13

An erster Stelle war Ted Horn Arzt. Hätte man’s gedacht? Denn an zweiter Stelle war Ted immer schon ein geiler Bock gewesen, so sehr, dass Georgias Spitzname für ihn »Ol’ Horndog« lautete. Er hatte es gern, wenn sie diesen Spitznamen mittwochs abends in gewissen, entscheidenden Augenblicken benutzte. Dazu kommt, dass Ted an diesem heißen Mittwoch im Juli mehr als die gewohnten ein, zwei Gläser Wein zu sich genommen hatte. Er und die Missus hatten schon vorher beim Early Bird Special im Hopalong Steak House zugelangt, wo Getränke selbst mitzubringen waren. Als er dann bei Georgia aufkreuzte, bestand er darauf, dass sie einen Krug von ihrem berühmten Cajun Martini zusammenmixte. Der versetzte ihn in eine festlich ausgelassene Stimmung und sorgte außerdem – in Kombination mit einem selbstverordneten Pharmazeutikum – zur Erweiterung seiner Blutgefäße.

Ted liebte Martinis und schwarzes Leder. Er liebte die Haube mit dem Reißverschluss. Er liebte die seidenen Taschentücher, mit denen Georgia ihn an das Vier-Pfosten-Bett fesselte. Von all ihren Klienten hatte Ted ganz sicher die exotischsten Vorlieben. Georgia freute sich auf den Mittwoch, auf ein bisschen Abwechslung in der Wochenmitte, wenn die Energie naturgemäß zum Nachlassen neigt.

Weil sie ihr Vorgehen an die bevorzugten lässlichen Sünden eines jeden Mannes anpassen musste, wurde das Spiel nicht langweilig. Natürlich war es lästig, die zahlreichen Petticoats zu waschen, zu stärken und zu bügeln, die sie brauchte, um sich und Richter Barnett einmal in der Woche in Scarlett und Rhett zu verwandeln – von dem Outfit der französischen Zofe, das sie für Jimmy Lee Newton trug, ganz zu schweigen –, aber der ganze Aufwand machte sich bezahlt, denn sie hatte seit Jahren zufriedene Kunden. Jimmy Lee sah sich gern als kultivierten Gentleman, der mit seinem Hausmädchen über die Stränge schlug, und manchmal legte er sich dabei einen französischen Akzent zu, der zwischen Maurice Chevalier und dem Cartoon-Stinktier Pepé le Pew changierte.

Lon Chapman hatte es gern, wenn sie sich als Mädel vom Land anzog, mit Cowboystiefeln, abgeschnittenen, ausgefransten Jeans und einem hautengen, kurzen weißen Daisy-Duke-T-Shirt. Georgia bestellte sich diese T-Shirts im Dutzend, damit Lon sie ihr nach Belieben vom Leib reißen konnte.

Dann war da Sheriff Bill, der sein Freitagabend-Techtelmechtel am liebsten so nichtssagend und fade wie einen Sandkuchen aus dem Supermarkt wollte. An einem Abend der Woche konnte Georgia so das Eheleben kennenlernen, wie sie es sich vorstellte: Licht aus, Radio an, aber leise, und sonst keine Geräusche außer seinem gedämpften Grunzen. Sie musste immer leise sein, als wären da Kinder nebenan. Sheriff Bill lag immer oben, zog niemals sein Unterhemd mit dem V-Ausschnitt aus, küsste sie trocken, wenn er fertig war, stieg von ihr herunter und zog sich sofort die Hose an.

Sheriff Bill war unentbehrlich für ihren Businessplan; sonst hätte sie ihn schon vor langer Zeit aus dem Programm geworfen. Ted Horn machte viel mehr Spaß: Mr. Lass-dir-Zeit, Mr. Fessle-und-bestrafe-mich, der geile alte Mr. Ol’ Horndog persönlich. Und Ted ermunterte sie, fantasievoll zu sein. Sie konnte diverse Gerätschaften benutzen – einen Federwisch, einen Spatel, eine alte Silbergabel mit abgerundeten Zinken. Sie widmete sich dem Problem wie eine Wissenschaftlerin in einem Labor: mit einem Slinky, einer Eieruhr, verschiedenen batteriegetriebenen Geräten aus dem Supermarkt für Ehehygiene in Mobile …

Ted war über alle Maßen sensibel. Und er ließ sich gern überraschen. Aber wenn sie ihn an allen vieren an das Bett gefesselt und den Reißverschluss an seiner Haube geschlossen hatte, war es nicht schwer, ihn zu überraschen.

