19

Das Gerichtsgebäude war ein Palast im »Greek Revival«-Stil mit mächtigen ionischen Säulen und einer schimmernden weißen Kuppel, erbaut von den reichen Baumwollpflanzern, denen das County vor dem Bürgerkrieg gehört hatte. Wenn Georgia die Marmortreppe hinaufstieg, hatte sie immer das Gefühl, den Verwaltungssitz eines sehr viel großartigeren Countys zu betreten. Eine erstaunliche Vorstellung, dass Six Points vor dem Bürgerkrieg eine der reichsten Städte in Alabama gewesen sein sollte. Seitdem war es stetig bergab gegangen. Das Gerichtsgebäude war nie renoviert worden; nur die Kuppel hatte alle paar Jahre einen neuen weißen Anstrich bekommen. Die Uhr über dem Portikus war schon vor Georgias Geburt stehen geblieben.

Der Lärm einer Schulklasse hallte durch die Rotunde. Georgia stieg die Treppe empor, die im Kreisbogen an der Wand entlang nach oben führte. Kinder polterten im ersten Stock umher und spähten in die Vitrinen mit denselben verstaubten Konföderiertenflaggen, die dort schon in Georgias Kindheit ausgestellt worden waren.

Sie winkte der Lehrerin zu, ihrer alten Klassenkameradin Cindy Helms, und ging weiter die Treppe hinauf bis zum Gefängnistrakt. Ein paar Kinder verfolgten sie mit ihren Blicken. Zweifellos erzählten sie einander immer noch Gruselgeschichten von Gefangenen, die sich dort oben in den Zellen erhängt hatten und deren gespenstische Gesichter vom Blitz in die Scheiben der bleiverglasten Fenster geätzt worden waren.

Der Absatz im zweiten Stock mündete in einen kleinen Vorraum mit Plastikstühlen wie im Wartezimmer eines Zahnarztes. Durch das Sicherheitsglas im Fenster erkannte Georgia die verschwommenen, zweifach reflektierten Umrisse eines Mannes in Uniform.

Der Lautsprecher knisterte. »Kann ich Ihnen helfen?«

Georgia nannte ihren Namen und erklärte, warum sie hier sei. Der Deputy ließ seinen Blick an ihrem Körper herabgleiten, während er überlegte, ob er ihr helfen solle. Sie schenkte ihm ein breites Lächeln.

Kurz darauf drückte der Deputy den Summer und ließ Nathan ins Wartezimmer kommen. Der Junge war anscheinend unversehrt; er trug immer noch seine weiten Baseballklamotten aus glänzendem Polyester und die schwarze, bis zum Hals geschlossene Windjacke.

»Wo ist Mama?«, fragte Georgia. Nathan zuckte die Achseln.

Sie winkte, um den Mann hinter der Scheibe auf sich aufmerksam zu machen.

Der Lautsprecher knisterte wieder. »Ja?«

»Was ist mit meiner Mutter?«

Der Deputy drehte sich mit seinem Stuhl herum und sprach mit jemandem, der hinter ihm stand. Dann beugte er sich wieder zum Mikrofon. »Sie will nicht rauskommen.«

»Was? Warum nicht?«

»Sie sagt, sie hat keine Tochter. Ihre Tochter ist tot.«

»Die Frau ist dement«, sagte Georgia. »Kann ich bitte mit ihr sprechen?«

»Zivilisten haben hier keinen Zutritt. Warten Sie.«

»Dammich«, sagte Nathan. »Die alte Lady ist echt stinkig auf dich.«

Georgia drehte sich um. »Würdest du dich bitte hinsetzen und die Sache mir überlassen?«

»Sie sagt, sie streicht dich aus ihrem Testament, weil du uns die ganze Nacht hiergelassen hast«, erklärte Nathan. »Na und?«, fuhr er fort, als er ihr Gesicht sah. »Hat sie gesagt.«

»Wann hast du mit ihr gesprochen?«

»Die ganze Nacht. Sie hält ja nie die Klappe. Hat mir alles über dich erzählt. Was du immer für’n Ärger hattest, als du in meinem Alter warst.«

Georgia war überrascht, dass der Sheriff sie zusammen eingesperrt hatte. Nein, sagte Nathan, ihre Zellen hatten einander am Flur gegenübergelegen. Is’n kleiner Knast, meinte er.

