23
Ich war eine Witzfigur. Ein Privatflic, verkleidet als Kellner. Zum ersten Mal in meinem Leben trug ich eine Bundfaltenhose. Schwarz. Die Schuhe: schwarz, eine zentimeterdicke Schicht Glanzcreme. Dafür war mein Hemd so weiß, dass mir die Augen tränten. Außerdem stank es: nach Chemie, nach Kaufhaus, nach was weiß ich. Neu halt. Christine hatte es auf meine Bitte hin besorgt und gleich gebügelt. Und auch sonst unterstützte sie mich tatkräftig bei meiner Verwandlung, zeigte mir, wo ich nachrasieren musste, überschminkte meine Beule und enthaarte die Ohrmuscheln. Ich schmiss mir eine Lotion ins Gesicht, bis ich mich fühlte wie ein Gigolo. Die Fingernägel wurden geschnitten, die Zähne geputzt. Meine Achselhöhlen schwammen in Deo.
Verdammt, ich trug sogar eine Krawatte!
»Man sieht das blöde Ding immer noch«, schüttelte Christine den Kopf und machte sich erneut an meiner Beule zu schaffen.
»Du solltest zum Theater gehen«, knurrte ich. Scheiß auf die Beule, eine Witzfigur war ich auch so. »Maskenbildner werden immer gesucht.«
»Ich hab mal ein Praktikum in der Geisterbahn gemacht. Bei meinen Figuren mussten die Leute reihenweise kotzen.«
Als ich mich im Spiegel sah, glaubte ich ihr sogar. Meine Haut war weiß getüncht, der Hemdkragen schnürte meinen Hals ein, meine Stirn glänzte.
»Ein bisschen Kajal um die Augen wäre nicht schlecht«, meinte sie.
»Untersteh dich! Finger weg!«
»Willst du nun ein moderner Dienstleister sein oder nicht? Wo bleibt deine Professionalität, Max?«
Ich ergriff die Flucht. Was zu viel war, war zu viel. Am Ende erkannte mich noch jemand auf der Straße. Einer aus dem Englischen Jäger womöglich, nicht auszudenken!
»Wie, auf der Straße?«, kam sie mir hinterher. »Erzähl mir nicht, du wolltest mit dem Fahrrad fahren! Und dabei die ganze Aufmachung ruinieren! Kettenöl auf der Hose vielleicht? Dafür habe ich nicht so geschuftet!«
Sie brachte mich höchstpersönlich zur Panoramastraße. An jeder Ampel, vor der wir hielten, sank ich tiefer in den Beifahrersitz, drehte das Gesicht weg, wenn jemand in den Wagen schaute. Christine amüsierte sich köstlich.
»An diesen Anblick könnte man sich direkt gewöhnen«, lächelte sie, als ich ausstieg. »Vielleicht solltest du in einer ruhigen Minute noch deine Nasenhaare stutzen.«
»Wenn das vorbei ist, rasiere ich mich nie mehr. Harry Rowohlt, verstehst du?«
»Keinen Kuss?«
»Damit der Gips abfällt? Lieber nicht.«
Bester Laune fuhr sie davon. Ich dagegen war so bedient, dass ich nicht einmal den Einzug in Butenschöns Heiligtum genießen konnte. Hätten sich dessen Türen vor drei Tagen aufgetan, wäre ich in ein Triumphgeheul ausgebrochen. Aber da hatte ich die Mutation zum Pausenclown ja auch noch nicht mitgemacht.
»Wow«, begrüßte mich Susanne.
»Was, wow?«
»Um nicht zu sagen: wow wow. Schick siehst du aus. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Oh, ich kann noch ganz anders. Letzten Fasching ging ich als Grippeerreger. Kam auch gut.«
Es war zwar nur die Hintertür der Villa, die sie mir öffnete, aber immerhin: Ich war drin. Und eine Minute später wieder draußen. Susanne zeigte mir, wohin die Getränke, die sich draußen im Schuppen befanden, zu bringen waren. Aber nicht nur die, sondern auch Stühle, Tische, die Dekoration, Kissen und Decken. Die gesamte Hardware der Feier also; das Büffet wurde frisch geliefert.
