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Vier kleine Hendrix-Mädchen saßen auf dem Randstein neben dem rostbraunen Dodge-Minivan ihres Vaters. Sie sahen ratlos aus, weil niemand da war, der ihnen sagte, was sie tun sollten. Georgia wollte zu ihnen hinüberrufen: Keine Sorge, eure Eltern kommen gleich. Und steht von der schmutzigen Bordsteinkante auf mit euren hübschen Kleidern – aber warum sollte sie sich mit diesen Gören plagen? Sollten sie doch den ganzen Tag da sitzen. Wen interessierte das?
Nerven hatten manche Leute! Zorn hatte sich in Georgias Hinterkopf zusammengeballt wie eine ordentliche Wolke, ein Kumulonimbus mit einem breiten, violetten Sockel. Sie stürmte über den hitzeflimmernden Asphalt. Sie brauchte wirklich keine Lektion in Moral von der fetten Frau des Predigers Eugene, der danebenstand und die Auseinandersetzung mit der ganzen Autorität des geschrumpften Organs verfolgte, als das er sich erwiesen hatte.
Georgia stieg in ihren allradgetriebenen Honda-Backofen, startete den Motor und drehte die Klimaanlage auf MAX. Zorn brachte sie nicht weiter. Sie durfte sich davon nicht überwältigen lassen.
Die heiße Luft, die aus dem Armaturenbrett blies, verwandelte sich in einen kühlen Wind. Georgia hielt das Gesicht in den Luftstrom und massierte sich die Schläfen mit den Daumenkuppen.
Wie war noch der Name? Ein Name aus alten Zeiten. Ein Freund von Little Mama, ein massiger Mann, der dauernd in die Stadt kam, um einen Cousin zu besuchen. Schon wieder eine Rolodex-Karte, die leer war.
Leutselige Santa-Claus-Wangen und ein raues Lachen.
Eine Stunde später versuchte sie immer noch, sich die Buchstaben seines Namens ins Gedächtnis zu rufen, als sie die Tüten aus Hull’s Market zur Kühltruhe auf der Veranda schleppte. Whizzy, der weiß gefleckte Hund, wedelte winselnd mit dem Schwanz und drehte sich hin und her, um möglichst überall im Weg zu sein. »Verschwinde hier, Whizzy! Weg da! Mama, wer war noch dieser Mann von der Baptist Convention?«
Little Mama blickte von dem Topf mit den Erbsen auf, die sie aus den lila Schoten palte. »Welcher Mann?«
»Dieser Freund von dir, Mr. Superbaptist mit den dicken goldenen Fingerringen. Du hast immer gesagt, traue nie einem Baptisten, der so viel Gold trägt.«
»Ah, du meinst den alten Teebo Riley«, sagte Little Mama.
»Teebo! Genau!«
»Sein richtiger Name war Clarence oder Horace oder so ähnlich.«
Georgia bemühte sich um einen beiläufigen Ton. »War der nicht ein hohes Tier bei der Southern Baptist Convention in Montgomery?«
Little Mama nickte. »Er ist die rechte Hand des Mannes, der den ganzen Laden leitet.«
»Ich frage mich, was aus dem alten Teebo geworden ist«, sagte Georgia.
»Den gibt’s noch. Hat mich letztes Jahr an meinem Geburtstag angerufen. Zumindest glaube ich, dass er es war. Kann aber auch jemand anders gewesen sein.« Little Mamas Gedächtnis ließ nach, aber sie füllte die Lücken mit ihrer Fantasie auf. Sie arbeitete seit Jahren am selben Puzzle, aber wenn es sie nicht störte, dann machte das doch nichts.
»Hast du seine Telefonnummer noch, Mama?«
»Ich glaube schon.«
Und ein paar Minuten später gackerte Little Mama am Telefon mit dem alten Teebo. Georgia hörte ein Weilchen am Rand des Gesprächs zu, um sicher zu sein, dass Mama die Einzelheiten nicht durcheinanderbrachte. Dann goss sie sich ein großes Glas Rotwein ein und ging damit zum Feiern in den eiskalten Wintergarten.
Sie freute sich auf die besänftigende Wirkung des Weins. Ihr ganzer Körper schmerzte und kribbelte. Das war der Nachklang des Traumas, das sie in der Kirche erlebt hatte – als hätte sie einen elektrischen Draht berührt oder als wäre sie wirklich in Ohnmacht gefallen. Dass Eugene versucht hatte, sie zu verraten, fand sie nicht nur schockierend, sondern auch demütigend. Georgia war es nicht gewohnt, dass ihr Privatleben in bedrohlicher Weise vor der Gemeinde ausgebreitet wurde. Der erste Stich der Zurückweisung wurde rasch durch ein Gefühl der Entschlossenheit ersetzt.