»Kleiner als der in New Orleans?« Georgia beobachtete seine Reaktion.

Er wollte antworten, aber dann sah er sie an. »Was glaubst du? Dass ich schon mal im Knast war?«

»Warst du nicht?«

»Nur als Besucher.«

»Gut. Freut mich zu hören. Lass uns zusehen, dass es so bleibt.«

»M-hm.«

»Aber du bist schon mal verhaftet worden«, sagte sie.

Nathans Rücken straffte sich. Plötzlich war er einen Kopf größer. »Was?«

»Du hast mich verstanden.«

»Woher weißt du das? Hat Mamaw es dir erzählt?«

»Ich wusste es nicht.« Georgia lächelte. »Du hast es mir gerade bestätigt.«

Er kniff die Augen zusammen. »Wieso willst du mich austricksen?« Er zog die Lippen zu einem kleinen Punkt zusammen und schob ihn an die Seite seines Gesichts – genau wie Georgia es tat, wenn sie sich ärgerte.

Bis zu diesem Augenblick hatte sie es nie wirklich gefühlt. Sie hatte es im Kopf gewusst, war aber nie körperlich von dem Gedanken berührt worden, dass Nathan wirklich ihr Sohn war.

Sie drückte eine Hand auf den Mund und empfand einen geradezu wilden Drang, ihm die Arme um den Hals zu schlingen. Ihr wurde klar, dass er jetzt seit zwei Tagen hier war, ohne dass sie ihn berührt hatte.

Er starrte sie an. »Was ist?«

»Oh«, sagte sie, »o Gott, o Nathan, es tut mir leid. Du hast recht. Ich will dich wirklich nicht austricksen. Haben sie dir zu essen gegeben?«

»Ja.«

»Aber ich wette, du hast immer noch Hunger.«

Er nickte.

Der Türsummer hinter ihnen ertönte. Little Mama erschien mit einem Mann in Uniform, der sie am Arm führte. Sie schob seine Hand weg und wandte sich an Georgia. »Das wurde aber auch Zeit, verdammt.«

Der Mann sagte: »Machen Sie’s gut, Little Mama.« Die Tür summte wieder, und er verschwand.

»Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?«, fragte Mama.

»Fang jetzt ja nicht so an! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das Luftgewehr im Schrank lassen?«

»Ich hab denen gesagt, ich hätte keine gottverdammte Tochter, meine Tochter wäre sicher tot, wenn sie mich die ganze Nacht in diesem gottverdammten Höllenloch verrotten lässt!«

»Hör sofort auf zu fluchen«, wies Georgia sie zurecht. »Da unten sind Kinder, die dich hören können.«

»Von mir aus kann der verdammte Billy Graham da unten sein«, erwiderte Little Mama. »Mir egal, und wenn der verdammte Papst aus Rom da unten ist …«

»Okay, Mama«, sagte Georgia laut. »Ich hab’s verstanden.«

Aus dem Lautsprecher kam ein elektronisches Klicken. »Miss Georgia, ich brauche hier Ihre Unterschrift, wenn Sie so nett sein würden.« Der Deputy schob eine Stahlschublade mit einem Clipboard herüber. Georgia unterschrieb und legte das Clipboard freundlich lächelnd wieder in die Schublade. Der Deputy grinste idiotisch zurück.

Georgia sammelte ihre haftentlassenen Sträflinge ein und trieb sie die Treppe hinunter.

Die Schulkinder standen in Zweierreihen abmarschbereit an der Wand. Sie glotzten Nathan an, den offenkundigen Verbrecher in der Gruppe. Ein frech aussehendes Mädchen mit einem waagerechten Pony bedachte ihn tatsächlich mit dem bösen Blick. Georgia musste sich beherrschen, um ihr nicht die Zunge herauszustrecken.

