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Georgia packte das Essen in Kartons, Kühlboxen und Tupperware und trug alles ins Auto. In einem Rubbermaid-Container machte sie ein frisches Eisbett für die Lobster Scallion Shooters. Das leise Klirren der Kerzengläser klang wie bei der Kommunion in der Kirche, wenn das Tablett mit den Traubensaftgläschen herumgereicht wurde.

Als sie gerade mit der letzten Ladung zum Wagen gehen wollte, kam Brother in die Küche gewankt, verkatert und ohne Hemd. In New York und in Washington sei etwas Schlimmes passiert, erzählte sie ihm, und es sei jetzt seine Pflicht, zu Hause zu bleiben und auf Mama aufzupassen. Falls er noch Fragen habe, solle er fernsehen.

Er sah ihren Gesichtsausdruck, und ausnahmsweise widersprach er nicht.

Georgia fuhr im Kreis einmal um den Platz vor dem Gericht. Kaum ein Auto war unterwegs und kein einziger Fußgänger. Six Points wirkte stiller als am stillsten Sonntagmorgen. Es sah aus wie eine Szene aus einem Film über das Ende der Welt.

Sie fuhr über die Maple Street und am Krankenhaus vorbei zum Sycamore Pointe Senior Life Village. Das war das Altenheim Six Points mit einem neuen Schild.

Georgia hatte sich eifrig um ein freundschaftliches Verhältnis zu Sharon Overby bemüht, die das Haus führte, denn es konnte ja sein, dass sie Little Mama irgendwann schnell dort unterbringen müsste. Sharon gehörte zu den Leuten, die meist zu Georgias Lunch kamen, sich aber selten die Mühe machten, vorher auf die Einladung zu reagieren. Kaum hatte sie Georgia erblickt, fing sie an, sich zu entschuldigen. »Ach du liebe Zeit, Georgia! Ich wollte noch anrufen, aber wir hatten so viel zu tun. Die Bewohner waren alle so aufgeregt heute Morgen; das können Sie sich ja vorstellen. Wir mussten die Fernseher abschalten und ihnen die Fernbedienungen wegnehmen.«

»Deshalb bin ich nicht hier.« Georgia stellte ihren Eiscontainer ab. »Mein Auto ist bis unters Dach voll mit Essen für den Lunch. Wenn Sie jemanden haben, der mir beim Ausladen hilft, können wir allen Leuten hier bei Ihnen ein wirklich schönes Essen servieren.«

»Oh. Oh … du meine Güte, Georgia, das ist so lieb von Ihnen. Wirklich. So aufmerksam.« Sharon machte ein verlegenes Gesicht. »Und ich würde es auch gern annehmen, aber … ehrlich gesagt, wir dürfen hier keine Lebensmittel ausgeben, die nicht inspiziert worden sind. Na ja, Sie wissen doch, die Bürokratie …«

»Seien Sie nicht albern«, entgegnete Georgia. »Das Essen ist tadellos. Ich hab es selbst gemacht.«

»Oh, ich bin sicher, es ist absolut fabelhaft. Das ist es ja immer«, sagte Sharon. »Ich hab mich so sehr darauf gefreut.«

So sehr, dass du dir nicht mal die Mühe gemacht hast, auf die Einladung zu antworten?, fragte sich Georgia. »Können Sie nicht heute mal ein Auge zudrücken? Ich meine, wenn es je einen Tag gegeben hat, an dem man ein Auge zudrücken sollte …«

»Oh, Georgia, ich kann gar nicht fassen, dass Sie so gütig sind, an einem solchen Tag an unsere Bewohner zu denken. Aber es gibt Gesetzesvorschriften, und die Gesundheitsbehörde des Countys sitzt mir im Nacken … Ich darf nichts servieren, das wir nicht selbst zubereitet haben. Wir könnten sonst unsere Betriebsgenehmigung verlieren.«