In einer Affäre sollten beide Beteiligten das Recht haben, jederzeit Schluss zu machen. Das war einer der Gründe, weshalb sie nie geheiratet hatte: Sie hielt sich gern alle Möglichkeiten offen. Die Menschen waren von Natur aus so wankelmütig, dass sie verstand, weshalb manche einen rechtlich verbindlichen Vertrag brauchten, der ein Versprechen des Herzens untermauerte. Aber zumindest Georgias Leben war zu kompliziert, um es schriftlich zu fixieren.
Wenn Eugene Schluss machen wollte, okay – aber musste er es von der Kanzel brüllen? Das konnte sie einfach nicht zulassen. Sie behandelte ihre Affären diskret, und niemand ahnte, was sie so trieb. Nur selten musste sie die Axt auf jemanden fallen lassen. Aber es war gut zu wissen, dass sie es immer noch konnte, wenn es sein musste.
Sie trank ihren Wein in kleinen Schlucken und wartete. Dann kam das Gehgestell durch den Flur heran. Auf den Vorderbeinen steckten zur Verbesserung der Bodenhaftung aufgeschnittene Tennisbälle. »Alles erledigt, Baby.«
»Mama, du kannst Wunder wirken. Erinnere mich daran, dass ich dir zu Weihnachten einen Nerzmantel schenke.«
Mama schnaubte. »So kalt, wie du es hier drinnen hast, könnte ich einen gebrauchen. Frieren dir nicht die Füße ab? Meine Zehen sind schon kleine Eiswürfel.«
Little Mama fragte nicht, warum ihre Tochter wollte, dass sie einen solchen Anruf tätigte. Sie machte einfach, was man ihr sagte. Eugene und Brenda würden gar nicht wissen, was ihnen da auf den Kopf gefallen war.
Little Mama brachte ihr Gehgestell vor dem Sofa zum Stehen.
»Zieh Socken an, wenn du frierst«, sagte Georgia. »Wenn du barfuß herumläufst, ist es ja kein Wunder.«
Sie schlug die Gelben Seiten für Montgomery auf, suchte nach den Umzugsfirmen und entschied sich für Charlie Ross Regal Moving, weil ihr der Name gefiel – »Königliche Umzüge« –, und die Zeichnung dabei noch mehr: Charlie Ross trug eine juwelenbesetzte Krone und ritt peitschenschwingend auf seinem Umzugslaster wie auf einem bockenden Wildpferd. Eine Umzugsfirma mit einem Sinn für Lächerlichkeit, das mochte sie. Sie wählte die Nummer und erklärte einer freundlichen Frau namens Shirley, worum es ging.
»Und Sie heißen …?«, fragte Shirley.
»Brenda Hendrix«, antwortete Georgia. »Ich weiß, es ist schrecklich kurzfristig. Können Sie denn wirklich gleich morgen früh einen Laster herschicken?«
»Heute ist Ihr Glückstag. Jemand hat uns abgesagt«, erklärte Shirley. »Ich schicke Ihnen meine beste Kolonne.«
Georgia bedankte sich und legte auf. Sie nahm ihren Notizblock und studierte die Liste für ihren September-Lunch: drei eng mit der Hand beschriebene Seiten mit Dingen, die noch erledigt werden mussten. In nur achtundvierzig Stunden würden die ersten Gäste ihre Autos in der Magnolia Street parken. »Was meinst du, Mama? Hühnersalat oder Paprikakäse?«
»Wofür?«
»Für das Sandwichbuffet auf dem Tisch im Flur.«
»Hühnersalat«, sagte Little Mama. »Heutzutage vertragen manche Leute keinen Käse mehr. Ich kapiere das nicht – früher hatte kein Mensch etwas gegen Dinge wie Käse. Wenn wir noch eine Farbige hätten, dann könntest du ihr sagen, sie soll beides machen, und die Leute könnten essen, was sie wollen. Das ist alles bloß wegen dieser verdammten Rosa Parks.«
»Jetzt fang nicht wieder damit an …« Little Mama konnte einen zu Tode langweilen, wenn sie auf Rosa Parks zu sprechen kam, die sie für jedes Elend verantwortlich machte, das seit 1955 in die Welt gekommen war. Wenn die freche Göre sich in diesem Bus in Montgomery nicht hingesetzt hätte, wäre vielleicht alles so geblieben, wie es in Little Mamas Jugend war: Damals hatte die Gallone Benzin neunzehn Cent gekostet, eine weiße Frau hatte Privilegien gehabt, und farbige Mädchen erledigten für einen Apfel und ein Ei die ganze Hausarbeit. Diese Lebensweise war nicht auf Little Mamas Mist gewachsen, aber verdammt, sie war besser als alles, was man heute hatte. Es gab viele, die ihr zustimmten, aber die meisten von denen waren senil oder tot, oder sie behielten ihre Gedanken für sich.
