sozusagen von der Historienmalerei an der Stirnwand direkt in den Mittelgang der Alten Aula. Athene in der Fußgängerzone, darauf musste man erst einmal kommen. Die Cellistin piekste ihren Stachel in die Holzdielen, der Pianist rückte seinen Stuhl zurecht. Dickflockige Musik schwebte durch den Raum. Mir entfuhr ein Gähnen, was Dörte Malewski von der anderen Seite des Saals mit einem tadelnden Blick quittierte.
Dann war es vorbei, und der Rektor der Universität, Amtskette um den Hals, schritt im verhallenden Applaus zum Rednerpult. Seine Ansprache stellte er unter das Motto »Dem lebendigen Geist«, wie es gusseisern über dem Portal der Neuen Uni zu lesen war. Von diesem Satz leitete er alles ab, die Begrüßung, den Anlass, die Freude und die Ehre, einmal geschüttelt und gerührt das Ganze, und jeder war zufrieden. Covets Stift fuhr ohne Hast über einen Notizblock. Abgang des Rektors, Übergabe des Staffelholzes an den Oberbürgermeister. Lieber Professor Butenschön, jammerte der, es bricht mir das Herz, dass Ihr Jubelfest im Schlagzeilengewitter um die wildeste Hure völlig unterging, und ich Sünderlein habe es zu verantworten. Weshalb ich demissioniere, hier und jetzt. Okay, er sagte etwas komplett anderes, unser Stadtvater, aber meine Gedanken waren längst abgeschweift, zu Agata, den Albanern und zu Evelyn Deininger. Was Knödelchen wohl gerade tat? Sich erholen, mit ihrem Mann einen Spaziergang durch Dossenheim machen, die Enttäuschung von gestern verdauen? Oder arbeitete sie auch heute, am Sonntag, an ihrer Promotion? Anschließend stellte ich mir vor, wie ein Molotowcocktail durch eines der Aulafenster platzte und im geöffneten Flügel landete. Was ein Ding der Unmöglichkeit war, denn vor den Fenstern war der Sonnenschutz herabgelassen. Auf dass dem universitären Geist das Lebendige nicht zu nahe kam.
Neben mir fingerte Susanne auf ihrem Handy herum. Sprach nicht gerade für ein stabiles Nervenkostüm, wenn sie jetzt noch eine SMS verschickte. Ich suchte Gärtner unter den Zuhörern und erspähte ihn in einer der hinteren Reihen, die Hände zu pflichtschuldigem Beifall hebend. Seine Herzensdame lächelte maliziös und beugte sich zu ihm hinüber, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Oder um es anzuknabbern, das traute ich ihr glatt zu.
Nun waren die Musiker wieder an der Reihe und präsentierten ein Stück, das bestimmt doppelt so alt war wie der Jubilar. Ich versuchte einen Blick auf Butenschön zu erhaschen, doch er saß zu weit entfernt. Lediglich einen Teil seines Hinterkopfs und der großen Brille sah ich sowie einmal seine rechte Hand, die den Stock umklammerte, und auch das nur, weil unsere Bankreihen leicht anstiegen. Neben ihm bewegte sich der Kopf seiner Frau ruckartig hin und her, als wolle sie sich vergewissern, dass es auch die Richtigen waren, die in der Nähe ihres Mannes Platz genommen hatten. Wo war eigentlich Brouwer? Ich entdeckte ihn nicht. Seitlich in den Bänken saßen die Leute dicht gedrängt, auch die Stühle waren fast komplett belegt. Um weitere Personen unterzubringen, hätte man schon den Zugang zur Empore öffnen müssen. Dort oben befanden sich die besten Plätze, wusste ich von Covet, dem erfahrenen Konzertgänger.
Der musikalische Zwischengang war verspeist, nun folgte als Hauptgericht die Laudatio auf den 100-Jährigen. Wie ein Storch stakste der Minister aus Stuttgart hoch zur Kanzel, um einen Papierstoß von erschreckender Dicke auf dem Rednerpult abzulegen. Übergehen wir seine Ansprache. Sie war lang und gescheit, Marc machte sich seufzend Notizen, Susanne rieb mit den Handflächen über ihre Oberschenkel. Ich starrte die gegenüberliegende Wand an. Sie war aus Holz. Ich war aus Holz. Meine Gedanken konnten nicht abschweifen; ich hatte keine. Die Welt rotierte um ihre eigene Achse, der Minister um seine eigenen Worte. Armer Albert Butenschön. Wie viele solcher Floskelgebirge hatte er in seinem Leben schon über sich einstürzen sehen?
