15
Zwischen Frankfurt und Heidelberg wuchs mir eine Beule, groß wie ein Zierkürbis. Alle Naslang tastete ich sie ab oder besah mich im Rückspiegel. Bei Darmstadt begann sie blau zu schillern, hinter Weinheim kam ein sattes Grün dazu. Linkerhand ertrank die Bergstraße in den Farben des Herbstes, meine Schläfe setzte einen malerischen Kontrapunkt.
Eine Zeitlang hingen wir unseren eigenen Gedanken nach. Koschak hatte sich auch beim Abschied keinen Schritt aus seinem miefigen Kellerloch bewegt. Als wir endlich draußen waren, schlugen wir drei Kreuze. Der Nachbarin erklärten wir, der Journalist sei an einer brandheiß zubereiteten Story dran und müsse noch zwei, drei Tage den Abwesenden spielen. Bis dahin solle sie niemandem etwas davon erzählen, den beiden Jungs auch nicht. Dann wünschten wir guten Appetit und gingen.
Auf Höhe des Melibokus endete unser Schweigen. »Wie wars eigentlich da unten?«, fragte ich.
»In Ägypten? Auch nicht viel anders als hier.«
»Dachte ich mir.«
»Nein, ehrlich. Alle sprechen gebrochen englisch, und in jedem Stadtzentrum gibt es H & M. Wie in Heidelberg.«
»Da war ich noch nie einkaufen.«
»Siehst du? Dann kannst du auch nach Ägypten fahren.«
War das logisch? Eine Zeitlang grübelte ich über den Fehler in seiner Schlussfolgerung nach, fand ihn aber nicht.
Covet gähnte. »Machen wir ein Buch daraus? Aus deinem Fall, meine ich.«
»Warts ab. Bis jetzt ist ja noch nicht viel passiert.«
Er warf mir und speziell meiner Beule einen skeptischen Seitenblick zu, ohne allerdings zu widersprechen. Kam stattdessen auf sein aktuelles Lieblingsthema zurück: meine Premierenlesung. Unsere Premiere, genauer gesagt! Wie schön, dass alles so reibungslos geklappt habe. Wie schade, dass er nicht dabei gewesen sei. Nächstes Mal werde er die Veranstaltung moderieren, dann könnten die Leute besser zwischen Autor und Erzähler unterscheiden, weil die dann ja als getrennte Personen vor ihnen säßen, und natürlich müsse das Ganze in einer größeren Buchhandlung stattfinden. Mit Tischen, die sich unter der Last der Exemplare bögen, mit Bücherstapeln, die bis zur Decke wüchsen.
»Aber nicht in einer dieser Ketten«, bemerkte ich, als er endlich einmal Luft holte.
»Wieso nicht?«
»Keine Ahnung. Da bin ich konservativ.«
»Das legt sich mit dem Alter. Hat sich schon jemand beschwert von den Lesern?«
»Wie, beschwert?«
»Na, von all den Leuten, über die du herziehst: die Heidelberger Hautevolee, Studenten, Burschenschafter …«
»Moment: über die du mich herziehen lässt! Das ist ein gewaltiger Unterschied. Von dem, was du mir Seite für Seite in den Mund legst, habe ich nicht die Hälfte gesagt!«
»So?«, spöttelte er. »Dann muss ich dich falsch verstanden haben.«
»Ist doch wahr! Hinterher kriege ich die Prügel für deine schnittigen Formulierungen, und du sonnst dich im Glanz der Literaturkritik. So nicht, Alter!«
»Deine Prügel«, winkte er ab, »bekommst du auch ohne Leser, wie man heute wieder gesehen hat. Aber zurück zu den Studenten. Du sagst, diese Frau Deininger verdächtigt sie, hinter dem Brandanschlag zu stecken.«
Überrascht von diesem unerwarteten Themenwechsel, nickte ich.