»Sie würden es ja nicht servieren«, sagte Georgia. »Ich kann durch die Flure gehen und es verteilen. Als wären es Geschenke. Die Leute bringen doch dauernd essbare Geschenke mit, oder? Wäre das okay?«

Sharon strahlte, als wollte sie Ja! sagen, und sagte: »Nein, tut mir leid.«

Georgia wusste genau, dass Sharon die Chefin in diesem Laden war und deshalb gegen Vorschriften verstoßen konnte, wie es ihr gerade passte. So wurde also nichts aus ihrer guten Tat. »Fürchten Sie, jemand könnte Sie verpetzen?«, fragte sie. »Ist es das?«

»Sie würden sich wundern. Ein Bewohner sagt etwas zu einem Verwandten, und ehe man sich’s versieht, hat irgendjemand mich bei der Behörde angezeigt. Das wäre nicht das erste Mal.«

»Ich dachte nur, wo doch der nationale Notstand herrscht und so«, sagte Georgia.

Sharon setzte ein merkwürdiges, leicht schwachsinniges Grinsen auf, wie man es tut, wenn man ein Baby zum Lachen bringen will. Sie bückte sich, um das eine Ende des Eiscontainers hochzuheben. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen, den zu Ihrem Wagen zurückzutragen.«

»Nein – nein.« Georgia zog die Box am Griff zur Seite, um ihr jeden Anteil daran zu verweigern. »Ich hab verstanden! Sie sind beschäftigt. Sie haben eine Million Dinge zu erledigen. Denken Sie nicht mehr daran, ja?«

»Danke für Ihr Verständnis«, sagte Sharon. »Ich wünschte, ich könnte es annehmen. Ich rufe Sie morgen an, okay?«

Georgia lächelte. »Unbedingt«, sagte sie und war schon draußen. Die Sharon Overbys, diese hirntoten Regelsklavinnen dieser Welt, gingen ihr auf die Nerven. Jetzt kam es ihr albern vor, dass sie versucht hatte, ihr Essen zu verschenken, und in diesem Gefühl schmorte sie auf dem ganzen Weg zum Gericht.

Diesmal fragte sie oben am Eingang zum Gefängnis, bevor sie die Eisbox drei Treppen hinaufschleppte. Nein, Ma’am, sagte der Deputy, Sheriff Allred ist auf Streife, nein, Ma’am, wir können keine Lebensmittel für die Gefangenen entgegennehmen, blah, blah, blah, staatliche Vorschriften.

Georgia diskutierte nicht. Sie bedankte sich und ging zu ihrem Wagen zurück.

Niemand wollte ihre milden Gaben. Sie kutschierte Lebensmittel im Wert von fünfhundert Dollar in ihrem Wagen herum, und bald würden sie verderben. Und niemand wollte ihr erlauben, sie zu verschenken.

Sie schaltete das Radio ein. Vielleicht würde Musik sie trösten. Aber stattdessen hörte sie die gehetzten Stimmen von Nachrichtensprechern, panischen Augenzeugen. Heulende Sirenen, unbestätigte Berichte: Wie wir soeben erfahren … Ihre Hand schoss zum Radio, und sie schaltete es ab. Die Angst, die da aus den Lautsprechern flutete, konnte sie nicht ertragen.

Georgia kannte keine armen Leute, aber sie wusste, dass es in Six Points genug davon gab. Die meisten waren schwarz und wohnten auf der anderen Seite der Brücke in East Over. Sie fragte sich, wo sie sich wohl versammelten. Ein Gemeindezentrum oder so etwas besaßen sie nicht. Das war einer der Gründe, weshalb Krystal sich dafür einsetzte, sie einzugemeinden.

Wenn sie sich vorstellte, wie sie in diese heruntergekommene Gegend fuhr, sah sie eine Bande von großen schwarzen Jugendlichen vor sich, die bedrohlich auf ihr Auto zukamen. Vielleicht würde es zu einem Handgemenge oder einer Art Panik kommen, wenn sie erkannten, dass die weiße Lady Hummer und andere Delikatessen zu verschenken hatte.