Irgendwie gelang es Little Mama, still zu bleiben, bis sie das Gebäude verlassen hatten. Es war unfair, dachte Georgia, aber wenn man sich vielleicht mal wünschte, sie würde etwas vergessen, dann tat sie es nicht. Zum Beispiel, dass sie die Nacht im Gefängnis verbracht hatte. Wieso konnte ihr das nicht einfach entfallen?

Nathan trottete hinter ihnen her und wippte mit dem Kopf im Takt einer unhörbaren Musik. Lautlos tat er kund, dass er mit diesen zankenden alten weißen Ladys nichts zu tun hatte. Aber es schien ihm gut zu gefallen, wenn Little Mama fluchte. Er kicherte bei jedem »gottverdammt« und »Bullshit«. Georgia war fassungslos bei der Vorstellung, dass die beiden die ganze Nacht miteinander geredet hatten. Der Junge musste allerlei von ihr gehört haben. Gut zu sehen, dass sie ihn immer noch amüsierte.

Der Honda war ein Backofen in der mittäglichen Augustsonne. Die beiden stöhnten und meckerten auch, als die Fenster heruntergedreht waren, der Motor lief und die Klimaanlage so viel kühle Luft in den Wagen pumpte, wie sie nur konnte.

»In diesem Auto wird zu viel gejammert«, erklärte Georgia mit Entschiedenheit. »Ich könnte ein kleines Dankeschön von euch beiden gebrauchen. Ihr wärt immer noch da drin, wenn es mich nicht gäbe.«

»Ich hab nix gemacht, wofür ich da reingemusst hätte«, meinte Nathan.

»Ich auch nicht«, sagte Little Mama.

»Mama! Du hast den Deputy geschlagen – zweimal! –, und dein blödes Luftgewehr hat den anderen in den Hintern geschossen.«

Nathan gackerte.

»Lach nicht, Nathan Blanchard. Du kannst von Glück sagen, wenn sie dich ohne Vorstrafe laufen lassen.« Tatsächlich war gegen keinen von beiden Anklage erhoben worden. Das hatte Georgia sich vom Deputy bestätigen lassen, bevor sie unterschrieb.

»Binkam Blanchit«, sagte Nathan.

»Was?«

Er wiederholte es, bis sie verstanden hatte: Ich bin kein Blanchard.

Georgia drehte den Rückspiegel so, dass sie sein Gesicht sehen konnte. »Das ist der Name deines Daddys.«

»Sagst du«, antwortete Nathan. »Ich hab ihn nie gesehen. Hat sich nie die Mühe gemacht, mich zu sehen.«

»Na, und wie ist dann dein Name?«

»Hab kein, denk ich.«

Sie lächelte. »Nathan Habkein? Freut mich, dich kennenzulernen.«

Sein Gesicht wirkte sehr ernst. »Ich hab immer Jordan genommen, weil Mamaw so heißt.« Er schwieg kurz. »Aber ein Jordan bin ich auch nicht.«

»Du kannst Nathan Bottoms sein, wenn du willst«, sagte Georgia.

Er schaute sie im Rückspiegel an. »Ich glaub nicht.«

Little Mama lachte. »Warum soll er unseren Namen benutzen? Seiner ist doch okay.«

»Darum«, sagte Georgia.

Sie spürte Nathans Blick im Nacken. Die richtige Antwort lautete: »Weil er mein Sohn ist, Mama«, aber sie hatte keine Lust, das zu erläutern. Hoffentlich würde Nathan das verstehen. Oder wenigstens den Mund halten.