Das Anstrengende daran war natürlich, dass Georgia die ganze Arbeit übernehmen musste. Ted lag einfach da, warf sich hin und her und stöhnte zur Musik von Def Leppard, Van Halen oder einer anderen Langhaarband, die sie für ihn auflegte. Es gab eine Zeit, da gingen sie übermütig mit Kerzenwachs und Flitter um, und monatelang konnte man an ganz unerwarteten Stellen plötzlich ein zartes Glitzern entdecken.

Irgendwann wollte Ted dann das Spielzeug wegwerfen und zur Sache kommen – aber nicht sofort. Er hatte es gern, wenn Georgia ihn bis zum Rand führte und ihn dann dort in der Schwebe hielt …

… und hielt …

… und hielt …

Sie persönlich, dachte Georgia, würde ein solches Maß an Anspannung in den Wahnsinn treiben. Aber der Mittwochabend war Teds Abend, und Ted liebte die Anspannung. Manchmal wurde er so rot im Gesicht, dass es sie beunruhigte, aber dann ratterte er einen langen lateinischen Namen für den zugrunde liegende medizinischen Befund herunter und sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen.

An diesem Abend war er von all dem Wein und den Martinis noch röter und stimmgewaltiger als sonst. Auch Doppelfenster hatten ihre Grenzen. Georgia drehte Bon Jovi lauter: »Livin’ On A Prayer«.

Ted war einer von diesen Südstaaten-Heteromännern, die irgendwie schwul wirken, wenn man sie kennenlernt – ein Muttersohn mit leicht femininer Redeweise und einem Hang zum dramatischen Ausdruck. In der Stadt wurde über ihn gemunkelt, aber nach dem Motto »Nicht viel fragen, nicht viel sagen« war man der Auffassung, wenn er »so einer« war, musste er auch ein guter Arzt sein; er behielt sein Privatleben für sich, und was immer er tat, er tat es nicht in der Stadt. Mehr verlangte Six Points von solchen Leuten nicht. Du kannst tun, was du willst, aber tu’s nicht vor meiner Nase. Ted hatte nie geheiratet, und man sah ihn nie auf einem Date, und Georgia wusste als Einzige in der Stadt, dass Ted Horn hinter verschlossenen Türen ein leidenschaftlicher Hetero war.

Im Augenblick ließ seine Stimme die Fensterscheiben klirren, und Georgia stopfte ihm ein Taschentuch in den Mund. Das fand er lustig, und er fing an zu kichern. Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange und sagte, er solle leise sein. Er lachte lauter.

Ted war von Natur aus am ganzen Leib rötlich, und jede Stelle seines Körpers lief rot an, wenn sie mit dem Finger darauf drückte. Jeder Spurensicherer hätte ihre Fingerabdrücke von dieser Haut abnehmen können, blass und durchscheinend wie eine Scheibe kalter Truthahnbraten.

Jetzt lachte er so hemmungslos, dass sie befürchtete, er könne an dem Taschentuch ersticken. Sie zog es ihm aus dem Mund.

»Ahrr«! Jetzt war er ein Seeräuber. »Du ungezogene, missratene Dirne!«

»Oh, jetzt fang bloß nicht wieder an! Sieh dir das an – steht immer noch hoch! Du bist ein Schlimmer, Ted, ein ganz Schlimmer!«

»Ja, ich weiß, es wird allmählich – was war das jetzt? Dreimal heute Abend?«

»Viermal«, verbesserte sie ihn.

Er lachte. »Aber wer zählt da schon mit?«

»Ich. Es war viermal.« Sie verschränkte die Arme. »Das reicht. Sag diesem Ding, es soll sich hinlegen.«

»Darauf hab ich anscheinend wenig Einfluss.« Ted hob seinen Kopf, um nachzuschauen. Sein Bewegungsspielraum war durch Haube und Kette eingeschränkt.