Und war es nicht auch ein bisschen herablassend, zu irgendwelchen Leuten hinauszufahren und dort Canapés zu verteilen wie eine weiße Weihnachtselfe? Sharon Overby hatte dafür gesorgt, dass sie sich wie eine Idiotin vorkam. Sie wollte dieses Gefühl nicht noch einmal erleben.

Sie kutschierte dreimal um den Platz und überlegte, was sie tun solle. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass arme Leute genauso essen mussten wie alle anderen. In Six Points gab es nur eine Möglichkeit, Lebensmittel zu kaufen: Hull’s Market. Wer hungrig war, würde logischerweise dort zu finden sein.

Es kam ihr so wichtig, so dringlich vor, jemandem dieses Essen zu schenken. Vielleicht lag es an der Vorstellung, dass Leute so viel Angst davor hatten zu verbrennen, dass sie lieber aus großer Höhe in den sicheren Tod sprangen. An einem Tag, an dem so etwas passiert, dachte Georgia, habe ich das irrationale Bedürfnis, gut zu jemandem zu sein, den ich nicht kenne. Jemandem zu helfen.

Sie parkte vor der Eismaschine bei Hull’s Market. Der Light-Pilot von gestern hing am Zeitungsständer:

HAWKS BESIEGEN ELBA 27:3

Alles war jetzt anders, hatte Krystal gesagt. Beim Anblick der unschuldigen Schlagzeile von gestern, als die wichtigste Nachricht in der Stadt der Footballsieg der Six Points Highschool gewesen war, spürte sie eine stechende Sehnsucht in der Brust. Diese Welt war nicht mehr da, sie war verschwunden. Vielleicht für immer. So süß und unschuldig hat sie gar nicht ausgesehen, dachte sie – bis der Teufel uns die Zunge herausstreckte und uns auslachte.

Georgia stieg aus. Wie unglaublich blau der Himmel heute war. Ein unwirkliches Polaroidblau, wie man es nur an ganz klaren Herbsttagen zu sehen bekam. Ein schöner Tag für eine schreckliche Sache. Damit wären alle schönen Tage für eine Weile verdorben. Besudelt durch die Assoziation. Georgia fragte sich, ob die Leute, die die Flugzeuge in die Gebäude gesteuert hatten, wohl auch daran gedacht hatten, ob das prachtvolle Wetter ihnen den Triumph noch süßer machte, während sie in tausend Fetzen zerrissen wurden.

Da erschien Madeline Roudy, Kinderärztin in der County-Sozialklinik, die Frau mit dem freundlichsten Gesicht der Welt, selbst heute. In ihrer frischen weißen Bluse und dem Tennisrock strahlte sie den ungezwungenen Glanz einer jungen Diahann Carroll oder einer Leslie Uggams aus. Wunderschöne braune Haut mit einem Schuss Sahne.

Georgias Miene hellte sich auf. »Oh, Madeline«, sagte sie. »Genau die Person, die ich gesucht habe.«

»Hallo«, sagte Madeline.

Im ersten Moment dachte Georgia, Madeline habe sie nicht erkannt. Das war praktisch unmöglich; jeder in Six Points kannte Georgia. »Ich bin Georgia«, sagte sie sicherheitshalber. »Georgia Bottoms?«

»Ach ja, Georgia, natürlich, entschuldige«, sagte Madeline Roudy. »Ich bin heute ein bisschen durcheinander.«

Es gab eigentlich keinen Grund, weshalb Madeline sie erkennen sollte. Sie waren ja schließlich nur zusammen zur Schule gegangen und seitdem miteinander befreundet. Aber vielleicht hatte Georgia sich diese Freundschaft nur eingebildet. Unbeirrt machte sie weiter.