»Gut, ich höre mich mal um. Vielleicht habe ich eine Idee, wie man da weiterkommen könnte.«
Natürlich verriet er mir nicht, um was für eine Idee es sich handelte. Lieber lästerte er über den Freiheitskampf der rechtlosen Handschuhsheimer Landwirte gegen die drohenden Enteignungen durch die Stadt. 500 Jahre nach den Bauernkriegen, da sei man in der Kurpfalz ja fast noch rechtzeitig dran. Schweigend hörte ich zu und dachte mir mein Teil. Sollte Marc irgendwann meinen aktuellen Fall zwischen zwei Buchdeckel pressen, würde er mir genau diese Lästereien in den Mund legen. Und dann hatte ich den Handschuhsheimer Salat.
»Nee«, sagte er beim Aussteigen, beladen mit Andenken. »So toll ist Ägypten auch wieder nicht. Muss man nicht gewesen sein. Aber danke fürs Abholen.«
»Schau zu, dass du eine Karte für diese Feier in der Alten Aula kriegst. Dann habe ich einen Verbündeten vor Ort.«
Zuhause angekommen, legte ich mir einen mit Eiswürfeln gefüllten Waschlappen auf die pochende Schläfe und mich selbst auf die Couch. Dann ließ ich mir die Ereignisse der letzten Tage durch den Kopf gehen. Möglichst so, dass sie der Beule nicht zu nahe kamen. Bevor ich eindöste, meldete sich mein Handy. Vielleicht wieder so ein Wildehurenfantast? Nein, die Büchereileiterin einer Umlandgemeinde, die von meiner erfolgreichen Buchvorstellung erfahren hatte und mich zu einer Lesung in ihren Räumen einlud. Sie bot mir sogar Honorar an, nicht zu viel allerdings, wegen der Rezession und überhaupt. Außerdem müsse sie sich mein Buch erst noch anschauen und bitte mich im Ernstfall, bei der Vorstellung auf blutrünstige Stellen zu verzichten, wegen der vielen älteren Damen im Publikum. Ich erinnerte mich an das zufriedene Gesicht einer Oma, die vor drei Tagen in der ersten Reihe gesessen und bei den heftigsten Szenen genüsslich geschmunzelt hatte. Aber ich war milde gestimmt und sagte zu.
Anschließend schaltete ich das Handy ab und schloss die Augen. Der nasse Waschlappen landete in einer herumstehenden Kaffeetasse. Dann schlief ich ein.
Ohne meine schmerzende Schläfe hätte ich die Verabredung mit Dörte Malewski wohl verpennt. So wachte ich nach einem halben Stündchen wieder auf, wiederholte die Eiswürfelprozedur und machte mir trotz Handicaps etwas zu essen. Fischstäbchen wären passend gewesen, aber ich hatte keine. Musste eben der Rest Kürbissuppe herhalten. Danach probierte ich die Gewürze, die Marc mir vom Markt in Kairo mitgebracht hatte. Es waren drei unterschiedlich rote Pulver in Plastiksäckchen. Das erste schmeckte entfernt nach Paprika, das zweite wie Kreuzkümmel, nur zitroniger, das dritte schmeckte gar nicht, sondern brannte bloß. Und wie es brannte! Ich stopfte mir den Lappen samt Eiswürfel in den Mund, aber das half nichts. Röchelnd rannte ich ins Bad, drehte die Dusche auf und spülte den Rachen mit fließendem Wasser aus. Dieser verdammte Covet! Dem würde ich demnächst ein Teufelshühnchen mit genau diesem Zeug vorsetzen.
Erst als ich wieder auf dem Sofa saß, merkte ich, dass etwas fehlte. Der Kopfschmerz: Weg war er! Lag das nun an den Tabletten oder den alten Ägyptern? Egal, er war weg, und er blieb es, solange ich das Eis nicht zu fest gegen die Stirn drückte. Irgendwann war es auch genug mit dem Kühlen. Also fort mit dem Waschlappen und auf nach Kirchheim.