Draußen musste Little Mama ihre Ansichten ebenfalls für sich behalten, aber im Haus zog sie hemmungslos vom Leder, hauptsächlich, um Georgia zu ärgern, die wie ihr Vater in dieser Hinsicht eine eingefleischte Demokratin war.
Sie hatten sich am Esstisch damals wütende Gefechte geliefert, Little Mama und Paw, wie sie ihn nannten: Paw sei ein schlimmerer Niggerlover als Eleanor Roosevelt, hatte Little Mama gebrüllt, und Paw hatte zurückgebrüllt, sie solle sich doch die spitze Haube und das Bettlaken anziehen und nachts durch die Gegend fahren. Wenn du ein Klucker sein willst, dann tu auch deine Pflicht, Frau! Jahrzehntelang hatte dieser Krieg getobt, bis Paw ihn verloren oder sich wenigstens daraus zurückgezogen hatte, indem er gestorben war. Georgia diskutierte nicht mit Little Mama, wenn sie es vermeiden konnte. Es gab mindestens drei afroamerikanische Frauen in der Stadt, die sie mit Vergnügen zu ihrem Lunch einladen würde – Dr. Madeline Roudy zum Beispiel, die Kinderärztin in der Sozialklinik des County, eine gutmütige Frau, attraktiv und intelligent –, aber das wagte Georgia nicht. Little Mama würde immer einen Weg finden, von Rosa Parks anzufangen.
»Die war nicht mal Näherin. Das war alles nur Publicity«, verkündete Mama dann. »Eine kommunistische Agitatorin, das war sie. Ich habe Bilder von ihr in diesem kommunistischen Ausbildungscamp in Tennessee gesehen.«
»Ja, Ma, ich weiß. Lass es gut sein. Du hast ja recht – ich mache lieber Paprikakäse- und Hühnersalat-Sandwiches, damit niemand enttäuscht ist.«
In Georgias Augen war dieser endlose Ringkampf um die Frage der Rasse der albernste Streit von allen. So weit sie zurückdenken konnte, führten die Leute in Alabama den Bürgerkrieg noch einmal, noch hundertvierzig Jahre danach. Irgendjemand versuchte immer, die Schwarzen in die Sklaverei zurückzuschicken oder sie auf eine höhere Stufe zu heben, als sie selbst wollten. Für Georgia war die Lösung ganz einfach: Vergesst es einfach, alle miteinander. Ihr Weißen, gewöhnt euch dran. Ihr Schwarzen, hört auf, euch damit zu beschäftigen. Lasst uns alle einfach so tun, als wären wir gleich, und unser Leben weiterführen.
Die Menschen, fand Georgia, sollten versuchen, mehr Ähnlichkeit mit Ameisen zu haben. Ameisen unterschieden niemanden nach Farben.
Georgia war von Ameisen fasziniert. Einen großen Teil ihrer Kindheit hatte sie auf den Knien und mit der Nase vor einem Ameisenhügel verbracht. Es machte ihr Spaß, sich eine Ameise herauszupicken und sie so lange sie konnte auf ihrem Weg zu verfolgen und sich dabei ihr Leben von Anfang bis Ende vorzustellen. Als Erwachsene schaute sie sich jeden Dokumentarfilm über Ameisen an, der im Fernsehen lief.
