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Auf dem Heimweg meldete sich mein Handy. Im Fahren zog ich die Handschuhe aus, nestelte den Störenfried aus der Brusttasche und nahm das Gespräch entgegen. Klar und deutlich drang Marc Covets Stimme an mein Ohr.

»Wie lief es gestern Abend?«, rief er. »Haben sie dir die Bude eingerannt?«

»Gleich. Sag mir vorher, wie viel Grad ihr da unten habt.«

»Bloß kein Neid. Auch in Ägypten naht der Winter mit Riesenschritten.«

»Wie viel?«

»25 Grad. Höchstens! Hätte ich doch nur lange Hosen mitgenommen.«

»Ich hasse dich.«

»Für nächste Woche haben sie sogar Regen gemeldet. Aber da bin ich ja längst wieder im schönen, herbstlichen Heidelberg. Und nun raus mit der Sprache: Wie war die Lesung?«

»Keine Ahnung. Frag das Publikum.« Aber damit gab sich Covet natürlich nicht zufrieden. Entspannt auf eine Liege am Hotelpool gefläzt  ab und zu hörte ich es im Hintergrund platschen und plantschen –, lauschte er meinem Bericht. Er wollte alles wissen, bis auf die letzte Kommastelle: die Zahl der Hörer, ihre Reaktionen, ihre Fragen, Christines Eindrücke und die Meinung der Buchhändlerin. Ob auch nach ihm gefragt worden sei. Wie viele Bücher ich signiert hätte. Und welche seiner Kollegen da gewesen seien.

»Hat jemand Anmerkungen zum Stil gemacht? Ich meine, wie das Ganze erzählt ist. Mensch, Max, da muss es doch Kommentare gegeben haben!«

»Die Buchhändlerin fand deine Erzählweise etwas weitschweifig. Und eine Frau meinte, so dämlich, wie ich in dem Buch rüberkomme, sei ich in Wahrheit gar nicht. Eine ziemlich hübsche Frau. Das hat mir gefallen.«

»Bitte? Natürlich bist du das. Du bist genau so dämlich wie beschrieben. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Verbindlichsten Dank.« Ich wechselte das Telefon in die linke Hand, um einen Fußgänger von der Straße zu klingeln.

»Weitschweifig, wenn ich das schon höre!«, lamentierte es vom Nil herüber. »Die Leute haben keine Ahnung von Literatur. War bestimmt einer meiner Kollegen, der diesen Mist abgesondert hat. Einer vom Feuilleton, wetten wir?«

»Nein, es war die Buchhändlerin. Die meisten Zuhörer wollten wissen, ob ich all die Sachen wirklich so erlebt hätte.«

»Und? Was hast du geantwortet?«

»Dass wir hin und wieder was verändern mussten. Nicht nur die Namen.«

»Spinnst du? Die Leute lechzen nach Authentizität, und du sagst, es sei alles nur erfunden?«

»Wonach bitte?«

»Authentizität!«

»Nie gehört, dieses Wort. Hat außerdem ein paar T zu viel.«

»Wenn man es in jeden zweiten Satz einbaut, kann man es irgendwann auch unfallfrei aussprechen. Hör zu, als Autor musst du deinen Lesern und Hörern jederzeit vermitteln, dass sie an einem realen Geschehen teilhaben. Regel Nummer eins!«

»Soll ich vielleicht flunkern?«

Covet stöhnte, den ganzen Weg von Alexandria in die Kurpfalz hinüber. »Du hast wirklich keine Ahnung von Literatur, mein Lieber. Dafür hast du mich. Ich sorge dafür, dass dein Buch ein Bestseller wird. Und von den Tantiemen kaufen wir uns eine kleine Brennerei in Schottland.«

Ich brummte etwas Unverfängliches, während ich in eine der Handschuhsheimer Nebenstraßen abbog. Dort ließ ich den Lenker los und fuhr freihändig weiter.