»Die Festplatten«, nickte ich. Keiner lachte.
Mit der Schlepperei und dem Aufbau war ich bestimmt eine Stunde lang beschäftigt. Niedere Tätigkeiten, hohe Schweißproduktion. Und da sollte man sein Hemd knitterfrei halten? An so etwas hatte Christine natürlich nicht gedacht. Von wegen Professionalität!
Mein einziger Helfer war ein kleiner, bebrillter Typ namens Achim, ein Kommilitone Susannes. Zupacken konnte er, quasseln auch. Als wir mit der Grobarbeit fertig waren, wusste ich alles über ihn. Seine Pläne, seine Schuhgröße, die Augenfarbe seiner Freundin und warum sie ihm weggelaufen war. Kein Problem, er besaß ja noch seinen Hund. Der hatte auch schöne Augen.
»Ein Dackel?«, fragte ich.
»Um Gottes willen, doch nicht so ein Spießervieh! Einen Airedalerüden, mit denen kannst du was anfangen.«
Spießervieh war gut. Wenn ich das Tischfußball-Kurt erzählte, würde er mich ohne Werkzeug an die Wand des Englischen Jägers nageln. Und die übrigen Gäste gleich dazu.
Drinnen war Susanne mit einer weiteren Kommilitonin beschäftigt, die Tische festlich aufzuhübschen. Was man so festlich nennt: Blümchenallerlei, Besteckparade und Origami mit gestärkten Servietten. Der Saal, in dem die Feier stattfinden sollte, war nicht klein. Aber groß genug für 80 Gäste? Und wozu diente er den Rest des Jahres?
»Auch schick«, lobte ich. »Wenn eure Streiks genauso professionell organisiert sind …«
»Sind sie«, schnitt mir Susanne das Wort ab. Schau an, sie konnte ja regelrecht grimmig blicken!
Dann: Auftritt der Hausherrin. »Unsere helfenden Hände, wie schön«, schallte es von der Treppe herab. Brav nahmen wir zu viert vor der Saaltür Aufstellung. Frau Nobelpreisträger schritt uns ab wie ein General seine Truppen. Dass sie über 70 war, kaschierte sie mit jeder Bewegung: drückte den Rücken durch, reckte das Kinn, hielt sich aufrecht. Die Schulterpolster ihres Kostüms ließen sie ein wenig klobig aussehen. Blondes Haar umbrandete in zwei großen Wellen ihr wächsernes Gesicht. Dünne Lippen darin, die Augenbrauen gezupft, scharfer Blick aus engen Pupillen.
»Wie schön!«, wiederholte Frau Butenschön und lächelte uns an. Jeden von uns. Ich hielt den Atem an. Wenn sie mich am Mittwoch vor ihrem Haus gesehen hatte, würde sie mich wiedererkennen. Trotz Maskerade, sie war schließlich eine Frau. Doch sie zeigte keine Reaktion.
»Zu Ihrem Auftreten, meine Lieben«, sagte sie. »Mein Mann und ich freuen uns sehr, dass Sie hier sind. Wir stellen uns eine kleine, bescheidene Feier im Kreis von Familie und Freunden vor, nicht mehr und nicht weniger. Ich möchte Sie deshalb bitten, sich ganz natürlich zu verhalten. Sie sollen uns zur Hand gehen, aber nicht in Unterwürfigkeit erstarren. Haben wir uns verstanden?«
Wir nickten. Auf eine Lüge kann man nur mit einer Lüge antworten. Denn das war Frau Butenschöns kleine Ansprache, so nett sie auch klang: verlogen. Eine bescheidene Feier? Selten so gelacht. Natürlich verhalten? Sie meinte das Gegenteil. Im Kreis der Familie? Wo kamen dann die 80 Gäste her?