Sie war fasziniert davon, wie Ameisen komplexe chemische Botschaften durch ihre Reihen schickten. Eine schlechte Nachricht konnte sie dazu bringen, dass sie in Panik durcheinanderwimmelten, winzige Banden, die zu Berserkern wurden. Immer wenn Georgia sich allein und vielleicht ein bisschen nutzlos fühlte, fing sie an, über den »Ameisenverband« nachzudenken. Ameisen arbeiteten ihr ganzes Leben lang zum Wohl ihrer Spezies. Sie brauchten keine Worte, um sich zu verständigen. Sie hatten nichts dagegen, ein Pünktchen unter Millionen zu sein. Oder doch? Vielleicht war ihnen gar nicht bewusst, wie winzig sie waren. Vielleicht kamen sie sich genauso groß vor wie wir.
Es gab etwas zu lernen: Eine Ameise ist nicht besonders wichtig. Wir sind winzig, aber wir sind alle miteinander verbunden. Wir alle müssen zum Wohl des Ameisenverbandes arbeiten.
»Ich habe zu viel zu tun, um Brother zu fahren. Wieso kann er nicht einfach zu Fuß gehen?«
»Du weißt, dass er dann einfach den Bailey-Jungen anruft, damit der ihn abholt. Und dann landen sie nur wieder im Gefängnis.«
»Ich habe eine zehn Meter lange Liste mit Sachen, die ich erledigen muss, falls das irgendjemanden interessiert«, erklärte Georgia. »Bist du mit den Erbsen fertig? Soll ich sie dir zum Abendessen aufsetzen?«
Little Mama sagte: »Da ist noch ein Stück Rückenspeck in Folie hinten im Kühlschrank.«
Georgia ging in die Küche, setzte die Erbsen auf und drehte den Softrock auf WBGR lauter, woo woo no baby please don’t go ... Sie schlug ihre Southern Living-Kochbücher auf und startete die erste große Kochrunde für ihren Lunch am Dienstag.
Sie röstete und schälte eine große Pfanne rote Paprikaschoten und schleppte dann die Küchenmaschine, ein großes Stück Cheddar und einen Rieseneimer Mayonnaise heran, um ihren berühmten Paprikakäse zusammenzurühren. Dann warf sie zwei Hühner zum Kochen in einen Topf. Wenn sie nachher abgekühlt wären, würden sie entbeint und mit Weintrauben und kandierten Pecannüssen zu einem Curry-Hühner-Salat verarbeitet werden. Sie schnippelte und mixte und rührte und öffnete eine Dose nach der anderen mit Zutaten für die feinen Aufläufe und geschichteten Salate, die auf dem Hauptbuffet im Speisezimmer stehen würden. Sie schälte und raspelte einen ganzen Berg Granny Smiths für das »Fresh Mountain«-Apfelgeleekompott. Krystal schwor, es sei das Beste, was sie je im Mund gehabt habe (seit Billy Satterfield, ha ha).
Fünfzig Schnapsgläschen für die Lobster Scallion Shooters, die Hummer-Zwiebel-Klößchen, die sie als Vorspeise servieren wollte, besaß sie nicht. Aber in einer genialen Eingebung hatte sie Fred in Hull’s Market zwei Kartons Votivkerzenhalter bestellen lassen, und jetzt musste sie sie alle spülen, abtrocknen und die Preisschildchen abkratzen, bis ihr Daumennagel von einem zerklüfteten Rand aus käsigem Kleber überzogen war.
Mit Knipser und Feile reparierte sie den Nagel, und dann nahm sie einen doppelten Schub Taco Cheesecakes in Angriff, die so arbeitsintensiv waren, dass sie sich die Mühe nur machte, weil sie im letzten Jahr ein solcher Hit gewesen waren.
Als die Cheesecakes im Kühlschrank fest wurden, kreierte Georgia Miss Angies fünfschichtigen englischen Erbsensalat und rührte einen Eimer »Cranberry Ambrosia«-Creamcheese-Creme an, mit der sie die Chicoreeschiffchen füllen wollte.
Sie hatte angefangen, eine Kantalupe für die Pizzetta Bruschetta zu würfeln, als sie eine jähe Welle des Hungers überkam. Sie stopfte sich ein dickes Stück von der Melone in den Mund, einfach so, dass ihr der reife Saft am Kinn heruntertropfte. Normalerweise vermied sie es zu essen – sie hatte keine andere Möglichkeit gefunden, schlank zu bleiben –, aber manchmal übernahm der Hunger die Herrschaft über ihre Hände und zwang sie dazu, Dinge zu tun. Schreckliche Dinge. Sie verschlang die halbe Kantalupe in vier Bissen, schlupp, schlupp.