»Also, bei der nächsten Lesung bin ich dabei«, beschied mir mein Journalistenfreund. »Sobald ich zurück bin, kümmere ich mich darum. Und immer dran denken: authentisch sein! Die Leute brauchen das.«

Das Handy am Ohr, passierte ich einen am Straßenrand stehenden VW-Transporter, dessen Insassen mir grimmige Blicke zuwarfen. Ein paar Meter weiter glotzte mich das runde Auge eines mobilen Blitzers an. »Sag mal, Marc …«

»Was?«

»Darf man beim Fahrradfahren eigentlich telefonieren?«

»In Ägypten, ja. Bei euch in Deutschland garantiert nicht.«

»Gut zu wissen.«

»Also, hau rein. Und vergiss nicht: Übermorgen um neun landet mein Flieger.«

»Bis dann!«

Ich steckte das Handy ein, griff zum Lenker und bog rechts ab. Einmal um den ganzen Block herum, bis ich mich wieder am Beginn der Nebenstraße befand. Jetzt fiel mir auch das große Tempo-30-Schild an der Seite auf. Ich holte tief Luft. Duckte mich, machte einen Buckel, prügelte mit beiden Füßen auf die Pedale ein. In die Lenkstange beißen. Das Blut in den Ohren kochen hören. Höchstgeschwindigkeit! Der Fahrtwind brüllte. Gib alles, Max! Auf Höhe des VW-Transporters hob ich den Kopf und grinste das Kameraauge an.

Blitz!

Die Faust in den trüben Himmel reckend, fuhr ich weiter. Mein Puls raste. Yes!

Nach diesem Triumph über die kommunale Wegelagerei wäre ich beinahe falsch abgebogen  die Macht der Gewohnheit. Es waren schließlich erst einige Monate vergangen, dass meine Ex-Frau und ich eine Wohnung in Bergheim bezogen hatten. Gemeinsam, jawohl. Während es bei Christines Auszug drüben in Waldhilsbach bittere Tränen gegeben hatte, war mein Vermieter nicht einmal zur Abnahme erschienen. Nun saßen wir zwei im städtischsten Stadtteil von ganz Heidelberg, glotzten vom dritten Stock eines Mietshauses auf Straßenbahnschienen und versuchten herauszufinden, ob wir die richtige Entscheidung getroffen hatten. Immerhin, das war das Beruhigende, ließ sie sich jederzeit rückgängig machen. In Waldhilsbach würden sie Christine mit offenen Armen empfangen, und wer mietete in absehbarer Zeit schon ein Zweizimmerloch wie meines? Aber in Heidelberg bringst du ja sogar Hundehütten an den Mann. An den Hund weniger.

Jedenfalls waren wir mit gemischten Gefühlen in die neue Wohnung gezogen. Gemischt hieß in diesem Fall, dass sich Christines Freude mit meinen schlechten Vorahnungen zu einem wechselwarmen Durcheinander vereinigte. Doch es half nichts, ich hatte es selbst gewollt, hatte Ja und Amen zu einem zweiten Versuch gesagt, und zwar in nüchternem Zustand. Bei vollem Bewusstsein. So kann es einen umkrempeln, wenn man Nacht für Nacht die Mündung einer Pistole spürt, die einem gegen die Schläfe gedrückt wird.

Zugegeben, den Druck an meiner Schläfe spürte ich schon längere Zeit nicht mehr. Trotzdem schlief ich nicht besonders. Ob es an dem Futon lag, den Christine am Tag des Einzugs in unser Schlafzimmer geschleppt hatte, Besitzerstolz im Blick? Vielleicht lag es auch an ihr, die nun Nacht für Nacht da war, röchelnd durch den Mund atmete, sich hin und wieder auf mich draufwälzte, schlaftrunken eine Entschuldigung murmelte, sich womöglich über meine Fahne ärgerte  Die einfach da war. Erinnerungen an früher stellten sich ein: der Geruch des Waschmittels, das sie für das Bettzeug benutzte, ihre morgendlichen Rituale im Bad, die Falten unter den Augen, wenn sie von Migräne geplagt wurde. Manches ließ mich kalt, manches nervte mich, aber ich riss mich zusammen. Das war mein Teil der Abmachung. Gleichzeitig versuchte ich mein Leben so zu führen, wie ich es wollte, und sie hatte mich dabei in Ruhe zu lassen. Das war ihr Teil der Abmachung.