»Nathan wird noch eine Nacht bei uns bleiben müssen, Mama. Ich gebe ihm wieder das blaue Zimmer. Und ich möchte dich wirklich bitten, nicht noch mal die Polizei zu rufen.«

»Warum sollte ich?«

»Keine Ahnung«, sagte Georgia. »Aber du hast es getan. Deswegen habt ihr beide die Nacht im Gefängnis verbracht, weißt du noch?«

»Ich habe nichts dergleichen getan«, entgegnete Little Mama. »Nathan ist ein guter Junge.«

Diese Bekanntmachung kam so unerwartet wie Mamas Liebeserklärung an die Supremes. Georgia schaute in den Rückspiegel und sah, dass Nathan mit spöttischem Grinsen ihren überraschten Gesichtsausdruck nachäffte.

»Yeah, wir sind jetzt dicke Freunde«, sagte er. »Stimmt’s nicht, Mama?«

Georgia drehte sich zu Little Mama um. »Ist das wahr?«

»Ja«, sagte Mama. Sie hätten eine Menge gemeinsam. Beide liebten die Footballmannschaft der Louisiana State University und konnten die aus Tennessee nicht ausstehen. Beide aßen gern Maisbrot aus weißem Mehl, nicht aus gelbem, und ohne Zucker. Beide liebten Clint-Eastwood-Filme, nur nicht den mit dem Affen. Es sei erstaunlich, sagte sie, dass zwei Fremde so viele Gemeinsamkeiten haben konnten.

»Du willst mich jetzt nur verrückt machen«, meinte Georgia.

»Nee«, sagte Nathan. »Wir haben echt ’ne Beziehung aufgebaut, ich und sie.«

»Sie und ich«, verbesserte ihn Georgia.

Angesichts von Mamas Neigung, bei der erstbesten Gelegenheit »Nigger« zu sagen, konnte sie sich kaum vorstellen, dass diese Beziehung von Dauer sein würde. Einstweilen aber war es besser, als wenn sie einander hassten. Mamas Demenz erwies sich also doch noch als Vorteil. Sie war jeden Tag ein bisschen weniger sie selbst. Bald würde sie ein völlig anderer Mensch sein. Vielleicht würde Georgia sich dann mit ihr verstehen.

Zu Hause bereitete Georgia einen Riesenlunch aus Backhuhn, Erbsen, Scheibentomaten und Biskuitbrötchen aus der Dose mit hausgemachter Feigenmarmelade zu. Als Nathan angefangen hatte zu essen, gab er keinen weiteren Kommentar mehr ab. Little Mama vergaß, wie wütend sie gewesen war, und schlang drei von den Brötchen hinunter.

Während die beiden aßen, lief Georgia nach oben, um den Anrufbeantworter abzuhören. Keine Nachrichten. Sie wählte Krystals Nummer, um ihr zu sagen, sie sei jetzt zu Hause.

Es klingelte dreimal, dann meldete sich eine Tonbandstimme: »Die Nummer, die sie gewählt haben, ist zur Zeit nicht vergeben.«

Krystal würde vorbeikommen. Sie hatte es versprochen.

Sie glaubte nicht, dass Krystal wirklich für immer wegziehen würde. Auch wenn ihre Sachen auf dem Lastwagen lagen. Ein Lastwagen kann zurückfahren. Sachen lassen sich wieder dahin bringen, wo sie gewesen sind.

Zur Zeit sah es aus, als marschierte Georgia an allen Fronten geradewegs in die Katastrophe, aber allmählich tat sich vage ein Weg durch den ganzen Schlamassel auf. Als Erstes musste sie Krystal überreden, doch hierzubleiben, oder, wenn nötig, sie für ein paar Wochen nach Atlanta ziehen lassen, damit sie sich abregen und wieder zurückkommen konnte. Als Nächstes musste sie Nathan ein ordentliches Abendessen zubereiten und ihn morgen mit einer Umarmung und ohne Groll wieder nach Hause schicken. Danach ginge es nur noch darum, Mama zu beruhigen, das Problem mit den Quilts zu lösen und ihr Leben wieder ins Lot zu bringen.

Ihr Leben.

Plötzlich gehörte zu Georgias Leben mehr als nur sie selbst. Da war Nathan – und ein neuer Mann für den Samstagabend.