Georgia seufzte. »Tut mir leid, Horndog. Ich kann nicht fassen, dass ich dich mit ’nem Ständer nach Hause schicke, aber mir gehen die Tricks aus.« Sie öffnete den Reißverschluss und zog ihm die Haube vom Kopf.

Blinzelnd schaute er zu ihr auf, und sein verschwitztes rotes Haar klebte am Schädel. »Ich mache das nicht absichtlich, ich schwöre es.«

»Das glaube ich dir«, sagte sie. »Meinst du … ich mag es gar nicht aussprechen.«

»Was?«

»Na, du bist der Arzt. Diese Vier-Stunden-Sache. Du weißt schon.«

»Nie im Leben waren das vier Stunden.«

Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr in ihrer diskreten Nische hinter der Karaffe. »Aber fast«, sagte sie. »Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man sich amüsiert.«

Ted wollte sich aufsetzen, aber sie piekste ihm die Gabel in den Bauch, und er fiel wieder zurück.

Sein Problem war nicht sehr dick, aber lang und dünn und leuchtend rot. Pochend wippte es wie eine Boje in einem blassroten Meer.

»Denk an Baseball«, sagte sie.

»Aus irgendeinem Grund klappt das bei mir nie.«

»Und wenn du aufstehst?«, schlug sie vor. »Damit das Blut in deine Füße fließen kann?«

Darüber mussten sie beide lachen, aber nicht lange. Allmählich wurde klar, dass Teds Zustand nichts mit dem zu tun hatte, was sich in seinem Kopf abspielte. Das Ding stand aus eigenem Antrieb stolz und senkrecht. Teds Gesichtsausdruck veränderte sich; aus halbbetrunkener Heiterkeit wurde Nachdenklichkeit und schließlich Verwunderung, die sich in echte Besorgnis verwandelte.

Er ging mit aufdringlichem Glied ins Bad, blieb eine ganze Weile dort und tat, was immer Männer tun, um das Ding herunterzubringen. Aber als er wieder herauskam, befand es sich immer noch im selben Zustand.

Georgia zog die Schärpe um ihren Hausmantel zusammen. »Soll ich mal den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen suchen? Er liegt bestimmt irgendwo hier rum.«

»Den brauche ich nicht. Ich verschreibe das Zeug jeden Tag«, sagte Ted. »Du ahnst ja nicht, wie viele von deinen Freunden und Nachbarn …« Er führte den Gedanken nicht zu Ende.

»Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte sie.

»Nein. Das ist eine ziemlich seltene Erscheinung. Was immer in der Werbung behauptet wird.«

»Und wie behandelt man das?«

Er verzog schmerzlich das Gesicht. »Das willst du nicht wissen. Verflucht – ich weiß es, und ich will es nicht wissen.«

»So schlimm?«

»Sämtliche Optionen beinhalten entweder eine Nadel oder ein Skalpell. Man muss das Blut ablassen; darum geht’s.«

»Lieber Gott.« Georgia presste die Hände zusammen.

Er drehte sich auf die Seite, und der Mast klopfte auf die Matratze. »Wie spät ist es?«

»Zehn vor zwölf.«

»O Gott, das sind mehr als vier Stunden. Ich hab die Tablette kurz nach sieben genommen, bevor ich aus dem Haus ging.«

Es folgten angstvolle Minuten voller Überlegungen, während Ted darauf wartete, dass die Sache sich legte. Er beschrieb die dauerhaften Schädigungen, zu denen es kommen konnte, wenn man diesen Zustand ignorierte. Man konnte Gefäße verletzen, die winzigen Ventile zerstören, mit denen die Hydraulik gesteuert wurde, sodass man unfähig wurde … Und wenn es jemanden gab, dem diese Fähigkeit lieb und teuer war, dann Ted.

Georgia ging ins Bad und holte Aspirin. Ted zerdrückte zwei Tabletten und legte sie unter die Zunge. Er glaubte nicht, dass es wirken würde. Das Problem war ja nicht, dass das Blut verdünnt werden musste, sondern dass die kleinen Ventilchen klemmten und das Blut dort einsperrten, wo es nicht mehr benötigt wurde.