Ein Rippenstoß von rechts. »Nicht einschlafen, du Penner!«
»Ich bin hellwach«, raunte ich zurück. »Konzentrier du dich lieber auf deinen Bericht.«
»Für wen sind eigentlich die Rosen? Für dich?«
»Bin ich das Geburtstagskind?«
Covet schwieg und fuhr sich nachdenklich durch den Bart. Vorne schien die ministeriale Eloge allmählich den Heimathafen anzusteuern. Diese Formulierung drängte sich auf, weil der Laudator von Butenschön als Galionsfigur sprach, von einem Kapitän, der sein Schiff, also das der Forschung, auch bei schwerer See und hohem Wellengang … In einer Ausstellung holländischer Landschaftsmaler mit Bildern von Fregatten, die dem Unwetter davonsegelten, hätten die Worte des Ministers vielleicht Sinn gemacht. Zu der bunten Pseudoantike der Alten Aula aber passten sie wie die Malerfaust aufs Betrachterauge. Klarer Fall von Stilbruch.
»Schwere See ist gut«, flüsterte ich Covet zu. »Was meint er damit? Butenschöns Rolle unter den Nazis?«
»Möglich. Aber nicht sicher. Warum konkret werden, wenn es die Nebelkerze auch tut?«
Ich nickte. Das Schiff war im Hafen, die Ladung gelöscht. Noch ein Häppchen Musik, dann nahte der Höhepunkt des Festmenüs. Dem Minister reichte man eine in Leder gebundene Mappe. Angekündigt wurde eine Auszeichnung der Landesregierung für ihren verdienstvollsten Wissenschaftler. Wie hatte Bärchen Deininger gelästert? Sie werden eine neue erfinden müssen, weil Butenschön schon alle besitzt … Der Greis erhob sich. Hälse wurden gereckt.
Neben mir hörte ich Susanne tief durchatmen. Entschlossen drückte sie einen Knopf ihres Handys, dann steckte sie es ein und griff nach den Rosen. Vorne wackelte Butenschön dem Laudator entgegen. Der Minister klappte die Ledermappe auseinander, wandte sich, nun ohne Mikrofonverstärkung, da im offenen Halbrund stehend, dem Publikum zu: »Hiermit verleiht das Land Baden-Württemberg …«
Er brach ab. Schon wieder Musik, aber was für eine! Gedämpft durch die Fenster und den Sonnenschutz, aber immer noch klangvoll genug, drang ein vielstimmiger Geburtstagschor von draußen in die Alte Aula: »Happy birthday, Professor Butenschön, happy birthday to you!«
Unruhe im Saal. Einzelne Lacher, die sich zu allgemeiner Heiterkeit auswuchsen. Welch hübscher Einfall! Und so junge Stimmen! Covet und ich wechselten Blicke. Aber nur kurz, da jemand anderes sämtliche Blicke auf sich zog. Susanne hatte ihren Platz verlassen und eilte, die Blumen in der Hand, durch den Mittelgang nach vorne. Das Ständchen war eben verklungen, als sie den Jubilar erreichte und ihm den Strauß in die Hand drückte. Neben den beiden stand ein baffer Minister und wusste nicht wohin mit seiner Mappe. Susanne schenkte Butenschön ein bezauberndes Lächeln, dem vermutlich nur ich, der ich sie ein klein wenig besser kannte als der Rest, ansah, welche Selbstbeherrschung es ihr abverlangte. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Rührung allenthalben. Einige klatschten, es gab Bravorufe.
»Was wird denn das, wenn’s fertig ist?«, knurrte Covet.