Dörte Malewski war nicht das, was man sich unter einer älteren Dame mit akademischer Vergangenheit vorstellte. Einen kleinen Vorgeschmack hatte ich ja schon am Telefon bekommen. Aber als sich die Tür des Häuschens in der Pleikartsförster Straße öffnete, glaubte ich mich in der Adresse geirrt zu haben. Vor mir stand eine Person, die so grell aus der Dunkelheit der Diele hervorstach, dass es in den Augen schmerzte. Karminrotes Kurzhaar, um den Hals einen giftgrünen Schal, dazu ein graues, knielanges Wollkleid. Rotbestrumpft auch die Beine, die in karierten Puschelschlappen steckten. An großen Ohrläppchen baumelten noch größere Gehänge, es gab Halsketten und Ringe und Armreife und eine raumgreifende Brosche. Vor allem aber gab es ein weit aufgerissenes braunes Augenpaar, das einen packte und nicht mehr losließ.
»Frau … Malewski?«, fragte ich und war sicher, ausgelacht zu werden.
»Herr … Koller?«, fragte sie zurück und starrte auf meine Schläfe.
Gut, damit hatten wir beide unser Überraschungssoll erst einmal ausgekostet. Sie ließ mich ein, geleitete mich durch ihre nicht eben ordentliche Diele und eine noch chaotischere Küche in eine Art Wintergarten: eine vollverglaste Terrasse, die auf ein Fleckchen Grün blickte. Auch in dem Hinterhofgärtchen herrschte Chaos, allerdings eines mit System. Hier wuchs alles Mögliche durcheinander, Kräuter, Sträucher, Bäumchen, ein paar Blumen – nur Unkraut nicht. Ich erkannte Rosmarin und Salbei, Erdbeerpflänzchen und einen Johannisbeerstrauch mit einem Restbestand an kleinen Blättern. Dazwischen allerlei Gemüse. Im Sommer gehörte die Malewski sicher zu den seltenen Gästen auf dem Wochenmarkt.
»Von welcher Zeitung sind Sie noch mal?«, fragte sie, während sie mir einen Gartenstuhl mit Kissen zurechtrückte.
»Von gar keiner. Ich bin privater Ermittler. Der Mann von Evelyn Deininger hat mich engagiert.«
»Ach so.« Journalist oder Ermittler, das schien sie nicht weiter zu bekümmern. Sie nahm neben mir Platz, kratzte sich mit langem Fingernagel am Mundwinkel und musterte mich. Wie im Nacktscanner auf dem Flughafen, so kam ich mir vor. Diese Augen!
Ich erzählte ihr von dem Brandanschlag auf Evelyns Büro, von Deiningers Verdacht und meinem vergeblichen Versuch, mit Prof. Butenschön zu sprechen. Die Sache mit Koschak erwähnte ich nicht, weder seinen Kontakt zu dem Russen noch meinen Besuch in Goldstein. Dörte Malewski lauschte meinem Bericht auf ihre ganz spezielle Weise: Sie ließ ihre Augen umherwandern, knibbelte sich am Ohr, schlug die Beine übereinander und wieder zurück, schmatzte mit den Lippen, rückte ihren Schal zurecht. Nicht dass sie unaufmerksam gewesen wäre. Bloß mit dem Stillsitzen hatte sie es nicht.
Als ich fertig war, nickte sie und fragte: »Welches Sternzeichen sind Sie eigentlich?«
»Sternzeichen? Keine Ahnung.«
»Stier vielleicht? Wann haben Sie Geburtstag?«
»Anfang März.«
»Ah, Fische. Interessant.« Wieder dieser Blick aus ihren klaren runden Augen.
