10

Am Nachmittag telefonierte ich. Das heißt, zunächst legte ich mich eine Runde aufs Ohr, um für alles Weitere gewappnet zu sein. Auch der erfolgreichste Privatflic braucht seine Erholungsphasen; das war mein persönlicher Beitrag zum Thema Realismus. Michael Deininger hätte mir sicher beigepflichtet.

Als es klingelte, schreckte ich hoch und war sofort hellwach. Ein Mann meldete sich und sagte in ausgesucht höflichem Ton, er habe von meiner Lesung gelesen.

»Schön«, sagte ich.

»Dann ermitteln Sie jetzt bestimmt in dieser Rotlichtaffäre.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Mich würde interessieren, ob unser Pfarrer in Rohrbach zu den Betroffenen gehört.« Er räusperte sich, ebenfalls höflich. »Klingelt da etwas bei Ihnen?«

»Wieso Ihr Pfarrer?«

»In der Zeitung stand doch, dass diese Romana mit allen möglichen Heidelbergern  auch mit Pfarrern. Und mein Sohn will sich nächste Woche trauen lassen. Da fragt man sich jetzt natürlich …«

»Tut mir leid, ich ermittle in dem Fall nicht.«

»Ach so? Aber vielleicht ein Kollege von Ihnen?«

»Solche Kollegen habe ich nicht. Wiederhören.«

Ich starrte das Telefon in meiner Hand noch lange an. Hatten die Leute keine anderen Sorgen mehr als das Geschwätz einer ausrangierten Hure? Selbst in Rohrbach musste es doch wichtigere Themen geben. Aber wenn ich schon mal am Telefonieren war  Als Erstes wählte ich die Nummer des promovierenden Knödelchens und fragte nach Koschak. Wo er sich gerade aufhalte, warum er nicht auf meine Nachrichten reagiere, wie er zu erreichen sei.

»Ich habe keine Ahnung, wo er steckt«, lautete die Antwort. »Wir hatten vereinbart, dass er sich meldet, sobald der Termin für die Übergabe feststeht.«

»Ist er vielleicht verreist? Recherche im Ausland oder so?«

»Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Er will ja dabei sein, wenn die Dokumente ins Land gebracht werden.«

»Und warum ruft er mich nicht zurück?«

»Ich weiß es wirklich nicht. In diesen Dingen ist er eigentlich sehr zuverlässig.«

»Gut.« Ich bat sie, ihm ebenfalls eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen, er möge sich dringend bei mir melden. »Morgen muss ich privat nach Frankfurt. Wenn ich bis dahin nichts von Koschak gehört habe, fahre ich bei ihm zuhause vorbei. Ich glaube nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist, aber man kann nie wissen.«

»Zugestoßen? Wie das denn?«

»Jetzt muss ich passen. Komisch finde ich es allerdings schon, wenn sich ein Journalist partout nicht zurückmeldet.«

»Hören Sie auf! Das sind doch Hirngespinste. Erst schickt Butenschön einen Feuerteufel los, und jetzt soll er Koschak beseitigt haben.«

»Das habe ich nicht behauptet.«

»Was ist mit den anderen Möglichkeiten, die ich Ihnen genannt habe? Sind Sie dem mal nachgegangen?«

»Der Sache mit den Studenten? Ich bin dran. Ich glaube aber kaum, dass die dahinterstecken.«

»Vergessen Sie den Streit mit den Handschuhsheimer Bauern nicht. Ich habe mich im Institut mal umgehört. Es gibt da einen Verein, der sich einer Erweiterung der Uni massiv widersetzt. Pro Handschuhsheim heißt der. Mit diesen Leuten sollten Sie mal sprechen.«

»Pro Hendesse. Hab schon recherchiert, Frau Deininger. Ich werde dem nachgehen, und zwar noch heute. Unter einer Bedingung.«

Sie seufzte. »Die wäre?«

»Sie verraten mir, was Albert Butenschön mit Auschwitz zu tun hat.«

»Das ist schnell beantwortet: nichts.«

»Über dieses Nichts breitet sich das Buch, das Sie mir gegeben haben, aber ein ganzes Kapitel lang aus.«

»Warum fragen Sie mich, wenn Sie den Beitrag selbst gelesen haben?«

»Ich habe angefangen, ihn zu lesen, und bin gescheitert. Gleich nach der Überschrift. Frau Deininger, da geht es um irgendwelche heiklen Forschungsprojekte, mit Proteinen in speziellen Versuchsanordnungen  von so was verstehe ich keine Zeile!«

»Und ich soll es Ihnen erklären?«

»Ist doch kein großer Aufwand für Sie, oder? Wenn es Ihnen am Telefon nicht passt, komme ich gerne noch einmal vorbei.«