Susanne bat um Ruhe. Bleich und kämpferisch sah sie aus, als sie in den Saal rief: »Auch wir, Studenten und Studentinnen der Universität Heidelberg, möchten unserem hochverehrten Professor zum Geburtstag gratulieren. Unten auf dem Uniplatz stehen Dutzende von Kommilitonen, um Ihnen, lieber Professor Butenschön, dieses Ständchen zu bringen. Gleichzeitig aber« – sie drehte sich um, sprang die wenigen Stufen zur Rednerkanzel hinauf und sprach in das bereitstehende Mikrofon – »gleichzeitig wollen wir diese Gelegenheit nutzen, um auf die Missstände an unserer Universität hinzuweisen. Missstände, unter denen sich wissenschaftliche Leistungen wie die eines Albert Butenschön nicht mehr erbringen lassen. Sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrte Vertreter des Rektorats, hiermit richten wir einen dringenden Appell an Sie alle, die aktuelle Hochschulpolitik grundlegend zu überarbeiten. Schaffen Sie die Masterstudiengänge ab oder reformieren Sie sie! Nehmen Sie die Einführung von Studiengebühren zurück! Und beseitigen Sie die unseligen Verflechtungen von Wirtschaft und Wissenschaft, die unsere Institute zum Fundraising zwingen und zur Vernachlässigung der Lehre. Tun Sie es auch aus Respekt vor der Lebensbilanz eines Albert Butenschön.« Susannes Stimme kippte. Sie schnappte nach Luft.
Ich gab Covet den Rippenstoß von vorhin doppelt zurück – aus Begeisterung! Für diesen einen Moment hatte es sich gelohnt, all die langweiligen Ansprachen zu ertragen, das Pausengeklimpere und das Defilee der Wichtigen. Jetzt war was los in der Alten Aula! Nicht schlecht, Susanne Rabe. Die Heiterkeit des Publikums hatte sich in Entrüstung verwandelt, statt der Zustimmung von eben hagelte es Rufe wie »Unerhört!« und »Frechheit!«. Der lobredende Minister tuschelte mit dem Unirektor, Frau Butenschön war aufgesprungen, nur um sich gleich darauf, wie in Zeitlupe, wieder zu setzen. Ihr Mann stand einsam im Halbrund und schaute verstört zur Kanzel hinauf.
Susanne hatte sich gefangen. Die Empörung des Publikums nahm zu, aber wer hatte das Mikrofon? Sie! »Für Professor Butenschön«, hallte es aus den Lautsprechern, »stand das Leistungsprinzip immer an erster Stelle. Das haben Sie, verehrter Herr Rektor, in Ihren Begrüßungsworten eigens betont. Die heutigen universitären Verhältnisse aber verhindern Leistung! Die Studiengebühren sorgen dafür, dass nur derjenige Leistung zeigen kann, der auch die finanziellen Möglichkeiten hat. Selektion über den Geldbeutel, so empfinden wir das! Unter diesen Umständen sehen die Albert Butenschöns von heute womöglich nie eine Uni von innen. Und wenn sie es tun, verschleudern sie ihr kreatives Potenzial in hoffnungslos verschulten Masterstudiengängen. Auf diese Weise züchtet man keine zukünftigen Nobelpreisträger, sondern geklonte Halbwissenschaftler.«
Sie hielt inne, weil sich der Rektor neben ihr – gleichzeitig aber auch unter ihr, er stand nämlich eine Stufe tiefer – in all seiner akademischen Würde aufgebaut hatte. Einzelne seiner Worte wurden von der Lautsprecheranlage übertragen: Vernunft annehmen … Bogen überspannt … Brüskierung des Jubilars … Nun, da griffen die Gäste des Festakts zu weniger höflichen Formulierungen; die Tussi rauszuschmeißen, war noch eine der milderen Forderungen. Ich sah, wie Covet, hochkonzentriert über seinen Notizblock gebeugt, jedes Wort von Susanne mitschrieb. Ich sah aber auch, und das mit diebischem Vergnügen, dass die Kameraleute der beiden Fernsehsender hinter ihren Arbeitsgeräten klemmten und die Rednerin keine Sekunde aus den Augen ließen. Doch, jetzt, da sie ein paar halblaute Sätze mit dem Rektor wechselte, schwenkte der SWR-Mann ins Publikum. Gerade rechtzeitig, um einen distinguierten älteren Herrn zu filmen, wie er drohend die Faust schüttelte. Das Fäkalwort, mit dem eine hinter ihm sitzende Dame Susanne bedachte, dürfte es ebenfalls in die abendliche Lokalschau geschafft haben.