»Evelyn Deininger sagte mir, dass Sie mir einiges über Professor Butenschön erzählen könnten. Wie er als Chef und Wissenschaftler so war.«
»Ja«, lachte sie trocken. »Das kann ich! Aber nur, wenn Sie ein bisschen Zeit mitgebracht haben. Ich rede nun mal gern, da müssen Sie mich irgendwann stoppen oder mir den Mund zuhalten. Oder einfach gehen, kein Problem. Ich werde es Ihnen nicht übel nehmen.«
Ich grinste. Die Frau begann mir zu gefallen. Dann verging mir das Grinsen allerdings, denn Dörte Malewski stand auf, um mit aller Kraft gegen eine in der Ecke stehende Palme zu niesen. Weder hielt sie die Hand vor, noch machte sie sonst Anstalten, den Niesreiz zu unterdrücken. Einige Palmenblätter gerieten ins Trudeln, und an der gläsernen Außenwand vermeinte ich ein Meer frischer Tröpfchen zu erkennen.
Inbrünstig die Nase hochziehend, kehrte Malewski an ihren Platz zurück. »Der gute Albert Butenschön«, sinnierte sie. »Von dem komme ich nicht mehr los. Wahrscheinlich überlebt er mich noch, der Schuft! Ich hätte aus Heidelberg wegziehen sollen, schon vor 40 Jahren.«
»Wieso sagen Sie Schuft?«
»Wieso nicht? Viele Männer sind Schufte, wenn nicht alle. Frauen auch. Nur Tiere nicht.« Sie zeigte auf eine Katze, die durch ihren Garten strich. »Die nicht. Gottes Schöpfung hat auch ihre schönen Seiten. Sie wissen über mein Verhältnis zu Butenschön Bescheid?«
»Nein. Frau Deininger machte nur Andeutungen, dass Sie mal seine Schülerin waren.«
»Und zwar seine beste. Anfang der Siebziger war das, er hatte nicht mehr weit bis zum Emirat. Emeritierung heißt das, ich weiß, aber Emirat passt besser bei diesem Pascha.« Sie winkte der Katze durch die Glasscheibe zu. »Ich war wirklich die beste, das hat er mir mehrfach versichert. Nur stromlinienförmig war ich nicht, und deshalb knallte es. Bumm! So eine Explosion hatte er in seinem ganzen Forscherleben noch nicht erlebt. Na, das stimmt vielleicht nicht, Butenschöns Weg ist von einigen Frauenleichen gesäumt.«
Ich hob die Brauen. »Sie meinen, er hatte was mit seinen Mitarbeiterinnen?«
»Ach, woher denn! Albert Butenschön doch nicht. Der interessierte sich nur für seine Forschungen. Gut, ich weiß nicht, wie es damals in den Dreißigern und Vierzigern zuging, als sich lauter blonde Assistentinnen um ihn scharten«, sie rollte mit den Augen, »um ihn, den Jungstar der Chemie, den Nobelpreisträger, der auch noch Parteimitglied war … Mir ist jedenfalls nie etwas Konkretes zu Ohren gekommen. Nein, wenn da was mit Frauen lief, dann nur auf wissenschaftlicher Ebene. Als Forscher war Butenschön ein lupenreiner Patriarch. Ein Patriarch wie von Alice Schwarzer erdacht. Jedes seiner Institute hat er identisch aufgebaut: an der Spitze er selbst, darunter seine fähigsten Leute, allesamt männlich, und ganz unten wir Frauen, schön nach Qualifikation gestaffelt. Bei der Anordnung dieser Pyramide kannte er nur zwei Prinzipien: das Leistungsprinzip und das Geschlechterprinzip.«
»Und wenn diese Prinzipien in Widerspruch zueinander gerieten, so wie bei Ihnen?«