Aber hielt sie sich daran?

Als ich von meinem Besuch in Dossenheim nach Hause kam, war sie schon da. Sie nutzte ihre Mittagspause, um sich in den eigenen vier Wänden ein paar Brote zu schmieren und einen Tee zu trinken. Das tat sie in letzter Zeit öfter, und es missfiel mir. Es roch nach Kontrolle.

»In der Zeitung steht noch nichts«, meinte sie, während sie den Wasserkocher anstellte. »Ein Foto hätten sie ruhig schon mal bringen können.«

»Von wem?«

»Allein dieser Anruf auf deinem Handy war das Eintrittsgeld wert. Übernimmst du den Fall?«

»Sieht so aus.«

»Du hältst ihn also nicht für gefährlich?«

»Ungefährlich.«

»Gut. Dieser Butenschön ist übrigens kein Genforscher, wie ich dachte, sondern Chemiker. Heute steht schon wieder etwas über ihn in der Zeitung.«

»Ich weiß.«

Wir schwiegen ein bisschen, aßen Brote, schrieben einen Einkaufszettel. »Fatty war komisch drauf gestern«, sagte sie schließlich, »fandest du nicht?«

»Vielleicht ist er neidisch.«

»Quatsch, doch nicht Fatty! Hoffentlich kein Stress mit Eva.«

Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Kannst du eigentlich Knödel kochen?«

»Knödel? Zur Not schon. Wie kommst du denn darauf?«

»Nur so. Mit einem leckeren Sauerbraten und Rotkohl  Ich hätte Lust darauf.«

Achselzuckend vervollständigte sie den Einkaufszettel. »Wenn du meinst. Mal sehen, wo ich einen Sauerbraten herbekomme. Gegen frisches Gemüse hätte ich übrigens auch nichts. Kommst du nicht mal zum Markt oder in die Felder? Du hast doch Zeit.«

»Zeit, ich? Gerade habe ich einen Auftrag angenommen beziehungsweise werde ihn entgegennehmen, da kann ich mich nicht auch noch um deine Silberzwiebeln kümmern!«

»Broccoli und Spinat«, lächelte sie schmal. »Keine Silberzwiebeln. Und Kürbisse, die vor allem. Zum Herbst gehört eine Kürbissuppe, oberstes Gesetz. Du wirst doch mal eine Ermittlungspause einlegen können, besser als ich mit meinem Achtstundentag.«

»Was heißt hier Achtstundentag?«, knurrte ich. »Jetzt bist du schließlich auch da.«

»Nur um dich zu sehen, Max. Ohne böse Absicht, aus reiner Verbundenheit.«

Ja, rede du nur! Von wegen ohne böse Absicht. Wie ich mir schon dachte: Sie wollte mich kontrollieren, überwachen, mir einen Schubs geben, falls ich auf dem Sofa herumlungerte, oder mir ein gescheites Mittagessen zubereiten, sollte ich es mal wieder vergessen haben. Frisches Gemüse, Max! Vitamine! Nichts gegen Kürbisse, ich bin Heidelbergs größter Kürbissuppenkoch, mal mit Cayennepfeffer und Knoblauch, mal mit Kreuzkümmel und Zimt, aber herumkommandieren lasse ich mich nicht.