Bevor wir abtreten durften, impfte uns die Gastgeberin wichtige Details zum Ablauf des Fests ein, wischte Achim einen Krümel vom Hemd, bedachte Susannes Schuhe mit einem kritischen Blick. Hätte man die nicht etwas gründlicher polieren können? Susanne wurde rot und beeilte sich, den Makel mit Spucke und einem Lappen aus der Welt zu schaffen, sobald Frau Butenschön gegangen war.
»He, nicht in Unterwürfigkeit erstarren«, rügte ich. »Haben wir uns verstanden?«
Sie zog eine Grimasse.
Dann wurde es ernst: Das Büffet kam. Und mit ihm trafen die ersten Gäste ein, überpünktliche Senioren und hungriges Mittelalter. Die Küche der Butenschöns erwies sich als viel zu klein für all die Essensberge. Wir stapelten das Zeug bis zur Decke, hielten warm, hielten kühl, hielten auf Zimmertemperatur. Susanne geriet in Hektik.
»Bisschen fixer, Max! Das ist noch nicht alles.«
»Wo steckt eigentlich das Geburtstagskind?«
»Oben. Der kommt ganz zuletzt. Los jetzt, pack an!«
Ganz natürlich verhalten, jaja. Ich für meinen Teil empfand dieses Arbeitstempo als äußerst unnatürlich. Achim auch, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Wann immer es möglich war, lugte ich hinaus in den Eingangsbereich. Ich sah die schmallippige Frau Butenschön die Honneurs machen und die Ankommenden in den Saal bugsieren. Neben ihr stand ein Halbwüchsiger mit käsiger Miene und dunklen, zu langen Haaren. Vom Jubilar keine Spur. Das Stimmengewirr nahm zu, die Krawattendichte auch. Ich warf einen skeptischen Blick auf meinen Schlips. Schön, so fiel ich wenigstens nicht auf.
»Max!«
»Keinen Stress, Susanne, wir schaffen das.«
»Ja, aber nur zu viert.«
»Wo sind denn nun die Einladungen für morgen?«
»Bisschen leiser«, zischte sie. »Im ersten Stock gibt es ein Büro mit einem großen Sekretär. Dort in einer der Schubladen, wahrscheinlich der obersten.«
»Und warum gehst du nicht selbst hoch und holst dir eine?«
»Weil du der Detektiv bist. Weil ich Anwesenheitspflicht habe und weil die Tür abgeschlossen ist.«
»Davon hast du nichts gesagt. Dass sie abgeschlossen ist, meine ich.«
»Mach dir nicht ins Hemd!«
Kopfschüttelnd trollte ich mich. Einen Umgangston hatten diese Studentinnen! Kam wohl vom vielen Demonstrieren. Mit uns Nichtakademikern konnten sie es ja machen.
»Versuchen wir eins?«, grinste Achim und zeigte auf ein undefinierbares Etwas in Aspik.
»Iih«, machte Jutta, die andere Helferin. »Die haben ziemlich ekliges Zeug, finde ich.«
Da wollte ich nicht widersprechen. Obwohl, eklig traf die Sache nicht ganz, eher schon altväterlich. Ein Büffet wie in den Sechziger-, Siebzigerjahren mit viel Sahnehäubchen und Meerrettichklecksen. Krabben in Mayonnaise, Pasteten, gefüllte Blätterteigtörtchen und natürlich Fleisch, Fleisch, Fleisch. Zum Teil in Gelatine versenkt, zum Teil nackt.
»Das kommt alles wieder«, erklärte ich Jutta, die ich auf Jahrgang 1990 schätzte. »Wie die Schlaghosen und die Miniröcke.« Sie verstand nicht. War ja auch Unsinn, was ich da von mir gab.
Als wir endlich die Aufforderung bekamen, die Vorspeisen in den Saal zu tragen, ging es bereits auf zwölf Uhr zu. Jutta, Achim und ich schnappten uns jeder ein Tablett und marschierten los.