»Geile Performance«, entfuhr es mir, ganz gegen meine üblichen Sprachgewohnheiten. Marc nickte, ohne sein Protokoll zu unterbrechen.
»Ich kann Ihre Einwände nachvollziehen«, klang Susannes Stimme durch den Saal, »aber wenn Sie uns keine Möglichkeit geben, Herr Rektor, unsere Standpunkte öffentlichkeitswirksam darzulegen, müssen wir jede sich bietende Gelegenheit ergreifen.« Während der Rektor wutschnaubend zu seinem Platz stapfte, kam einer der smarten Türsteher auf ihn zugeeilt. Kurzer Wortwechsel, ein Nicken des Chefs, schon flitzte der Smarte zurück. Auch Frau Butenschön hatte sich endlich entschieden, ihren Mann nicht länger im Regen stehen zu lassen, sondern ihn sanft zu seinem Stuhl zu geleiten. Resigniert schüttelte der Alte den Kopf.
»Unverschämtheit!«, hallten Rufe durch die Aula. »Diese Schmarotzer!« Aber auch das: »Lasst sie ausreden!«, verlangte jemand lautstark, und sein Tonfall ließ mich auf Prof. Gärtner tippen. Zumindest gab es wütende Reaktionen in seine Richtung.
Vom Minister nach vorne geschubst, stellte sich der Rektor mit erhobenen Armen vor das Publikum und rief: »Einen Moment noch Geduld, meine Damen und Herren! Wir haben gleich wieder alles im Griff.« Doch er wurde übertönt: von Susannes klarer Stimme, von ihren Forderungen nach mehr studentischer Mitsprache, nach besserer personeller Ausstattung, vor allem im Bereich der Lehre, und nach einer deutlichen Verbilligung des Semestertickets. Sie hatte wieder Farbe im Gesicht, sprach ohne Punkt und Komma, schien sich an ihrem Auftritt regelrecht berauschen zu können. Dann aber, mitten im Satz, war der Ton weg. Jemand musste dem Mikro den Saft abgedreht haben. Susanne registrierte es und hob die Stimme. Die Akustik, wie gesagt, ist gut in der Alten Aula, doch gegen die Buh-Stürme der Besucher hatte auch eine aus Leibeskräften schreiende Studentin keine Chance. Was für ein Brüllduell! Als nächstes kamen die beiden Türsteher angerannt, stürmten die Kanzel und griffen jeder einen Arm Susannes. Die machte sich frei, schimpfte, zog ihr Handy aus der Tasche und tippte darauf herum. Großer Beifall, als die Jungs begannen, Susanne von der Kanzel zu zerren. Der Rektor sekundierte mit Kommandos. Blieb die Frage, wie man eine rebellische Studentin ohne jegliche Gewaltanwendung dazu brachte, ihren Platz zu räumen. Die Antwort fiel leicht: gar nicht! Je stärker der Applaus brandete, desto fester packten die Hilfskräfte zu, mahnte der Rektor zur Besonnenheit. Susanne wollte zur Kanzel zurück, wurde daran gehindert, schrie auf.
»Moment mal«, murmelte ich und erhob mich halb von meinem Platz. Finger weg von Susanne!
Covet zeigte zur Eingangstür. »Schau, da!«
Jetzt sah ich es auch. Das Publikum bekam Zuwachs! Immer mehr junge Leute strömten in die Aula, schrien Parolen, bliesen in Trillerpfeifen. Ein paar hatten Plakate dabei, andere versuchten, den Geburtstagssong von vorhin anzustimmen, was aber unterging. Die Gäste wandten die Köpfe, viele erhoben sich vor Schreck. Es wurde unübersichtlich.
Als ein weiterer Schrei Susannes durch die Aula gellte, hielt mich nichts mehr auf meinem Platz. Zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden war Max Koller, der Retter aller Bedrängten, gefordert. Bevor der Mittelgang durch die Demonstranten unpassierbar war, rannte ich los.
»Mach keinen Fehler!«, rief mir Covet hinterher. Typisch Schreiberling!