»Gab es Knatsch. Wollen Sie eigentlich etwas trinken, Herr Koller? Zuhören macht durstig, und Sie haben noch einiges vor sich.« Ich hatte kaum Zeit, den Kopf zu schütteln, da fuhr sie schon fort: »Also, es gab Knatsch. Mit mir genauso wie mit allen Wissenschaftlerinnen, die sich nicht unterordnen wollten. Da gab es zum Beispiel eine Frau namens Else Soundso – den Nachnamen habe ich vergessen –, die schrieb ihm noch lange nach dem Krieg bittere Briefe. Butenschön hatte sie wegen ihrer besonderen Fähigkeiten als Präparatorin angefordert. Wenn es aber um eine Leitungsstelle ging und um bessere Bezahlung, wurden immer ihre männlichen Kollegen bevorzugt. Auch den Umzug des Instituts ins sichere Tübingen kurz vor Kriegsende machte sie nicht mit. In Berlin wurde sie dann von Rotarmisten vergewaltigt.«
»Und Sie?«
»Im Prinzip dieselbe Chose, nur ohne Krieg und all den Schlamassel. Butenschön war durch meine Leistungen im Studium auf mich aufmerksam geworden. Ich hatte meine Prüfungen noch nicht abgelegt, da bot er mir schon eine Doktorandenstelle an. Molekularbiologie, mein Traumfach! Ich natürlich nix wie unterschrieben und schwebte im siebten Forscherhimmel. Aber dann schusterte mir der Kerl lauter niedere Aufgaben zu, für die eigentlich HiWis und Studenten zuständig waren. Verstehen Sie, ich sollte Doktoranden zuarbeiten, die kein Deut mehr Ahnung hatten als ich. Da fing es an mit dem Ärger. Bald galt ich im ganzen Institut als Nörgeltussi vom Dienst. Ich wollte auch nicht akzeptieren, dass Butenschöns Name auf jeder Veröffentlichung irgendeines seiner Mitarbeiter stand, selbst wenn er höchstens das Inhaltsverzeichnis abgenickt hatte. Das war nämlich seine Masche, schon in jungen Jahren: Kein Text verlässt das Institut ohne meine Autorschaft.«
»Sie haben sich geweigert?«
Dörte Malewski seufzte tief. »Versucht habe ich es. Aber kämpfen Sie mal gegen ein lebendes Monument an! Irgendwann habe auch ich gekuscht. Und weitergewurstelt. Erst als mir aufging, dass Butenschöns Forschungsansätze hoffnungslos veraltet waren, zog ich die Konsequenzen. Das war im Prinzip das Ergebnis seiner totalen Ich-Fixierung – und seines Erfolgs. In seinem Bereich, der Biochemie, duldete er nach dem Krieg keinen neben sich. Zumindest niemanden, der andere Wege beschritt. In den USA verfolgten sie neue, vielversprechende Ansätze, in Japan, sogar hier in Europa – Butenschön wollte nichts davon wissen. Er brachte alle in seinem Fach auf Linie; den Einfluss, die Reputation und die Geldmittel dazu hatte er ja. Sobald mir das klar wurde, schmiss ich hin.«
»Wieso das? Sie hätten doch in die USA wechseln können.«
»Theoretisch ja, praktisch nein. Meinem Vater ging es damals schlecht, ich musste mich um ihn kümmern. Dann hatte ich einen Freund und keine Lust auf eine Fernbeziehung. Also bewarb ich mich bei anderen deutschen Instituten, aber da hatten lauter Butenschön-Schüler das Sagen. Für die USA hätte ich zudem ein Stipendium benötigt, und wer darüber entschied, können Sie sich denken.«
»Klingt ja regelrecht klaustrophobisch.«
»Das war auch so! Sie können sich nicht vorstellen, in welchen Gremien der Kerl überall saß. In den zentralen Fachgremien ohnehin. Aber auch im Deutschen Forschungsrat, in der Max-Planck-Gesellschaft, in der Gesellschaft deutscher Naturforscher, in der DFG … Immer ganz oben, immer dort, wo Entscheidungen gefällt wurden. Butenschön war sogar Berater der Kultusministerkonferenz. Verstehen Sie, er hat die Lehrpläne an unseren Schulen mitbestimmt! Was Sie als Pennäler gelernt haben, ist auf seinem Mist gewachsen.«