Ted überlegte, ob er in seine Praxis fahren solle. Er hatte alle Instrumente, die er brauchte, um die Operation selbst durchzuführen. Aber er befürchtete, selbst wenn er bei der Betäubung noch so geschickt verfuhr, könnte der Schmerz so stark sein, dass er mit einem ultrascharfen Skalpell in der Hand in Ohnmacht fiele und dabei irreparablen Schaden anrichtete.

Georgia erbot sich, ihm zur Seite zu stehen und seine Hand zu halten, aber Ted meinte, er glaube nicht, dass er es über sich bringen könne.

Dann wollte er im Krankenhaus anrufen und sich erkundigen, wer in der Notaufnahme Nachtdienst hatte. Aber im Apartment gab es kein Telefon, und Georgia konnte ihn nicht gut schwanzwedelnd ins Haus gehen lassen. Also zog sie sich an und ging selbst.

Am Telefon nannte sie ihren Namen nicht, sondern fragte nur nach Dr. Horn. Die Schwester sagte, Dr. Horn habe heute keinen Dienst, aber Dr. Have-a-Cherry sei da.

Nimm eine Kirsche?

»Wie heißt der Arzt?«, fragte Georgia.

»Have-a-Cherry«, wiederholte die Schwester.

»Ist das ein Name?«

»Besser kann ich es nicht aussprechen«, antwortete die Schwester. Georgia erkannte Susan DeShields Stimme. Sie hatte in der Notaufnahme Nachtdienst gehabt, als Daddy starb. »Hey, Susan!«, hätte sie beinahe gesagt.

»Möchten Sie den Doktor sprechen?«, fragte Susan.

»Ja«, sagte Georgia, aber bevor er ans Telefon kam, legte sie auf.

Als sie die Treppe zum Apartment hinaufstieg, dachte sie an ihre eine unumstößliche Regel, die ihr im Lauf der Jahre eine perfekte Geheimhaltung ermöglicht hatte. Niemals, niemals traf sie sich mit einem Mann anderswo als im Apartment, und immer nur zur verabredeten Zeit nach Einbruch der Dunkelheit. Niemals ließ sie sich von einem von ihnen irgendwohin mitnehmen. Keine romantischen Spazierfahrten durch die Landschaft, keine Mitternachtsmenüs im All-Night-Restaurant in Butler, keine unschuldigen Spaziergänge am Bootsanleger im State Park.Wenn sie einen ihrer Männer auf der Straße oder bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung traf – okay. Dann war seine Frau dabei, und Georgia plauderte mit ihnen wie mit flüchtigen Bekannten, die sie ja auch zu sein hatten.

Als sie hereinkam, saß Ted vorgebeugt im Samtsessel und starrte stirnrunzelnd nach unten. Georgia berichtete, was die Schwester gesagt hatte.

»Das ist der neue Assistenzarzt, ein junger Inder von der University of Alabama«, sagte Ted. »Er scheint einen scharfen Verstand zu haben.« Er grinste gezwungen. »Besser scharf als stumpf, oder?«

»Oh, Ted, gibt es denn keine andere Möglichkeit?«

»Glaub mir, Honey, wenn es eine gäbe, würde ich das hier nicht in Betracht ziehen.« In seinem Lachen schwang Angst mit. »Du musst mich hinfahren, und er muss das Ding punktieren.«

»Tut mir leid. Das kann ich nicht. Du musst schon selbst fahren.«

Er runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich hinters Steuer passe.«

»Irgendeinen Weg musst du finden.«

»Ach, jetzt komm, Süße«, sagte er. »Du brauchst ja nicht mit reinzugehen. Setz mich da ab. Nach Hause komme ich dann allein.«

Es musste noch eine andere Möglichkeit geben, aber Georgia fiel keine ein. In Six Points existierte kein Taxi mehr, seit Bobby Higginbotham wegen Trunkenheit am Steuer eingesperrt worden war. »Und wenn uns jemand sieht?«, fragte sie.