»Jedenfalls, Madeline – zu meiner Party ist niemand gekommen, ich hab das ganze Essen im Auto, und ich wünschte, du würdest mir ein bisschen davon abnehmen. Ich schaffe es anscheinend nicht, es zu verschenken.« Sie zog ein komisches Gesicht, ein Gesicht voller Ratlosigkeit wie in Hoppla Lucy, um zu zeigen, in was für einem Dilemma sie steckte, und um Madelines Hilfsbereitschaft zu wecken.

Madeline rückte ihre übergroße Jackie-O-Sonnenbrille zurecht und starrte Georgia an wie eine verrückte Alte mit zu vielen Katzen. »Wie bitte?«, fragte sie mit so lauter Stimme, dass das Drahtgeflecht der Einkaufswagen tatsächlich anfing zu vibrieren.

»Stell dir vor, du lädst zu einem Lunch ein und kein Mensch kommt«, erklärte Georgia. »Ich habe Unmengen von wirklich gutem Essen im Auto – Hummer, feine Salate, kleine Sandwiches, alles verzehrfertig. Wenn du so nett sein würdest, ein bisschen davon mit nach Hause zu nehmen …? Ich würde mich freuen, wenn ich wüsste, dass nicht alles verdirbt.«

»Behalte es doch, und iss es selber«, schlug Madeline Roudy vor.

»O Gott, so viel könnte ich in einem ganzen Jahr nicht essen«, entgegnete Georgia.

Dr. Roudy seufzte ungeduldig. »Na, vielen Dank, aber ich kann mir selbst etwas zu essen kaufen.« Ihr Blick huschte zum Eingang, als könnte sie es nicht erwarten, in den Supermarkt zu kommen.

Plötzlich begriff Georgia, was sie falsch gemacht hatte. »Oh, Madeline, jetzt verstehe ich. Natürlich hätte ich dich zum Lunch einladen sollen, und ich hätte es ja auch getan, aber du kennst meine Mutter nicht, du weißt nicht, wie sie … politisch steht.« Georgia war entschlossen, diese Sache zu klären. Sie hatte Madeline Roudy immer gemocht, und sie hatte sie immer als Freundin betrachtet, zumindest als potenzielle Freundin.

Madeline straffte die Schultern. »Du glaubst, ich wollte gern zu deinem Weiße-Damen-Lunch kommen? Das glaubst du?«

»Du meine Güte, nein! Madeline, du verstehst das alles falsch. So habe ich das nicht gemeint.« Lieber Gott, war sie wirklich so empfindlich? Konnte Georgia ihr nicht mal eine Kleinigkeit zum Essen schenken, ohne dass sie ein Rassenproblem hineininterpretierte? Kein Wunder, dass manche Leute den Versuch, mit diesen Leuten zurechtzukommen, einfach aufgaben. Jetzt sah man ja, wohin es führte!

»Ich bin also nicht gut genug für eine Einladung zu deiner Party«, sagte Madeline, »aber jetzt willst du mir das Essen aus deinem Kofferraum schenken, weil niemand gekommen ist? Für wie erbärmlich hältst du mich? Mein Gott.«

»Moment mal«, sagte Georgia. »Du brauchst nicht gleich eingeschnappt zu sein. Das Essen ist gut; ich hab’s selbst gemacht. Wenn du es nicht haben willst, sag einfach nein.«

»Du hast dir einen fabelhaften Tag ausgesucht, um hier draußen herumzustehen und die große Dame zu spielen«, sagte Madeline Roudy. »Warum nimmst du nicht deinen verdammten Hummer und fährst nach Hause?«

Georgia war es nicht gewohnt, am helllichten Tag attackiert zu werden, und sie suchte nach einer passenden Antwort. »Das hier ist ein freies Land«, sagte sie schließlich. »Ich brauche deine Ratschläge nicht.«

»Und ich brauche deinen Hummer noch weniger«, antwortete Madeline mit ihrer Megafonstimme.

»Na schön, dann erzähl’s doch der ganzen Welt«, sagte Georgia hochnäsig wie eine Viertklässlerin.