Oder nicht gelernt haben, verbesserte ich im Stillen. Laut sagte ich: »Ganz ordentliche Bilanz für einen, der unter den Nazis Karriere machte.«
»Butenschön hätte überall Karriere gemacht. Was sage ich: Er hat es ja getan. Vielleicht nicht immer guten Gewissens. Seine erste Stelle zum Beispiel, die trat er noch während der Weimarer Republik an. Das gefiel ihm gar nicht, schließlich diente er nun einem Staat, den er ablehnte. Und er musste ja auf die Verfassung schwören. Später unter den Nazis wurde ihm sicher auch mulmig, als er merkte, wohin der Hase lief. Na und? Butenschön sah sich als treuer Diener seines Volkes, als Soldat der Wissenschaft – seine Formulierung, nicht meine! –, und mit diesem Ethos ließ sich jede Diktatur ertragen. Bleiben Sie sitzen, ich muss die Katzen füttern.«
Sie eilte ins Haus. Das braune Tier von vorhin hatte Zuwachs durch ein schwarz-weißes Exemplar bekommen. Beide Katzen schmiegten sich an die verschlossene Terrassentür, maunzten und verdrehten die Hälse. Als Dörte Malewski mit zwei vollen Tellern zurückkehrte, stellten sie sich auf die Hinterpfoten und langten bis fast zur Klinke.
»Jaja, schon gut, ihr Gierhälse«, sagte die Rothaarige und ließ sie ein. »Es ist genug für alle da.«
»Ihre Katzen?«, wollte ich wissen.
»Nein, aus der Nachbarschaft. Um die kümmert sich keiner. Außer mir. Fische, sagten Sie? Hätte ich nicht gedacht.« Sie setzte sich und begann, an ihrem Ohrgehänge herumzufummeln. »Wo war ich, Herr Koller?«
»Sie haben alles geschmissen, sagten Sie. Und dann? Wie ging es weiter bei Ihnen?«
»Ich habe umgesattelt. Bio und Chemie auf Lehramt, Staatsexamen, drei Jahrzehnte Schuldienst. Naja, fast drei. Meine Rektoren hatten es nicht leicht mit mir. Ich erlaubte mir, gewisse Auszeiten zu nehmen, und ein Jahr auf Weltreise ging ich auch. Das kommt nicht gut, wenn man verbeamtet ist.«
»Geht das überhaupt?«
Sie lächelte. »Man muss halt frech genug sein. Mit meinen Schülern kam ich übrigens immer bestens aus. Die Kollegen waren das Problem. Beziehungsweise ich das Problem für sie. Wie auch immer, Lehrerin war nicht gerade mein Traumjob. Ich habe mich damit arrangiert, nur manchmal fuchst es mich noch heute, dass es einem einzigen Menschen gelingen konnte, mir meinen eigentlichen Weg zu verbauen.«
»Verstehe. Und wie sehr fuchst Sie dieser Gedanke?«
Ihr Blick krallte sich in meinen. »Komische Frage«, erwiderte sie. »Klingt nach: Wie weit würden Sie gehen, um sich an Albert Butenschön zu rächen?«
»Nein, mich interessiert nur, welche Narben der Mann bei anderen …«
»Schon gut, ich weiß, was Sie meinen. Narben, sicher, die gibt es. Wobei ich Ihnen nicht verraten werde, was ich im Traum mit dem Kerl schon alles angestellt habe. Die Gedanken sind frei. Aber sonst? Herr Koller, wenn ich mich an jedem rächen würde, der mir übel mitgespielt hat, hätte ich eine Menge Arbeit. Und darauf kann ich verzichten. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Mein Häuschen ist klein, aber mein, ich habe meinen Garten, meine Katzen, ab und zu bekomme ich Besuch von netten Menschen. Nur dass dieser Mann bis heute Studentinnen wie der kleinen Deininger das Leben schwer macht – ist das nicht ein Skandal?« Sie stand auf, um die Prozedur mit der Palme in der Ecke zu wiederholen. Erstaunlich, was aus so einem Näschen alles herauskam! »Der Kerl ist immerhin 100«, fuhr sie fort, als sie wieder saß, »und wahrscheinlich kommt er ohne fremde Hilfe morgens nicht aus dem Bett. Aber nach wie vor ist es verdammt heikel, kritisch über ihn zu schreiben. Butenschön wird noch aus dem Grab heraus seinen Biografen die Feder führen.«