Auf ihrer Einladungsliste standen nach neuester Zählung vierundvierzig Zusagen. Dazu kämen die unvermeidlichen Antworten in letzter Minute sowie diejenigen, die einfach aufkreuzten, ohne sich vorher die Mühe einer Antwort zu machen. Das bedeutete, dass mindestens fünfzig Frauen mit einem Bärenhunger durch das Haus streifen und alles bis auf die spitzenverzierten Tischdecken aufessen würden. Georgia könnte auch Chips und Zwiebeldip aus dem Laden anbieten, und sie würden alles verspeisen, ohne ein Wort zu sagen, jedenfalls nicht in ihrer Anwesenheit, aber nachher – o Gott, die Telefondrähte würden glühen!
Im Lauf der Jahre hatte Georgia mit ihrem September-Lunch einen gewissen Standard etabliert. Es hieß, dass Ehemänner eifersüchtig waren, weil nur ihre Frauen eingeladen wurden. Georgia präsentierte die feinsten Speisen, die prachtvollsten Blumenarrangements, den raffiniertesten Tafelschmuck. Sie schrieb den Namen jedes Gastes mit makelloser Handschrift auf ein Platzkärtchen. Jeder Gast verabschiedete sich mit einem eigens für ihn gepackten Päckchen voll erlesener Leckerbissen. Jahr für Jahr legte Georgia die Latte höher, obwohl sie immer nur behauptete, ihr einziges Ziel sei es, eine Party zu geben, auf der sie selbst gern eingeladen wäre. Der Druck war ungeheuer.
Die Vorbereitungen waren der Teil, der ihr Spaß machte. Von der Party selbst bekam sie immer nur enttäuschend wenig mit.
Nachdem sie die Teller gespült und gestapelt hatte und die Küche so aussah, als wäre sie unter Kontrolle, schlüpfte sie zur Hintertür hinaus und lief den mit zerbrochenen Ziegeln gepflasterten Gartenweg entlang. Die Sonne ging unter, aber die Luft war immer noch schwül und heiß, und Insekten schwirrten umher. Ein Blauhäher schlug schrill Alarm.
Wenn sie jetzt keine Pause machte, dachte sie, hätte sie gerade noch Zeit, das Apartment zu putzen, bevor sie Brother fuhr. Obwohl man annehmen sollte, dass er es auch ohne die Hilfe seiner Schwester schaffte, durch eine so kleine Stadt wie Six Points zu gelangen.
Die großen Häuser in der Magnolia Street verfügten alle über diese Nebengebäude; manche nannten sie »Dependance«, andere sagten »Sklavenquartier«, was historisch zutreffender war. Die Bottoms hatten das Erdgeschoss ihres Gartenhauses immer als »Garage« bezeichnet, obwohl es als Stall gebaut und nie als Garage benutzt worden war. Im oberen Stock befand sich das »Apartment«, aber seit den Tagen der Sklaverei hatte dort niemand mehr gewohnt.
Die beiden Torbogen der Garage waren groß genug für Pferd und Kutsche, aber heutzutage diente sie als Waschküche und Lagerraum für Croquetsets und zerbrochene Lampen.
Georgia schnappte sich Mopp und Eimer und stieg die Treppe hinauf. Oben verhinderte eine eiserne Pforte, dass man über den Treppenabsatz hinausblicken konnte. Wenn man hindurchgegangen war, konnte man in das langgestreckte Apartment mit der hohen Decke hineinschauen, und man sah das Vier-Pfosten-Bett, den grünsamtenen Sessel, die schlanke, hohe Kommode mit den sieben Schubladen. In den zwanziger Jahren war ein Bad eingebaut worden, aber davon abgesehen sah der Raum nicht anders aus als vor hundert Jahren. Der Kamin verfiel allmählich; jeden Morgen lag orangefarbener Ziegelstaub davor auf dem Boden verstreut, und der Fußboden lief von allen Seiten abschüssig auf den Kamin zu. Im Laufe der Zeit versank der schwere Kamin in der weichen Erde und zog den Rest des Gebäudes mit sich in die Tiefe.
An der Vorderseite des Gebäudes gab es einen Balkon mit einem eleganten schmiedeeisernen Geländer. Alles, was in dem Apartment vor sich ging, war hinter zwei Gleditschien verborgen, deren Laub dicht und dornig genug war, um zu verhindern, dass jemand hinaufkletterte oder hineinschaute.