Madeline warf den Kopf in den Nacken und marschierte weiter. Das elektrische Auge ließ die Tür aufgleiten. Ein Schwall kühler Luft wehte heraus, als sie hindurchging.

Georgias Gesicht brannte wie nach einer Ohrfeige.

Jetzt kamen noch zwei Farbige aus der anderen Richtung  – noch zwei Schwarze, korrigierte sie sich, noch zwei afroamerikanische Personen, vielleicht arm, vielleicht auch nur schlampig gekleidet, weil es ihrem Stil entsprach. Aber Gott bewahre mich davor, dass ich noch einmal versuche, mich irgendjemandem gegenüber gutnachbarlich zu zeigen!

Oder wohltätig!

Georgia ließ diese Schwarzen einfach vorbeigehen, vorbei an ihr und dem wunderbaren Essen in ihrem Auto, das für sie und alle ihre Freunde eine ganze Woche lang gereicht hätte.

Sie stieg wieder ein, drehte die Klimaanlage auf MAX und verließ den Parkplatz von Hull’s Market.

Was sie brauchte, war eine Freundin. Was sie jetzt mehr als alles andere brauchte, war die tröstende Stimme einer Freundin, die ihr sagte, dass sie im Recht war – oder wenigstens nicht allzu sehr im Unrecht.

Sie fuhr um den Platz herum. Krystals Parkplatz vor der City Hall war leer. Georgia hielt trotzdem an und ging hinein.

Im Radio dröhnten die Nachrichten. Rhonda telefonierte und blickte kaum auf. »Mm-hmmm, mm-hmmm«, sagte sie und machte sich Notizen auf einem Block. Endlich legte sie auf. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wo ist Krystal?«

»Sie hat versucht, Sie anzurufen, aber Ihre Mutter sagte, Sie wären weg.«

Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen, dachte Georgia. In Krystals Abwesenheit strengte Rhonda sich gar nicht erst an, ihre Feindseligkeit zu verbergen.

Sie versuchte zu lächeln. »Sie hat gesagt, Sie brauchen hier vielleicht Hilfe am Telefon. Hier bin ich. Geben Sie mir Arbeit.«

»Ich wollte Ihre Hilfe nicht. Das war sie«, erklärte Rhonda. »Jetzt ist sie drüben beim Wasserturm und steht Wache.«

»Sie steht Wache?«

»Der Sheriff und seine Leute sind oben beim Damm. Sie hatten niemanden, der den Wasserturm bewacht. Also hat Krystal sich ein Gewehr genommen und ist hingefahren.«

»Krystal hat ein Gewehr?«

Rhonda verdrehte die Augen. »Georgia, wir haben hier heute wirklich viel zu tun.«

Georgia straffte sich. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich werde sie schon finden.«

Sie marschierte hinaus und nahm sich vor, Krystal zu erzählen, wie Rhonda sich aufführte, wenn sie nicht da war. Sie hatte Rhonda jetzt lange genug gedeckt. Ein Wort von ihr, und Krystal würde sie auf der Stelle entlassen.

Gott, was für ein Tag! Der Himmel war so blau, dass einem die Augen wehtaten.

Aber Rhonda war aufgewühlt wegen der Nachrichten, und das hatte sie an Georgia ausgelassen. Vielleicht war es doch ein bisschen zu extrem, deshalb gleich daran zu denken, sie zu feuern, nur weil sie sich schnippisch benommen hatte.

Georgia musste nur mit Krystal sprechen.

Der Innenraum ihres Civic war erfüllt von dem köstlichen Duft, der aus den Essensbehältern aufstieg. Wenn sie an die vielen Stunden dachte, die sie mit Schnippeln und Hacken und Rühren zugebracht hatte, hätte sie am liebsten geheult. Sie zog den Schalthebel in die Fahrposition und fuhr am Kwik-K Mart vorbei zu dem kleinen Stadtpark auf der Höhe.