»Moment«, hielt uns Susanne auf und schmierte mir irgendeine Creme auf die Beule. »Nicht dass die Leute denken, sie hätten es mit einem Schläger zu tun.«
»Das Ding entzündet sich noch, wenn ihr dauernd was anderes drauftut«, knurrte ich zurück. »Verrate mir lieber, wie ich an den Büroschlüssel komme!«
»Ja, verdammt!«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Irgendwann im Laufe der Feier werde ich mir Frau Butenschöns großen Schlüsselbund ausborgen. Danach hast du fünf Minuten, verstanden? Wir müssen aber warten, bis der Alte herunterkommt. So, und jetzt ab mit euch! Dass ihr mich nicht blamiert!«
Ich streckte ihr die Zunge heraus und trottete den beiden anderen hinterher. Die Festgesellschaft machte Ah und Oh, wie es die Büffetstürmer überall auf der Welt machen, und glotzten Jutta auf den Hintern. Oder Achim, je nachdem. Mir hoffentlich auch, dann fiel die zugekleisterte Beule weniger auf. Der Saal war inzwischen gut gefüllt, die Tische für die Speisen standen gedrängt in einer Ecke. Ich sah ältere und weniger alte Leute, aufgedonnert und geschminkt, auch ein paar Kinder hüpften durch die Reihen. Frau Butenschön herrschte über ihre Gäste wie ein Dirigent, wies ihnen Plätze an, verteilte Lob und Zuspruch. Die Smalltalkfetzen, die ich im Vorbeigehen aufschnappte, ließen meine Nackenhaare strammstehen.
Kaum waren die Vorspeisen aufgetragen, drückte uns Susanne eine Flasche in jede Hand. Sie und Achim übernahmen den Weinausschank, Jutta und ich bekamen es mit Wasser und Säften zu tun. Wenn ich das für die wesentlich leichtere Aufgabe gehalten hatte, so hatte ich mich getäuscht.
»Ist der aus ungespritzten Äpfeln?«, fragte mich eine Dame, auf die Saftflasche zeigend.
»Ungespritzt und handverlesen«, sagte ich.
»So? Vielleicht doch lieber Wasser.«
»Ich Saft«, meldete sich ein Knirps am Nebentisch.
»A oder O?«
»Hä?«
»Apfel oder Orange?«, übersetzte sein Vater und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Außerdem heißt das nicht hä, sondern bitte.«
»Ich will das Gelbe da.«
»Das Gelbe, bitte!«
»Das Gelbe, bitte!«
Ein kleines, dickes Mädchen wollte Apfelsaft pur. Die Mutter bestand auf Schorle. Das Mädchen sagte nein, die Mutter ja. Das Mädchen fing an zu schreien, die Mutter drohte mit Süßigkeitsentzug, Sandmännchenentzug, Freundebesuchsentzug. Keine Chance.
»Wenn du nicht sofort aufhörst, gehen wir nach Hause!«
»Au ja!«
»Apfelschorle schmeckt super«, mischte ich mich ein. Das Mädchen schaute mich mit so abgrundtiefer Verachtung an, dass mir ganz flau wurde. Jetzt log ich schon wie Frau Butenschön!
Am Ende wurde es doch Apfelschorle, aber nur gegen Süßigkeiten extra. Das war auch nicht unbedingt konsequent, fand ich.
»Gummibärchen«, seufzte die Mutter. »Wenn wir zuhause sind.«
»Nein, jetzt!«
Mir reichte es, ich schenkte ein und wollte los.
»Das ist zu wenig Apfelsaft«, monierte die Kleine. »Und zu viel Wasser.«
»Es ist genau halbe-halbe,« widersprach ich.
»Richtig«, sagte die Mutter. »Und das trinkst du jetzt.«
»Dann will ich gar nichts mehr«, plärrte Frau Tochter und schob Teller und Besteck von sich, dass ihr Glas ins Wackeln geriet.