»Herrgott, Georgia, findest du nicht, dass man hier von einem Notfall sprechen kann? Wir sind zwei unverheiratete erwachsene Leute, und ich weiß nicht, wieso …«

»Nein, Ted.« Sie verschränkte die Arme. »Auf keinen Fall.«

»Warum nicht?«

»Krankenwagenfahrten gehören nicht zu unserer Vereinbarung. Wir dürfen nicht in der Öffentlichkeit zusammen gesehen werden – schon gar nicht, wenn du in diesem Zustand bist. Du bist nicht der Einzige, der einen Ruf zu verlieren hat. Ich habe auch einen.«

»Aber du bist diejenige, die für diesen Zustand verantwortlich ist«, fauchte er. »Da könntest du mich wenigstens zum Krankenhaus fahren.«

Sein Gesicht rötete sich immer mehr. Regel Nummer eins kollidierte frontal mit Regel Nummer zwei: Fang niemals Streit mit einem Klienten an.

»Du hast diese Pille genommen, bevor du hergekommen bist, Ted«, sagte sie ruhig. »Ist es wirklich fair, mir die Schuld zu geben?«

Er starrte auf sein Dilemma hinunter. »Du hast recht, Honey, es ist nicht deine Schuld. Wenn du mir ein Badelaken oder so was geben könntest, damit ich mich darin einwickeln kann … Ich glaube, die Hose kriege ich nicht an.«

Georgia spürte, wie ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet. »Ich dachte, ihr Männer lauft sowieso ständig so herum.«

Er lächelte matt.

»Sorry«, sagte sie. »Nicht richtig komisch, was?«

»Ehrlich gesagt, langsam fängt es an wehzutun.«

»Mein armes Baby«, sagte Georgia. »Ich glaube, mit einem Badetuch geht das nicht. Lass uns einfach dieses Bettlaken nehmen …« Sie riss das Laken vom Bett, legte es ihm um die Schultern und ließ ihn aufstehen. Sie drapierte und steckte es fest und brachte so eine Art Toga zustande, die lose an seinem Körper herabhing und seine hervorragendste Eigenschaft verbarg.

Sie verkleidete sich mit einer Sonnenbrille und einem braunseidenen Fransenschal aus der Sieben-Schubladen-Kommode. Im Spiegel sah sie jetzt aus wie ein italienischer Filmstar aus den sechziger Jahren, der auf der Flucht vor den Paparazzi war.

Sie stopfte Teds Kleider in eine Tüte von Hull’s Market und scheuchte ihn hastig hinunter zu seinem Wagen. Bevor sie ihn in die Einfahrt winkte, spähte sie in beide Richtungen über die Straße.

Er versuchte, sich hinter das Steuer zu klemmen, damit sie nicht fahren musste. Er versuchte es wirklich. Das Lenkrad seines Hyundai war nach oben und unten verstellbar, aber er kam nicht an die Pedale, ohne sich schmerzhaft einzuquetschen.

Schließlich befahl Georgia ihm, seinen Hintern auf den Beifahrersitz zu schieben, und setzte sich selbst ans Steuer.

Er war froh. In letzter Analyse hatte sie zugeben müssen, dass es teilweise tatsächlich ihre Schuld war – sie hatte dazu beigetragen diese Erektion stundenlang aufrechtzuerhalten.

Jetzt war es ihre Aufgabe, wachsam zu bleiben und jeden Blickkontakt zu meiden. Ted absetzen, seinen Wagen auf dem Parkplatz der Klinik abstellen, zu Fuß nach Hause gehen. Wenn jemand sie sehen sollte, würde sie die Arme heben und mit den Ellbogen pumpen wie eine Fitnesssportlerin.

Das Krankenhaus war in der Catawba Street, einer Einbahnstraße, die vom Gerichtsgebäude nach Süden führte. Um dort hinzukommen, musste man über den Platz fahren; einen anderen Weg gab es nicht. Jetzt, um kurz nach elf, waren noch ein paar Leute mit ihren Hunden unterwegs; ein halbwüchsiger Mexikaner spritzte den Gehweg vor dem Imbiss mit dem Schlauch ab, und ein paar Teenager lungerten vor dem Videospielsalon herum.