»Also besorgst du die Kürbisse«, schloss sie, »während ich mich um Sauerbraten und Knödel kümmere. Sehr schön, wie wir das wieder hingekriegt haben. Wir könnten Fatty und Eva zum Essen einladen, schließlich haben wir unsere Irland-Fotos immer noch nicht gezeigt.«

»Wenn du meinst.« Ich säbelte mir eine Scheibe Brot ab. Klar konnte man Urlaubsfotos vom letzten Jahr zeigen. Man konnte es aber auch lassen. Auf unseren Bildern war viel Grün zu sehen und noch mehr Grau: Wiesen, Berge, Wasser, Regen. Wie der irische Herbst wirklich war, behielten die Bilder für sich. Warum wir gefahren waren, auch. Es war schließlich der spontanste, überstürzteste Urlaub, den wir je angetreten hatten. Gleich nach der Ankunft in Dublin schickten wir Karten los, in denen aber auch bloß stand, wo wir uns befanden und wann wir wahrscheinlich wieder zurück sein würden. Alles Weitere musste warten. Dass es ein besonderer Urlaub gewesen war, merkten Fatty, Eva, Marc, und wer sich sonst noch für uns interessierte, mit Verzögerung. Als wir plötzlich nach einer gemeinsamen Wohnung suchten. Als ich die Idee mit dem Buch hatte. Covet glaubte zunächst, sich verhört zu haben. Sein Freund Max und ein Buch, so richtig mit Seiten und ganzen Sätzen? Ja, sagte ich, die Iren hätten ihre Fiddle und ihr Guinness und jede Menge Spaß dabei, da könnte man doch auch ein paar von den Schoten, die ich in den letzten Jahren so erlebt hatte, unters Volk schmeißen. Zwecks Abendlektüre bei einer Flasche. Sagte ich. Covet erklärte mich für verrückt, dann goss er sich einen Whisky ein  zur Feier des Tages natürlich einen irischen  und begann, über die Sache nachzudenken. Eine Woche später fühlte er bei den ersten Verlagen vor.

Wie kam ich jetzt darauf? Ach so, durch die Fotos. Nicht nur Marc begrüßte die Veränderungen in unserem Leben, auch Eva und Fatty waren begeistert. Er habe es immer gewusst, meinte Fatty, Christine und ich, wir seien so etwas wie ein Traumpaar und füreinander bestimmt, und wenn ich ein wenig seriöser daherkäme, täte das meinem Ruf und meiner Arbeit nur gut. Letzteres meinte er offenbar sogar ernst. Eva formulierte es anders, vom Inhalt her aber ganz ähnlich: Vielleicht gelinge es Christine, die ja ab und zu auch gerne einen trinke, mich zum Sitzpinkeln zu bewegen. Über diesen Satz lachte sich meine Ex noch wochenlang schlapp, schließlich kannte sie mich und wusste, dass nur eine Maßnahme aus mir einen Sitzpinkler machte: wenn man es mir strengstens verbot.

Was sie natürlich nicht tat. Solche Manöver durchschaute ich mit links.

»Was jetzt?«, fragte sie. »Fotos zeigen, ja oder nein?

»So toll sind sie auch wieder nicht. Am Ende langweilen sich Fatty und Eva noch. Ist ja nur Landschaft drauf.«

»Ach so, klar.« Sie pustete einen Brotkrümel von ihrem Einkaufszettel. »Dachte schon, dir wäre der Urlaub im Nachhinein peinlich. Könnte als Flucht verstanden werden oder so. War dumm von mir, entschuldige.«

Ich lehnte mich zurück und pumpte Luft in meine Lungen.

»Keine Angst, ich bin schon weg«, lächelte sie. »Gleich hast du wieder deine Ruhe.«

»Von mir aus kannst du so viele Urlaubsfotos zeigen, wie du magst«, rief ich. »Hey, ich habe kein Problem damit. Nur zu!«

Sie warf mir eine Kusshand zu und verschwand.

 

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