»Andererseits gibt es diesen Kommissionsbericht, und da kommt er über weite Strecken nicht gut weg.«
»Zugestanden. Das war auch bitter nötig. So ein Buch konnte übrigens nur von Historikern geschrieben werden, von Vertretern eines anderen Fachs. Dafür fehlen einige wichtige Punkte. Dass Butenschön die deutsche Biochemie in eine Sackgasse geritten hat, kommt dort zum Beispiel überhaupt nicht vor. Oder seine Art, Menschen zu führen, sein Pünktlichkeitswahn. In dem Buch steht was von preußischer Disziplin – ein glatter Euphemismus! Das war schon krankhaft, wie er morgens um acht an der Institutspforte saß und jede Minute notierte, die seine Mitarbeiter zu spät kamen. Oder wie er einen zur Sau machte, wenn ein Referat schlecht vorbereitet war, meine Fresse!«
»In jedem Fernsehkrimi würde der Ermittler jetzt sagen: Herr Butenschön hat sich also eine Menge Feinde gemacht?«
»Feinde? Lieber Herr Koller, Sie kennen die Universität nicht. Dass dort mit harten Bandagen gekämpft wird, ist doch keine neue Erkenntnis. Butenschön war nicht besser und nicht schlechter als andere Institutsleiter auch. Bloß wird diese Tatsache von dem übergroßen Denkmal, das man ihm und das er sich selbst gesetzt hat, verdeckt. Darum geht es mir, um nichts anderes. Der Mann hat geniale Seiten und erbärmliche Seiten, ganz einfach. Ich bewundere ihn immer noch, keine Frage. Nur blende ich das Negative nicht aus. Und deshalb kann ich mich angesichts der Huldigungsorgie, die nun für ihn veranstaltet wird, eines gewissen Übelkeitsgefühls nicht erwehren.«
Mit einem Nicken schlug ich die Beine übereinander. Es war höchst verlockend, Dörte Malewski auf die neuen Butenschön-Dokumente anzusprechen und sie nach ihrer Einschätzung zu fragen. Aber ich hatte Evelyn Deininger gegenüber Stillschweigen gelobt. Also blieb nur die übliche lahme Frage, was meine Gastgeberin ihrem ehemaligen Chef so alles zutraute, wenn er jemanden einschüchtern wollte.
»Einen Brandanschlag jedenfalls nicht«, lautete die Antwort. »Vielleicht seine neue Frau, aber die kenne ich zu wenig. Dem Butenschön, den ich erlebt habe, standen jede Menge anderer Druckmittel zur Verfügung, um Leute handzahm zu machen. Das spielte sich alles innerhalb des universitären Machtgefüges ab. Die Daumenschrauben des Akademikers, wenn Sie so wollen.«
»Nur dass Butenschön schon lange kein Mitglied der Uni mehr ist. Kein aktives, meine ich.«
Zweifelnd wiegte sie den Kopf. »Das käme auf die Definition von ›aktiv‹ an. Sein Name gilt noch immer viel. Sehr viel, fragen Sie Frau Deininger.«
»Hatten Sie in den letzten Jahren Kontakt zu ihm?«
»Nein, wie auch? Als Lehrerin war ich nicht seine Kragenweite. Vielleicht dass ich ihm mal einen Brief geschrieben … aber gesehen habe ich ihn schon zehn, fünfzehn Jahre nicht mehr.«
»Und zum Festakt gehen Sie auch nicht?«
»Ich?« Sie lachte bitter. »Was hätte ich zu feiern, Herr Koller?« Eine der Katzen kam schnurrend angestrichen und sprang ihr in den Schoß.