Vielleicht nicht nur für dem Samstag. Wenn sie es sich recht überlegte, wäre ihr dieser Mann eigentlich für jeden Abend der Woche recht.

Die Erinnerung an ihre Nacht mit Brent perlte schon den ganzen Tag in ihr wie ein wunderbarer, frischer Champagner. Eine großartige Nacht wie die vergangene verlieh der Atmosphäre des folgenden Tages eine besondere Note.

Als sie Little Mama versorgt und zu ihrem Mittagsschläfchen hingelegt, die Telefone ausgestöpselt und im Schrank verstaut hatte (für den Fall, dass Mama noch einmal den Drang verspüren sollte, die Cops zu rufen), pflanzte sie Nathan mit einer Riesenschüssel Chips vor den Fernseher und ging dann zum Apartment, um nach dem Abend mit Sheriff Bill aufzuräumen.

Sie fand seinen Umschlag unter der Sturmlampe, faltete die Scheine zusammen und steckte sie in die Tasche ihres Kleides. So lieb von ihm, dass er in dem Riesendurcheinander noch daran gedacht hatte, ihr ein Geschenk zu hinterlassen.

Sie kehrte ins große Haus zurück, um ihr Zimmer aufzuräumen. Sie nahm die Bettwäsche vom Boden und trug sie hinaus zur Waschmaschine. Unterwegs drückte sie das Gesicht in die Laken und atmete den letzten Hauch Erinnerung an Brent Colgate ein.

Als die Waschmaschine lief, füllte sie einen Eimer mit Seifenlauge und trug ihn in ihr Schlafzimmer.

Sie schaltete das Uhrenradio ein – ein tanzbares Madonna-Stück mit stampfendem Beat, perfekt zum Putzen. Sie moppte und tanzte und wackelte mit dem Hintern, während sie arbeitete. Der Mopp fegte ein Stück Papier unter dem Bett hervor.

Sie bückte sich und stellte fest, dass es kein Stück Papier war, sondern ein Briefumschlag.

Ein verschlossener weißer Umschlag, auf dem in handgeschriebenen kleinen, präzisen Buchstaben GEORGIA BOTTOMS stand.

Ihr Herz schlug schneller. Sie kannte die Handschrift nicht.

Wie, zum Teufel, kam das in ihr Zimmer?

Dass es ein Geschenk von jemandem sein könnte, das sie versehentlich mit hierhergebracht, verloren und mit dem Fuß unter das Bett geschoben haben könnte – das war unmöglich.

Georgia hatte ihre Buchführung im Kopf. Sie wusste auf den Penny genau, wie viel Geld hereinkam und hinausging. Von jedem nahm sie so viel, wie er geben konnte; das war ihre Tariftabelle, und sie wurde angepasst, wenn jemand schwierige Zeiten durchmachte und einen Rabatt oder selbst ein Geschenk brauchte …

»Ach, sei still«, sagte Georgia und schaltete das Radio aus. Sie wusste, was in diesem Umschlag war: Ärger.

Sie riss den Umschlag auf und zog ein zusammengefaltetes Blatt dünnes Briefpapier heraus, in dem ein paar Geldscheine lagen.

Ein Hunderter. Ein Zwanziger. Drei Fünfer.

Die Nachricht war in den gleichen handschriftlichen Druckbuchstaben verfasst wie die Aufschrift auf dem Umschlag.

 

Liebe Georgia,

Überraschung!

Ich wette, du hast nicht damit gerechnet, das hier unter deinem Kopfkissen zu finden.

 

Georgias Blick huschte zum unteren Rand des Blattes, um die Unterschrift zu lesen. Aber da stand kein Name. Nur die Worte

 

Du weißt schon wer.

 

Sie schaute wieder nach oben.

 

Wenn du diesen Brief liest, werden wir die Nacht miteinander verbracht haben. Eine Nacht voll großer Leidenschaft, wenn das, was ich über dich gehört habe, stimmt. Ich freue mich wirklich darauf. Mitten in der Nacht werde ich dich in meinen Armen halten und dir sagen, dass ich glaube, wir sind füreinander geschaffen.