Ich kam eben recht, um zu verhindern, dass Susanne eine Ohrfeige verpasst bekam. Es war dem Jungspund nicht einmal zu verdenken, schließlich hatte die Kratzbürste ihn in die Hand gebissen, und von hinten näherte sich das Heer ihrer Unterstützer. Trotzdem, smart war das nicht. Ich stürzte ihm also entgegen, rempelte dabei jemanden an – Hoppla, der Rektor der Uni Heidelberg persönlich! – und fiel ihm in den erhobenen Arm. »Ganz ruhig!«, sagte ich. »Keine unbedachten Handlungen.« Der Kerl schaute wie eine Lok, sein Kumpel mischte sich ein, erregte Worte flogen hin und her. »Verdammte Machos!«, zischte Susanne, »Die spinnt doch!«, lautete die Antwort. Ich kam mit dem Schlichten kaum nach.
Vom Eingang her fluteten weitere Studenten in den Saal. Ich erhaschte einen Blick auf die konsterniert dasitzenden Butenschöns. »Das geht zu weit«, flüsterte der Rektor, schweißüberströmt. »Ich hole die Polizei!«
»Das tut er immer«, hetzte Susanne. »Beamtenseele!«
»Reiß dich zusammen!«, herrschte ich sie halblaut an, gleichzeitig Übergriffe der beiden Türsteher abwehrend. »Du hattest deinen Auftritt, er war grandios, aber jetzt ist es vorbei.« Ich wandte mich an den Rektor. »Wir brauchen keine Polizei. Sie wird mit ihren Kommilitonen den Saal räumen. Danach können Sie die Feier zu Ende bringen.«
Der Mann beachtete mich nicht; sah mir wohl den Studienabbrecher an. Er sprach von Hausfriedensbruch und Tralala und schwitzte dabei aus allen Poren. Im Hintergrund wurde gegrölt. Frau Butenschön zerrte ihren Mann aus dem Stuhl und schob ihn aus der Gefahrenzone. Susanne trat einem ihrer Bedränger gegen das Schienbein, woraufhin sie nun doch eine gewischt bekam.
»Verdammt, das reicht!«, rief ich. »Was willst du denn noch außer Schlagzeilen? Nimm deine Leute und zieh Leine!«
»Wer fragt denn dich?«, funkelte sie mich an und riss sich los. Sie stellte sich in den Mittelgang, vor ihre entgegenströmenden Kommilitonen, und forderte sie auf umzukehren. Besonders erfolgreich war sie nicht, was aber auch an den beiden rabiaten Türstehern lag, die sie partout in die Mangel nehmen wollten. Das wiederum missfiel den Studenten, unter denen einige Kampfsportlerstatur hatten. Es gab also weitere Debatten, Drohungen, Einschüchterungen. Besucher mischten sich ein, der Rektor tippelte von einem Wichtigtuer zum anderen, um sich für den Vorfall zu entschuldigen, während das Geburtstagskind und seine Frau das Weite suchten. Ich sah zu den Kameraleuten hinüber. Sie filmten unverdrossen. Klar, für sie war das hier ein Sechser im Lotto. Für Susanne dagegen würde die Sache ein Nachspiel haben, und sie konnte nur darauf hoffen, dass die Handgreiflichkeiten der smarten Jungs dokumentiert worden waren.
Irgendwie ging mich das Ganze nichts mehr an. Dem Beispiel der Butenschöns folgend, zwängte ich mich hinter die seitlichen Bankreihen und ging zu meinem Platz zurück. Einige Gäste waren bereits auf dem Weg nach draußen. Die Studenten pfiffen und skandierten. Während ein Teil von ihnen den Rückzug antrat, kamen andere erst herein. Marc antwortete auf mein Zeichen, dass ich von dem Trubel genug hatte, mit einem Nicken und folgte mir. Über eine der beiden Seitentüren erreichten wir den Vorraum.
Auch hier war das Gedränge groß. Gutgelaunte Studenten gaben empört flüchtenden Besuchern spöttische Kommentare mit auf den Weg, zwischen ihnen lief schimpfend der Hausmeister umher. »Also, ich bleibe«, sagte Covet. »Muss unbedingt noch ein paar O-Töne einholen.« Ich hielt nach den Butenschöns Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken. Stattdessen stand plötzlich Dörte Malewski vor mir.