Im Apartment roch es muffig. Himmel, hilf – der alte Mief von Eugene Hendrix. Georgia riss die Balkontür auf, zog die Bezüge vom Bett, trug sie nach unten und stopfte sie in die Waschmaschine. Dann ging sie wieder hinauf, bezog das Bett frisch und begann mit einer radikalen Putzaktion von einem Ende des Zimmers zum anderen. Sie saugte die Teppiche, hängte sie über das Balkongeländer und klopfte sie mit dem Besen aus. Sie fegte den abschüssigen Dielenboden und wischte ihn zweimal.
Sie sammelte Eugenes Hinterlassenschaften ein und packte sie in eine Tüte aus Hull’s Market: die Seidenshorts, eine Schachtel Camel und ein Feuerzeug, den glänzend blauen Polyesterhausmantel, den er zu Anfang ihrer Affäre hereingeschmuggelt hatte, als er sich für eine Art Hugh Hefner gehalten hatte. Zwei schwarze Kerzen. Ein Paperback mit dem Titel Der imaginäre Christ, das sie auf seinen Vorschlag hin zu lesen versucht hatte. Eine leere Gallo-Blanc-de-Blancs-Flasche (die Frommen brauchten immer Alkohol, um den Motor in Gang zu bringen) und eine zerknüllte Tüte Funyuns. Seine Lieblingschips erinnerten sie daran, seine Zahnbürste und sein Mundwasser vom Waschbecken im Bad zu entfernen. Und die Schachtel Magnum XL-Kondome.
Besonders diesen Aspekt von Eugene würde sie vermissen.
Sie angelte den kleinen Schlüssel aus seinem Versteck an der Rückseite der hohen Kommode und schob ihn in den genialen Schließmechanismus, der alle sieben Schubladen auf einmal öffnete. Eine Schublade für jeden Wochentag, und Eugene hatte die unterste, die Samstagsschublade. Sie enthielt nichts mehr außer einer weißen Sportsocke, einer Dose Fußpilzpuder und einem christlichen Traktat, einem handgroßen Comicheftchen mit dem Titel »Das war dein Leben!«
Georgia blätterte darin und erinnerte sich, wie die Mädels vom Campus für Christus diese Hefte bei den Footballspielen verteilt hatten, bevor sie unter der Tribüne verschwunden waren, um es mit den Jungs zu treiben.
Sie zog das Foto des grinsenden Eugene aus dem silbernen Rahmen, stellte diesen wieder auf den Nachttisch und warf das Foto in die Hull’s-Tüte. Die Tüte trug sie in den Durchgang neben dem Haus und warf sie dort in die Mülltonne.
Zwischen den Bäumen sank die Nacht herab. Sie ging wieder nach oben und schaltete das Licht ein.
Eugene Hendrix war mit zwei Minuspunkten nach Six Points gekommen: Erstens, er war aus Nord-Alabama, also praktisch ein Yankee, und zweitens, er war als Nachfolger für Reverend Onus L. Satterfield gekommen, den geliebten Pastor der First Baptist Church von Six Points in den letzten dreiundvierzig Jahren.
Eugene hatte es geschafft, sich an seinem allerersten Sonntag dadurch einzuschmeicheln, dass er über die Frage predigte, für welche Footballmannschaft Gott wohl sein würde, für Auburn oder Alabama. Am Ende hatte er die ganze Gemeinde zufriedengestellt, indem er zu dem Schluss gekommen war, dass Gott wahrscheinlich ein Auburn-Mann sei – wie zufällig die meisten Männer in der Kirche –, während der rebellische Jesus zweifellos auf der Seite der Roten Fluten der University of Alabama stehe, nur um seinen Vater zu ärgern.
Georgia legte die Papiertücher hin und stellte den Glasreiniger beiseite. Sie lief die Treppe wieder hinunter und zur Mülltonne. Draußen war es jetzt ganz dunkel, und die Grillen zirpten. Sie zog die zerknüllte Hull’s-Tüte heraus und trug sie nach hinten in den Garten zum Grill.
Dieser Grill war von Grandpa Speeler und Onkel T. C. aus Steinen gebaut worden, die sie in Jutesäcken aus dem Flussbett hergeschleppt hatten. Georgia wühlte Eugenes Feuerzeug aus der Tüte, legte die Tüte auf den Rost und holte eine Flasche Feuerzeugbenzin aus der Garage.