Jetzt seufzte sie erst recht. Wand sich, quälte sich, nölte. »Meinetwegen«, sagte sie schließlich. »Aber ich komme zu Ihnen. Haben Sie einen DVD-Spieler?«

»Meine Mitbewohnerin.«

»Sie wohnen in einer WG?«

»Quasi. Mit meiner Ex-Frau. Und die hat einen DVD-Player in die Ex-Ehe mitgebracht.«

Ich hörte ein kleines Lachen am anderen Ende der Leitung. »Schade, dass ich keine Soziologin bin. Klingt spannend, Ihr Wohnarrangement. Vor sieben schaffe ich es allerdings nicht. Passt Ihnen das?«

Das passte sogar hervorragend. Bis dahin war Christine zurück und konnte mir zur Not erklären, wie das DVD-Ding funktionierte. Von wegen Arrangement! Ich sagte Dankeschön und legte auf.

Meine nächste Gesprächspartnerin war Dörte Malewski. Ihre Telefonnummer, die ich ja bereits besaß, hatte ich von Knödelchen um folgende Angaben ergänzen lassen: Anfang 60, pensionierte Lehrerin, Doktorandin bei B. in den Siebzigern. Eine reife Dame also. Dachte ich. Vielleicht war sie es auch, bloß klang sie nicht danach. Ihre Stimme war tief und hatte etwas Schepperndes, im Hintergrund lief Creedence Clearwater Revival. Und kaum fiel ein bestimmter Name, als mich Dörte Malewski auch schon unterbrach: »Butenschön? Satteln Sie die Hühner und kommen Sie vorbei, junger Mann!«

»Meine Hühner? Gerne. Wann?«

»Wann Sie wollen, ich habe Zeit.«

Wir verabredeten uns für den folgenden Nachmittag. Frau Malewski nannte mir ihre Adresse und legte grußlos auf. Sie hatte nicht einmal gefragt, warum ich mit ihr über Butenschön sprechen wollte.

Dann kam Fatty an die Reihe. Er war eben aus dem Kindergarten zurück und gähnte in einem fort. Was ich über den Fall Butenschön erzählte, schien ihn nur mäßig zu interessieren. Wollte stattdessen wissen, ob es schon einen Bericht über die Lesung gegeben habe, und klagte über Gertrud, seine vierrädrige Gefährtin, die wieder mal Zicken machte. Vielleicht war er deshalb so komisch drauf. Oder er probierte gerade eine neue Diät aus.

»Bis die Tage«, verabschiedete er sich unbestimmt.

Ich wollte mir eben das Buch über Butenschön noch einmal vornehmen, als das Telefon läutete. »Hallo, Detektiv«, hörte ich eine Stimme sagen, die ich sofort wiedererkannte.

»Hallo, Susanne Rabe. Na, heute schon gestreikt?«

»Nicht schlecht. Du liest also Zeitung.«

»Aus purer Langeweile.« Geduzt hatten wir uns am Vormittag noch nicht, aber inzwischen kannten wir uns ja viel besser, wir zwei. »Du wolltest dich heute Abend melden und auch nur eventuell. Jetzt tust du es tatsächlich, und es ist gerade mal drei durch. Hört sich nach einer dringenden Sache an.«

»Überhaupt nicht. Ich fand es bloß nett, mit einem Bestsellerautor ins Gespräch zu kommen. Als ich das meinem Freund erzählte, war er hin und weg.«

»Wers glaubt! Hören tue ich es trotzdem gerne. Sonst noch was?«

»Nee, wieso? Ach, Moment, da fällt mir ein: Du wolltest doch unbedingt mit dem alten Butenschön sprechen.«

»Will ich immer noch.«

»Oder mit seiner Frau.«

»Ja.«

»Es gäbe vielleicht eine Möglichkeit, dich ins Haus zu lassen.«

»Wenn die beiden mal auf Reisen sind?«

»Nein, wenn sie Geburtstag feiern.«

Ich schwieg. Vor meinem inneren Auge erschien Susannes schmales Gesicht. Ihre Stimme passte dazu: klar, wenig Sprachmelodie, da klang jeder Satz gleich, ob ironisch oder ernst gemeint. »Geburtstag?«, fragte ich schließlich zurück.