»Wie Sie es geschafft haben, an eine Einladung zu kommen, müssen Sie mir verraten«, sagte ich.
»Mit Hartnäckigkeit«, antwortete sie. An ihren Ohren schwangen noch größere Ringe als vor drei Tagen, auch ihr Kleid war ein anderes. Nur auf den giftgrünen Schal hatte sie nicht verzichten wollen. »Und Sie, Herr Koller?«
»Mit Charme. Eine meiner größten Tugenden.«
»Meine nicht.« Und schon ließ sie mich stehen wie einen Schuljungen, um einem fluchtbereiten Grüppchen in den Weg zu treten. »Na«, rief sie, »wie hat Ihnen die Feier gefallen, Herr Butenschön? Was halten Sie von den heutigen Studenten?«
Der alte Mann starrte sie schweigend an. Er saß in einem Rollstuhl, der wohl im Vorraum der Aula auf ihn gewartet hatte und nun von seinem langhaarigen Urenkel geschoben wurde. Auch der Knabe brachte kein Wort über die Lippen, als sich die grellbunte Gestalt vor ihm aufbaute. Dafür reagierte Frau Butenschön.
»Verschwinden Sie, Frau Malewski!«, giftete sie, passend zum Schal ihrer Widersacherin. »Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie uns in Ruhe lassen sollen!«
»Keine Sorge, ich bin so gut wie weg. Vorher aber würde mich interessieren, was Ihr Mann von den Forderungen der Studenten hält. Inhaltlich müsste er sie doch voll unterstützen. Oder sind Sie immer noch der Meinung, außerhalb der Professorenschaft habe niemand das Recht auf universitäre Mitbestimmung? So wie damals?«
Na, nun wurde die gute Frau Butenschön aber zickig! Sie fauchte und zischte, dass es ein Vergnügen war, und Dörte Malewski hielt rechtschaffen dagegen. Hätte mich nicht gewundert, wenn sich die beiden gleich an die Gurgel gegangen wären. Der Greis saß bei ihnen, ein zusammengesunkenes Häuflein Elend, das Gesicht wächsern. Unsere Blicke trafen sich. Wie sich Hände treffen, die geschüttelt werden wollen. Und da: Täuschte ich mich, oder hellten sich seine Züge tatsächlich ein wenig auf? Er erkannte mich, ganz bestimmt. Etwas Flehendes lag in seinem Blick.
Erst zögerte ich noch. Aber dann, als Frau Butenschön ihren Urenkel mit dem Rollstuhl vorausschickte, um sich dem Disput mit der Malewski in Ruhe widmen zu können, schritt ich zur Tat. Ein Klaps auf Covets Schulter: »Halt mir den Rücken frei! Ich entführe Butenschön.«
»Du machst was?«
»Ich entführe ihn. Kümmere du dich um den Jungen und wer mir sonst noch hinterher will.« Mitten unter all den Leuten drängte ich den Langhaarigen sanft beiseite, sagte ihm, er dürfe seine Uroma in dieser Situation nicht allein lassen; von der anderen Seite nahm ihn Covet in Beschlag, um ihn in seiner Eigenschaft als Journalist der Neckar-Nachrichten mit Fragen zu bombardieren, und schon hatte ich den Rollstuhl für mich. Ich bugsierte ihn Richtung Garderobe, vorbei an Mänteln und Jacken, links um eine Ecke – wir waren außer Sicht. Jetzt der Aufzug: Ich schob Butenschön hinein und drückte die oberste der fünf Tasten. Im Dachgeschoss, auf Höhe der gesperrten Empore, würde uns niemand vermuten. Mit einem Seufzer fuhr der Lift an. Oben vergewisserte ich mich, dass die Etage menschenleer war. Anschließend legte ich meinen Geldbeutel auf die Schwelle.
Butenschön hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen. Auch jetzt, da sich die Tür bis auf einen schmalen Spalt schloss, blieb er stumm. Der Aufzug lag so abseits, dass der Lärm aus dem Stock unter uns nur als dumpfes Gemurmel zu hören war. Ich drückte mich an dem Sitzenden vorbei und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen die Rückwand.
»Hallo, Herr Butenschön«, grinste ich. »Wie geht es Ihnen?«