 

So war es gewesen. Gegen drei Uhr morgens hatte Brent sie aufgeweckt und ihr genau diese Worte ins Ohr geflüstert. Georgia hatte gelächelt und ihn geküsst, und dann war sie wieder eingeschlafen.

Ohne sich träumen zu lassen, dass sie in den Armen einer Schlange lag.

 

Seit meine Schwester mir ihre Nöte anvertraut und mich um Hilfe gebeten hat, freue ich mich darauf, dich kennenzulernen. Ich habe eine Menge Strippen ziehen müssen, um zu der Kirche versetzt zu werden, die ihr Mann damals verlassen musste – und zwar ziemlich unvermittelt, wie du dich erinnern wirst. Meine Freunde bei der Baptist Convention Alabama waren überrascht, als ich die Versetzung von einem Kuhdorf in ein anderes beantragte, aber schließlich haben sie meinen Antrag genehmigt. Und hier sind wir!

Ursprünglich hatte ich den Plan, dich kennenzulernen, dein ruchloses Treiben zu erforschen und dich dann vor der Öffentlichkeit als das zu entlarven, was du bist.

Aber als ich dich sah, musste ich diesen Plan aufgeben.

Du bist eine außergewöhnlich schöne Frau, über alle Maßen bezaubernd. Mir wurde klar, dass ich meine Ziele auf eine Weise erreichen konnte, von der alle Beteiligten etwas haben würden.

Sogar du, wenn du mitspielst.

Beiliegend findest du 135 Dollar. Ich glaube, das ist dein aktueller Tarif, jedenfalls für Männer des Klerus. Was du anderen berechnest, weiß ich nicht. Bitte nimm sie mit meinem Dank. Ich weiß, du warst jeden Cent wert.

Aber ich muss dich warnen. Dies wird das einzige Mal sein, dass ich bezahle. Von jetzt an werde ich deine Dienste kostenlos erhalten.

Ich wollte dich nur dieses eine Mal bezahlen, damit du weißt, dass ich es WEISS.

Ich weiß Bescheid über dich, Georgia Bottoms.

Ich kenne noch nicht alle Namen, aber lass uns mit einem gewissen ehrenwerten Richter und einem gewissen Doktor der Medizin anfangen; auch diese beiden sollen (vorläufig) namenlos bleiben. Ja, und dann wäre da natürlich der Ehemann meiner Schwester. Aber ich weiß, dass es noch mehr gibt. Was für ein unartiges, fleißiges Mädchen du doch bist!

Wenn du diese Anweisungen befolgst, ist dein Geheimnis bei mir in Sicherheit.

Wenn nicht, wirst du womöglich feststellen, dass meine Predigten sich in den nächsten Wochen in besonderer Weise auf dich beziehen.

  1. Sag deinen anderen »Gentleman-Freunden«, dass du dich mit sofortiger Wirkung aus deinem Gewerbe zurückgezogen hast.
  2. Von heute an wirst du mir jederzeit zur Verfügung stehen, wann ich will, bei Tag oder bei Nacht. Ich werde dich telefonisch eine Stunde vorher informieren.
  3. Du wirst niemandem von diesem Brief oder von uns erzählen.
  4. Ich erwarte dich jeden Sonntag in der Kirche. Und bei der Predigt wirst du aufmerksam zuhören.

Das ist der Weg zum Himmel, Georgia. Nicht der Weg des Fleisches und des Teufels, den du dir erwählt hast.

Sei nicht böse auf mich. Im Grunde deines Herzens hast du immer schon gewusst, dass du nicht für alle Zeit auf diesem Weg bleiben kannst. Du hast gewusst, dass eines Tages die Rechnung kommt.

Dieser Tag ist heute.

Heute werden wir ein neues Leben für dich finden – ein besseres Leben.

Du weißt schon wer.

 

PS: Das ist für Brenda.