»Schenken Sie halt noch Saft ein«, sagte die Mutter, die plötzlich ganz grau aussah.
»Aber es ist wirklich genau gleich viel Wasser und Saft drin.«
»Verdammt, nun machen Sie schon!«
Gut, dass ich sämtliche Finger zum Flaschehalten brauchte. Ich hätte den zweien sonst einen Vogel gezeigt. Finger auf Beule. Wenn mir Christine jemals mit einem Kinderwunsch käme, würde ich ihr von dieser Begegnung erzählen.
»Das sind lauter Monster«, berichtete ich in der Küche. »Lauter kleine, verzogene Monster.«
»Heul doch«, entgegnete Susanne und drückte mir neue Flaschen in die Hand.
»Wo bleibt eigentlich der Butenschön?«, fragte Jutta.
»Der kommt, sobald alle was zu trinken haben. Ab sofort müssen immer zwei von uns zum Nachschenken im Saal stehen. Wir wechseln uns ab, verstanden? Und jetzt, bei der Begrüßung, haben wir alle vier da zu sein.«
Sie scheuchte uns hinaus. Eine Minute später nahmen wir neben dem Büffet Aufstellung, Hände auf dem Rücken, Brust raus, hübsch abwechselnd Schlips neben Bluse. Ganz natürlich eben. Alles saß und wartete, die Gesprächslautstärke auf ein Minimum gedimmt. Im Hintergrund sah ich die Mutter der kleinen Dicken ein umgefallenes Glas wieder aufrichten.
Und dann kam ER: der Jubilar. Prof. Albert Butenschön. Zehn mal zehn Lebensjahre überschritten die Schwelle.
Er kam am Arm seiner Gattin, wacklig, aber aufrecht. Ehrlich gesagt, hatte ich ihn mir größer vorgestellt. Dem Butenschön auf den Fotos von früher ähnelte er kaum noch. Schmal war er geworden, regelrecht ausgezehrt, die Wangen eingefallen, die Haut fleckig. Er lächelte, unverdrossen. Trotzdem sah man deutlich, wie schwer ihm dieses Lächeln, abverlangt von aller Welt, schon jetzt fiel. Er hatte es oben, im ersten Stock aufgesetzt, aber er war ein Greis, es verrutschte ihm mit jedem Schritt, entglitt seiner altersschwachen Muskulatur, hing schief im Gesicht.
Mochte es schief hängen! Dafür barst seine Frau vor Stolz, schließlich war sie es, die ihn führte, lenkte, herumreichte, ihn, den Nobelpreisträger und Ehrenbürger. Was für ein Paar! Auch Frau Butenschön war eine alte Dame, aber als er zum ersten Mal geheiratet hatte, war sie noch ein kleiner Windelschisser.
Warmer Applaus füllte den Saal. Wie auf ein Kommando erhoben sich die Gäste. Alle! Selbst die Kinder wurden in die Höhe gezerrt. Wer saß, war ein Verräter. Ich bekam Gänsehaut. Was für ein Theater! Okay, mochten sie es ehrlich meinen, mochte der Alte es verdient haben – bei solchen Kollektivhandlungen lief es mir immer kalt den Buckel runter. Muss was mit meinen Kindheitserlebnissen zu tun haben, mit all den vertrackten Ritualen, bei denen ich als Pfarrerssohn gezwungen war mitzuwirken: Schnabel auf beim Abendmahl, Hinknien zur Konfirmation, Aufstehen, Setzen, Singen, Beten. Wenn ich dagegen nicht irgendwann gemeutert hätte, wäre ich nie ein Erwachsener geworden.
Unter dem Beifall der Anwesenden schritten die Butenschöns zu ihrem Tisch. Ich war froh, dass ich schon stand, froh, dass ich die Hände auf dem Rücken verschränkt halten durfte. Ein Hoch auf das Lakaiendasein! Ich schielte zu Susanne hinüber. Sie verzog keine Miene, nur ihre Lippen waren ein dünner Strich der Verachtung.