»Wir sprachen doch über den offiziellen Festakt in der Alten Aula, nicht wahr? Der findet am Sonntag statt. Einen Tag vorher feiern sie im privaten Kreis, bei Butenschöns zuhause. Wobei privat in diesem Fall heißt, dass 80 Gäste kommen werden. Sind ja eine ganze Menge Urenkel dabei.«

»80 Personen in der Panoramastraße? Das wird eng.«

»Aber gemütlich.«

»Und wie soll ich mich da einschleichen?«

»Einziger Programmpunkt ist das Mittagessen. Das Büffet wird geliefert, trotzdem braucht man ein paar dienstfertige Geister für die niederen Tätigkeiten. Abräumen, Wein nachschenken, Zahnseide bringen. Die Organisation dieser Dinge liegt in Händen einer gewissen Susanne Rabe.«

»Sieh an. Du bist also nicht nur Putze.«

»Partys schmeißen ist mein Zweitberuf. Und als das Frau Butenschön erfuhr, sah sie gleich die Gelegenheit, ein paar Euro zu sparen. Sie hat vier Personen engagiert, drei Kommilitonen und mich.«

»Und du meinst, ich könnte als Nummer fünf …?«

»Nein, so viele sind bei der Butenschön nicht drin. Vier Studis waren ausgemacht, keiner mehr.«

»Also?«

»Der eine von uns wird am Samstag krank sein. Er weiß es zwar noch nicht, aber wir wissen es.«

Ich lachte. Wie sie das sagte, war einfach zum Wegschmeißen. Wozu studierte die Frau eigentlich? Sie hatte doch längst alles, was sie zum Leben brauchte! »Macht dein Kommilitone keinen Ärger, wenn ihm der Job durch die Lappen geht?«

»Das regele ich schon. Natürlich nur, falls du Interesse hast.«

»Und was wäre meine Aufgabe?«

»Zur Hand gehen, wie gesagt. Auftragen, abtragen, die Gäste nach ihren Wünschen fragen. Ansprechbar sein. Es geht nicht darum, den Sommelier oder Oberkellner zu spielen, das kann keiner von uns. Der private Rahmen der Feier soll gewahrt bleiben. Wir sind bloß Studenten, und Frau Butenschön weiß das.«

»Studierende«, murmelte ich zerstreut. »Und du glaubst, ich könnte am Rande der Feier mit den Butenschöns ins Gespräch kommen?«

»Zumindest würdest du die beiden einmal aus der Nähe erleben. Das Geburtstagskind wird natürlich umlagert sein. Aber mit der Frau zu plaudern, sollte möglich sein. Oder weiß sie, dass du Detektiv bist?«

»Heute Morgen haben wir nur über die Sprechanlage miteinander kommuniziert. Und wenn sie nicht gerade aus dem Fenster gelinst hat  Mir geht allerdings etwas anderes durch den Kopf: eine Frage.«

»Ja?«

»Warum du das machst. Deinen Kumpel ausbooten, mir die Gelegenheit geben und all das. Sag nicht, weil du mein Buch so toll fandest!«

»Das muss ich erst noch lesen. Nein, keine Leistung ohne Gegenleistung. Natürlich will ich etwas von dir, was dachtest du?«

Also doch. Diese Studierenden, ob weiblich oder männlich, wurden mir immer mehr zum Rätsel. Da streikten und demonstrierten sie, aber wenn sie mit dir verhandelten, klangen sie wie die Ministerlümmel von der FDP. Musste eine neue Generation sein.

»Und woraus bestünde die Gegenleistung?«

»Ich würde gerne den Festakt am Sonntag besuchen. Das geht aber nur mit schriftlicher Einladung. Frau Butenschön hat noch ein paar zuhause. Die sollst du mir besorgen.«

»Wie besorgen?«

»Entwenden.«

»Bitte?«, platzte ich los. »Ich soll eine Einladung klauen?«

»Am Samstag wird sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben. Ich kann es nicht tun, weil ich Anwesenheitspflicht im Saal habe. Mein Fehlen würde also auffallen. Außerdem hätte mich die Butenschön sofort in Verdacht. Für dich ist es ein Kinderspiel, Detektiv.«

»Wo liegen diese Einladungen?«

»In einer Schublade ihres Schreibtischs. Oben, im ersten Stock. Während des Essens ist der menschenleer, kein Problem. Also, wie siehts aus? Bist du dabei?«

Ich lachte leise vor mich hin. Das war ja mal eine Bekanntschaft, diese Susanne Rabe! Klar, es reizte mich schon, mir in Kellnermontur Zutritt zur verbotenen Villa zu verschaffen wie einst Kara Ben Nemsi im heiligen Mekka. Und mit Susanne zusammenzuarbeiten, reizte mich noch viel mehr.

»Warum willst du eigentlich zu dieser Feier in der Alten Aula?«

»Rein privates Interesse. So einen offiziellen Akt würde ich gerne einmal miterleben. Ich habe Frau Butenschön gefragt, ob ich eine Einladung bekäme, aber sie sagte, sie hätte selbst zu wenige. Was definitiv nicht stimmt.«

»Gib mir eine Stunde, um darüber nachzudenken. Ich rufe dich an. Aber mir müsste schon ein wichtiger Grund einfallen, um Nein zu sagen.«

»Ich zähle auf dich, Detektiv.«

 

 

 

 

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012