Krystals waldgrüner Subaru-Kombi stand am Randstein. Jeder kannte den verblassten Gore/Lieberman-Aufkleber und das persönliche Nummernschild der Bürgermeisterin: GRRL MYR.

Georgia schlug ihre Wagentür so laut zu, dass man es wahrscheinlich noch in Montgomery hören konnte. Es war ganz still; sogar die Vögel schienen darauf zu warten, dass jemand etwas sagte.

Auf leisen Sohlen ging Georgia über den Rasen bergauf, aber dann wurde ihr klar, dass das vielleicht keine so gute Idee war, wenn Krystal bewaffnet dort oben Wache hielt.

»Hey, Krystal!«, schrie sie. »Ich bin’s! Nicht schießen, ich komme jetzt rauf!« Mit ihrem lauten Juhuu machte sie ein solches Getöse, dass Krystal ihr schließlich zurief, sie solle damit aufhören.

Georgia war schweißgebadet und hatte sich die Strumpfhose an einem Brombeerstrauch zerrissen, als sie sich durch das letzte steile Stückchen Wald kämpfte. Sie brach aus dem Gebüsch hervor und sah Krystal auf einem Campingstuhl sitzen, mit einem Fuß auf der Betonröhre am vorderen Bein des großen, silbrigen Wasserturms. Sie trug eins ihrer wollenen Bürgermeisterinkostüme, ein kastanienbraunes Teil, das in dieser Hitze unerträglich sein musste. Die Jacke hatte sie an einen abgesägten Kiefernast gehängt, um Luft an die halbrunden Schwitzflecke unter den Ärmeln ihrer Bluse zu lassen. In ihrer Armbeuge lag eine doppelläufige Schrotflinte, die größer aussah als sie. »Verdammt, George, willst du sämtliche Babys aus ihrem Mittagsschlaf wecken?«

»Ich wollte nur nicht, dass du auf mich schießt«, antwortete Georgia. »Ich wusste nicht, dass du überhaupt schießen kannst.«

»Ich kann, wenn ich muss«, sagte Krystal. »Hast du dir keinen Stuhl mitgebracht? Wo willst du denn sitzen?«

»Niemand hat mir gesagt, ich soll einen Stuhl mitbringen.« Der Name »Rhonda« lag ihr auf der Zunge, und es machte ihr Mühe, ihn nicht auszusprechen.

»Na, meinen Stuhl kriegst du nicht.«

»Ich kann stehen«, meinte Georgia. »Wie lange willst du denn hier oben bleiben?«

»Solange es nötig ist«, sagte Krystal. »Bis Sheriff Allred Ablösung schickt.« Aus dem kleinen Radio zu ihren Füßen kamen leise die Nachrichten, und daneben krächzte ein Polizei-Walkie-Talkie.

»Hast du vielleicht Hunger?«, fragte Georgia.

»Man könnte eher sagen, ich bin halb verhungert«, sagte Krystal. »Ich hab heute Morgen nicht mal eine Tasse Kaffee gekriegt. Ging ja alles so schnell. Und dann ging es immer weiter.«

»Das lässt sich ändern. Du wartest hier.«

Auf dem Weg nach unten stieß Georgia leise Flüche gegen denjenigen aus, der Pumps mit mittelhohem Absatz erfunden hatte. Am Wagen tauschte sie die Schuhe gegen ein paar alte Turnschuhe, die seit ihrem Aerobic-Kurs im Kofferraum lagen.

Gut, dass sie sich für die teuren Pappteller entschieden hatte. Billigere wären unter den Mengen, die sie daraufpackte, einfach eingeknickt. In die Mitte klemmte sie zwei Gläschen mit Lobster Scallion Shooters, die noch kalt aus dem Eiscontainer kamen.

Sie stopfte Plastikgeschirr und Servietten in ihre Handtasche und balancierte unbeholfen einen Servierteller auf jeder Hand, als sie den Berg hinaufging. Es machte sie zwar nicht zu einer Mutter Teresa, aber sie war doch froh, dass ihr Essen von jemandem, den sie mochte, verzehrt und gewürdigt werden würde.