Endlich hatten das Geburtstagskind und seine Gattin ihre Plätze erreicht. Ich hätte erwartet, dass Frau Butenschön, die Dirigentin, alsbald die Ovationen abwinkte, doch es geschah nichts dergleichen. Erst als alle wieder saßen und die letzte Hand verstummt war, ergriff sie das Wort. Es folgten die üblichen auswendig gelernten oder längst in Fleisch und Blut übergegangenen Gruß- und Dankesfloskeln, die nur einem Zweck dienten: ihrem Mann den Boden zu bereiten, ihm einen roten Teppich aus Worten auszulegen. Schon gut, dachte jeder, du musst das sagen, weil es die Etikette gebietet, aber du bist nur der Rahmen, das Beiwerk, die Hülle; erst danach kommt das Eigentliche, der Kern, die Essenz. Sprich zu uns, Albert Butenschön!
Und wir alle sahen ihn an, diesen Solitär von Mensch: eine Kindheit im Ersten Weltkrieg, groß geworden in der verachteten Weimarer Republik, Parteigänger Hindenburgs, nicht Hitlers, Mitläufer, Strippenzieher und Profiteur gleich welchen politischen Systems. Ein Mann, der sich von Staatsform zu Staatsform hangelte, dem der Wechsel der Zeitläufte nichts anhaben konnte. 100 Jahre Leben. Viele hätten davon satt werden können.
»Als ich vor Kurzem 90 wurde«, begann Butenschön und räusperte sich, um dem Gelächter seiner Gäste Raum zu geben. Ein gelungener Anfang! Mit brüchiger, aber keineswegs leiser Stimme fuhr er fort: »Als ich 90 wurde, versprach ich euch, es werde meine letzte große Geburtstagsfeier sein. Bitte verzeiht mir, dass ich euch nun schon wieder belästige. Fast könnte man meinen, ich wäre bei meinen Forschungen auf die Formel ewigen Lebens gestoßen. Ich versichere euch, dem ist nicht so. Und ich versichere euch noch etwas: Dies wird wirklich das letzte Mal sein, dass wir uns in so großer Runde sehen. Ihr habt mein Ehrenwort. Für euer Kommen danke ich euch ganz herzlich – euch allen.« Er hob ein Glas und schaute in die Runde. »Auf meine Lieben!« Dann trank er. Ein vielstimmiges Echo antwortete ihm: »Auf dich, Albert!« – »Prosit und weiter so!« – »Auf das Geburtstagskind!« Mit zitternden Knien nahm der alte Mann Platz.
Na, wenn das keinen Applaus wert war! Frau Butenschön musste lange warten, bis sie wieder den Zeremonienmeister spielen durfte. Bedankte sich einmal mehr bei allen Anwesenden, sprach von der großen Ehre, die man ihr und ihrem Mann bereite, und erklärte das Büffet für eröffnet. Nächster Beifallssturm. Der Professor tupfte sich mit einem Stofftaschentuch Mund und Stirn ab. Um seine Augen herum zuckte es.
Nun ging die Schlacht los. Der übliche Run auf Platten und Teller, die übliche Schlangenbildung, die Furcht, nichts mehr abzubekommen, und das finale Erstaunen, dass es doch langte. Alles wie gehabt. Da unterschieden sich die Angehörigen eines Nobelpreisträgers keinen Deut von irgendwelchen Geburtstagsgästen auf dem Land. Sagen wir: in Schnakenbach. Sie kleckerten auch genauso, und der Lachs war als Erstes alle. Erleichterung, als ich eine neue Lage aus der Küche brachte.
»Witzig«, sagte ein schaufelnder Mann, dessen Krawatte der Meerrettichsahne bedrohlich nahe kam. »Sie sehen einem dieser Bestsellerautoren verdammt ähnlich, wussten Sie das?«
»Mit dem werde ich dauernd verwechselt.«
»Hatte der nicht zuletzt eine Lesung in der Stadt?«
»Ja, ich bin hingegangen. Was glauben Sie, wie der Kerl geschaut hat!«
Den Mann schüttelte es vor Lachen. Zum Glück blieb er der Einzige, der mich während des Fests auf meine neue Nebentätigkeit ansprach. Die Mehrzahl der Gäste kam wohl von auswärts.