Sie drückte die Flasche mit beiden Händen zusammen und lauschte genüsslich dem Zischen der herausspritzenden Flüssigkeit; dabei verbrauchte sie mehr von dem Benzin, als nötig gewesen wäre. Sie ließ das Feuerzeug aufschnappen, warf es auf die Tüte, und wuuff! – die Flamme loderte auf, höher, als sie gedacht hatte, eine Flamme wie beim Zauberer von Oz, die den ganzen Garten und die Bäume der Nachbarn beleuchtete. Georgia machte einen Satz, und etwas roch leicht verbrannt: Die hellen Härchen an ihrem Unterarm waren versengt.
Sie hob einen Stock auf und stocherte damit an der Tüte herum, bis sie sicher war, dass sie vollständig verbrennen würde. Denn kehrte sie zur Garage zurück.
»Würstchen grillen?« Brother sprang ihr aus der Dunkelheit entgegen.
Sie versuchte so zu tun, als hätte er sie nicht erschreckt. »Fass das nicht an. Ich verbrenne ein bisschen Müll.«
»Ich hab Hunger, Georgie. Grill mir ein Würstchen.«
»Sscht! Die ganze Nachbarschaft kann dich hören.«
»Fährst du mich?«
»Lass mir noch fünf Minuten Zeit, okay? Ich bin oben fast fertig.«
»Ich warte im Auto«, sagte er. »Gib mir den Schlüssel, dann kann ich Radio hören.«
Wenn sie ihm den Schlüssel gäbe, würde er mit ihrem Wagen davonfahren. »Kannst du nicht einfach im Haus warten, bis ich fertig bin?«
Brother zog im flackernden Feuerschein die Schultern hoch. »Ach komm, ich mach doch dein Auto nicht kaputt«, winselte er.
Vielleicht nicht, aber wenn sie dich anhalten und feststellen, dass sie deinen Führerschein kassiert haben, wessen Auto wird dann beschlagnahmt? Deins nicht – denn komisch, du hast keins. Dazu müsstest du einen Job haben oder wenigstens ein bisschen eigenes Geld, und dazu wird es niemals kommen.
Aber sie sagte nur: »Vergiss es.«
»Warum bist du so gemein zu mir, Dimmy?« Brother zog ein Gesicht wie ein Dämon.
Sie schüttelte den Kopf. »Geh und warte im Haus, Linda Blair.«
Er zog die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf und verschwand in der Dunkelheit des Gartens neben dem Haus.
Das war kein gutes Zeichen, dass Brother seine hinterlistigen Gewohnheiten wieder aufnahm. Mit zwölf war es sein Lieblingsspiel gewesen, sich an Georgia heranzuschleichen und sie zu erschrecken. Er hatte es nicht mehr getan, seit sie eines Abends eine Schere bei sich gehabt hatte und ihm beinahe das Auge ausgestochen hätte.
Den größten Teil seiner Highschoolzeit hatte er im Arrest verbracht. Jedes Mal, wenn die Behörden ihn in die Hände gekriegt hatten, war er in schlechterem Zustand zurückgekommen. Er war nicht besonders lange in der Schule, im Gefängnis oder beim Militär gewesen, aber alle hatten sie ihm übel mitgespielt. Als er Soldat wurde, war er ein hübscher Bengel gewesen, ein bisschen dumm und sehr durcheinander. Das war acht Jahre her – und jetzt? Sechsundzwanzig Jahre alt. Morgens sah er aus wie vierzig. Er lebte von Zigaretten, Fritos und Bier. Bier war das, was er trank, wenn er nicht »trank«.
Anfangs schienen die Meetings ihm gutzutun, aber er wurde immer wieder rückfällig. Er versäumte die Termine bei seinem Bewährungshelfer. Nach einundzwanzig Uhr durfte er das Haus nicht mehr verlassen, aber den ganzen Abend über spazierte er ein und aus und machte sich nicht einmal die Mühe, es unauffällig zu tun. Brother betrachtete den Bockmist, den er gemacht hatte, als Stoff für amüsante Anekdoten, mit denen er seine verkommenen Freunde unterhalten konnte.
Man hat keinen Einfluss darauf, wie man geboren wird, dachte Georgia oft. Aber man kann wenigstens versuchen, sich darüber zu erheben.
Sie warf die Bettwäsche in den Trockner, schaltete ihn ein und ging wieder nach oben. Warmer, blütenduftender Dampf stieg durch die Ritzen zwischen den Bodendielen herauf. Sie schüttelte das weiße Oberbett auf. Eugene hatte immer gesagt, dieses Weiß mache ihn nervös; er habe dann Angst, es mit Wein zu bekleckern oder Schlimmerem.