»Mein Gott«, sagte Krystal, als sie die vollbeladenen Teller erblickte. »Ich dachte, du kommst mit einer Tüte Chips. Was ist das hier – das Gourmet Magazine

Georgia berichtete, wie sie in ganz Six Points herumgegondelt war und versucht hatte, ihr Essen zu verschenken. Den Teil mit der gehässigen Rhonda ließ sie weg, aber ansonsten schilderte sie alles so objektiv wie möglich. Sie erzählte von Sharon Overby im Altenheim und von Madeline Roudy bei Hull’s Market.

Krystal lehnte ihre Schrotflinte an den Zementsockel und machte sich über das Fresh-Mountain-Apfelgelee-Kompott her. Sie aßen im Stehen und benutzten den Stuhl als Picknicktisch. »Also, das schmeckt wirklich gut«, sagte Krystal. »Wahrscheinlich hat Madeline nicht verstanden, was du wolltest. Vielleicht dachte sie, das wäre ein Almosen oder so was.«

»Ich habe ihr ausdrücklich gesagt, dass es das nicht ist. Ich habe ihr alles erklärt.«

»Aber du hattest sie nicht zu deinem Lunch eingeladen, und deshalb sah es vielleicht so aus – für sie, meine ich. Kannst du dir das nicht vorstellen?«

»Oh, jetzt schlägst du dich auf ihre Seite?«, rief Georgia. »Tu das bitte nicht. Das kann ich nicht ausstehen.«

»Hey, du hast mich nach meiner ehrlichen Meinung gefragt«, sagte Krystal. »Wenn du Bullshit hören willst, rede mit jemand anderem.«

Auch wieder wahr. »Was hätte ich denn sagen sollen?«

»George, du bist aufgebracht. Ruf sie morgen an, und erklär ihr, du hättest es nicht so gemeint.«

»Ich soll mich bei ihr entschuldigen?« Georgia schüttelte den Kopf. »Ich war nicht diejenige, die sich so unglaublich unhöflich benommen hat.«

»Vielleicht war sie auch aufgebracht. Wir sind heute alle aufgebracht, Georgia. Heute ist ein schlimmer Tag.«

»Ach, hör auf!«, rief Georgia. »Das ist mir egal. Ich hab die Nase jetzt schon gestrichen voll davon. Es ist niemandem passiert, den wir kennen. Es hat nichts mit uns zu tun! Aber jetzt ist alles versaut, und ich schwöre dir, ich könnte einfach – Gott verdammt noch mal!« Eine Woge der Frustration brandete über sie hinweg, und sie schleuderte ihren Teller mit aller Kraft ins Gebüsch, wo das Essen umherflog. Die Votivkerzengläser landeten im Kies und verspritzten Hummer und rote Sauce.

Krystal stellte ihren Teller so ab, dass Georgia ihn nicht erreichen konnte, drehte sich zu ihr um und breitete die Arme aus. »Komm, lass dich mal drücken.«

»Ich will nicht gedrückt werden!«

»Doch, das will jeder.«

»Aber ich nicht.« Georgia wollte nicht getröstet werden. Sie wollte schlechte Laune haben.

»Okay.« Krystal drehte die Handflächen nach oben. »Dann eben nicht. Geh und heb deinen verdammten Teller auf. Es ist verboten, Müll herumliegen zu lassen.«

»Ach, halt doch den Mund!« Georgia brach in Tränen aus.

Krystal aß weiter und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. »Ich wollte dich nur in den Arm nehmen. Meine Güte.«

»Ich weiß«, sagte Georgia. »Ich bin dir ja auch dankbar. Wirklich.«

»Wieso heulst du dann?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Georgia. »Lass mich einfach. Ich bin fast fertig.«

»Okay«, sagte Krystal. »Ich schwöre bei Gott, du bist völlig verkorkst.«