»Wann startet die Schlüsselaktion?«, zischte ich Susanne zu.
»Nervös, Max?«
»Nicht die Bohne. Du bist doch diejenige, die unbedingt zum Festakt in die Alte Aula will.«
»Immer mit der Ruhe.«
Ruhe war in diesem Zusammenhang das falsche Wort. Kaum hatten die Gäste die Vorspeisen verputzt, bekamen sie Durst. Jutta und ich kämpften uns durch die Reihen um nachzuschenken. Wenn 80 Leute gleichzeitig nach Getränken schreien, kann es gar nicht schnell genug gehen. Immer freundlich und natürlich bleiben, auch wenn sich das widersprach. Während Achim bei den Vorspeisen Wache hielt, kümmerte sich Susanne in der Küche um den Hauptgang.
Zunächst aber gab es Reden. Kürzere Ansprachen und Grußworte, so etwas in der Art. Frau Butenschön saß zerberusmäßig auf ihrem Stuhl und dirigierte die Redner mit den Augen. Zog die Brauen hoch, wenn sie sich dem Ende nähern sollten, lächelte mild, wenn es Komplimente hagelte. Ein Großneffe Butenschöns berichtete vom Blühen und Gedeihen der Max-Planck-Gesellschaft in den neuen Bundesländern, deren Mitarbeiter er zufällig war. Ein Schelm, wer Böses dabei dachte. Eine Dame ohne Angabe des Verwandtschaftsgrads präsentierte Anekdötchen ihres ersten Zusammentreffens mit Albert, dem Charmeur. Blümchen wurden überreicht, Küsschen verteilt, Pointen gesetzt. Emotionaler Höhepunkt dieses Zwischengangs war ein Gedichtvortrag des langhaarigen Knaben, der dem geliebten Uropa in selbstgedrechselten Versen huldigte. Es gab donnernden Applaus als Anerkennung für diese heroische Leistung. Frau Butenschön wischte sich eine vorhandene oder vorgetäuschte Träne aus dem Augenwinkel. Ihr Mann kämpfte sich unter Mühen aus seinem Stuhl, um den Urenkel in die Arme zu schließen. Er sah blass aus.
»Das muss wahnsinnig anstrengend für ihn sein«, meinte Jutta, nachdem wir die Hauptgerichte aufgetragen und den ersten Ansturm der Esser glücklich abgewehrt hatten. »Wieso tut sie ihm das an?«
»Er tut es sich selbst an«, erwiderte Susanne. »Niemand zwingt ihn, seinen Geburtstag zu feiern.«
»Doch, seine Frau.«
»Vielleicht. Wie sieht es mit dem Rotwein aus, Achim?«
»Noch zwei Flaschen sind da.«
»Gut, dann muss ich in den Keller und für Nachschub sorgen.« Sie gab mir ein Zeichen. Es ging also los. Ich sah, wie Susanne an den Tisch der Butenschöns trat und sich lächelnd zur Hausherrin herabbeugte. Frau Butenschön nickte, entnahm ihrer Handtasche einen schweren Schlüsselbund und begann, einen der Schlüssel abzuziehen. Susanne lächelte noch inniger, flüsterte etwas, woraufhin sie den ganzen Bund in die Hand gedrückt bekam.
»Macht ihr das mit den Getränken?«, bat ich Jutta und Achim. »Ich muss mal kurz wohin.«
Vor der Saaltür traf ich Susanne. Sie reichte mir einen einzelnen Schlüssel und zeigte nach oben. »Die erste Tür links. Du hast genau fünf Minuten. Auf die Sekunde, Max! Klar?«
Ich nickte und eilte zur Treppe.