Sie ging zur Kommode. Die oberste Schublade: Sonntag. Sie zog das Foto des Richters aus der Wachspapierhülle und schob es in den silbernen Rahmen, in dem zuvor Eugenes Bild gewesen war. Sie nahm drei gerahmte Drucke aus der Schublade – verschiedene Ansichten von General Robert E. Lee auf seinem Pferd Traveller – und stellte sie auf das Kaminsims. Sie drapierte ein altes Spitzendeckchen über die Rückenlehne des samtbezogenen Sessels.
Sie zog die Kaminuhr auf, faltete ein leinenes Handtuch für die silberne Haarbürste und den Handspiegel seiner Mutter auseinander und breitete es auf der Kommode aus. Sein Blick wanderte immer als Erstes zu der Kommode, um sich zu vergewissern, dass die Sachen da lagen.
Georgia füllte die Lampe mit Öl und zündete sie an. Sie schloss die Balkontür und drehte die Klimaanlage auf. Sie schaltete das elektrische Licht aus und schob eine CD mit dem Soundtrack von Ken Burns’ The CivilWar in den Player. Zwei Holzscheite auf den Kaminrost, eine verzwirbelte Zeitung darunter. Daneben eine neue Schachtel Streichhölzer zum Anzünden.
Eine Drehung des Schlüssels verschloss alle sieben Schubladen. Den Schlüssel schob sie wieder in sein Versteck an der Rückseite.
Der Richter glaubte, dass es in diesem Zimmer immer so aussah. Jeder Mann glaubte das Gleiche. Keiner von ihnen ahnte, dass Georgia es jeden Tag umdekorierte, wenn sie die Bettwäsche und das Bild im Rahmen wechselte.
Jeder Mann glaubte, er sei der Einzige. Das war ein entscheidender Bestandteil ihres Arrangements. Niemals erlaubte sie sich die kleinste Nachlässigkeit in den Details. Nur indem sie die Regeln des Auseinanderhaltens strikt befolgte, konnte sie alle diese Teller auf ihren Stöcken rotieren lassen.
Das tat sie nicht nur für sich selbst. Sie tat es für Little Mama, die drei Ehemänner überlebt hatte, von denen keiner ihr auch nur einen Cent hinterlassen hatte … für den nichtsnutzigen Brother, aber vor allem für jemanden, der an jedem vierten Samstag eine bestimmte Summe bei der Western Union in der Poydras Street, New Orleans, erwartete.
Eine alte Schuld, die Georgia immer noch abzahlte.
Die Kommode hatte sieben Schubladen, eine für jeden Wochentag. Für jede Schublade gab es einen Mann, außer am Montag. Der Montag war ihr freier Abend.
Aber nachdem Reverend Samstag ausgeräumt worden war, hatte sie zwei leere Schubladen.
Diese Männer waren eigentlich nicht Georgias Liebhaber, obwohl sie ihnen erlaubte, es zu glauben. Jeder Einzelne nahm an, er trage zum Lebensunterhalt seiner Geliebten bei.
Für Georgia waren sie eher Klienten. Oder Patienten. Sie betrachtete sich selbst als eine Art Wissenschaftlerin oder Therapeutin, die nach einer unkonventionellen Methode arbeitete. Sie hatte mehr als eine Ehe in Six Points gerettet, das wusste sie. Sagten die Männer nicht, nur ihretwegen könnten sie noch bei ihren Frauen bleiben? Jeder sagte ihr das, früher oder später.
Aufpassen war die Überschrift der Lektion des heutigen Tages. Mit Entsetzen dachte sie daran, wie sie tagträumend in der Bank gesessen und sich selbst in dem Spiegel in ihrem Kopf bewundert hatte, ohne etwas von der Gefahr zu ahnen, die da heraufgezogen war. Sie hätte Brenda Hendrix auf zehn Meilen kommen sehen müssen.
Du lieber Gott, sie war am Rand einer Katastrophe entlanggeschlittert! Was wäre passiert, wenn Eugene ihren Namen ausgeplappert hätte?
Da hatten sie in ihren Kirchenbänken gesessen und dieser Predigt gelauscht. Jeder Einzelne. Sonntags der Richter. Dienstags der Präsident der First National Bank. Mittwochs der Arzt. Donnerstags der Zeitungsverleger. Freitags der Sheriff. Und natürlich der, der da predigte, der Mann Gottes: Mr. Saturday Night!