Ted rutschte auf dem Beifahrersitz nach unten und zog sich das Laken über den Kopf. Wahrscheinlich nahm er an, er tue Georgia damit einen Gefallen. Den Wagen des Sheriffs, der in der dunklen Einfahrt neben dem Haushaltswarengeschäft parkte, sah er nicht. Darin saß ein Deputy und beobachtete die Teenager, um herauszufinden, ob sie vielleicht kifften.

Bevor Georgia wusste, wie ihr geschah, füllte ein blaues Blinklicht ihren Rückspiegel aus, und eine Sirene heulte kurz auf: bluuu-wuup! Offenbar hatte der Deputy den weißen Schimmer auf dem Beifahrersitz gesehen, daraufhin seine Scheinwerfer eingeschaltet, war in einer spitzen Kurve aus der Einfahrt gefahren und hinter Georgia hergesaust, blau blitzend und mit supergrellem Fernlicht.

»O Gott«, sagte sie, »halte mich ja nicht an. Ted. Er will mich anhalten.«

»Hast du ein Stoppschild überfahren?«

»Nein!«

»Na, was hast du dann getan?«

»Nichts!« Georgia blinkte rechts, um zu signalisieren, dass sie bereit war anzuhalten, aber sie tat es noch nicht, sondern rollte weiter, bis die helle Beleuchtung auf dem Platz hinter ihr lag. Der Deputy ließ noch einmal seine Sirene aufjaulen, ein ungeduldiges bruuuup!, und Georgia stoppte neben den dunklen Bäumen hinter Swaney Johnsons Haus.

Als sie im Rückspiegel erkannte, wer es war, sagte sie: »Lass mich reden.«

Leon Bulmer war der Mann, den Sheriff Bill Allred eingestellt hatte, um die Antidiskriminierungsquote zu erfüllen, wie es die Staatsgesetze des modernen Alabama verlangten. Nach jahrelangem Rechtsstreit hatte der Staat Bill schließlich befohlen, sein Personal mit mindestens einem afroamerikanischen Deputy zu ergänzen. Bill zog los und suchte sich den weißesten Neger, den er finden konnte, nämlich Leon Bulmer aus Geneva. Dessen Vater war ein rein weißer Redneck, und seine Mutter konnte nicht dunkler als Milchkaffee gewesen sein. Leons Haut sah heller als bei den meisten Weißen – sogar ein bisschen kalkig. Wenn seine leicht abgeflachte Nase und das krause Haar nicht gewesen wären, hätte man nie vermutet, dass er schwarz war.

Ein bisschen vertrottelt wirkte er außerdem.

»Hey, Leon«, flötete sie. »Georgia Bottoms.«

»Miss Georgia? Was um alles in der Welt … ?« Leon leuchtete mit seiner Taschenlampe über das Laken, aus dem Ted Horn herausguckte. »Was ist denn hier los?«

»Kennen Sie Dr. Horn nicht? Wir waren drüben bei der Bürgermeisterin, auf einer Kostümparty.« Georgia zog ungern Krystals Namen mit hinein, aber in diesem Augenblick brauchte die Geschichte einen Schuss Autorität.

»Auf einer Party? So spät abends?«

»Na sicher«, sagte Georgia. »Ein Mitternachtsessen im Kostüm. Zur Feier des Bastille Day.« Leon würde niemals wissen, dass der Bastille Day schon Mitte Juli gewesen war und längst vorbei. Aus ihr wäre eine große Schauspielerin geworden, dachte sie. Sie glaubte ihre eigene Geschichte, während sie sie erfand.

»Ich hab das weiße Laken gesehen, und Sie wissen schon, was mein erster Gedanke war«, erklärte Deputy Bulmer. »Ich wollte es nicht glauben. Nicht in dieser Stadt.«

»Oh, nein, nein, nein«, sagte Georgia. »Er ist ein römischer Senator, wissen Sie? Und ich bin sein Date – ein italienischer Filmstar.«

»Leon«, sagte Ted. »Sie dachten doch nicht wirklich, ich sei vom Ku-Klux-Klan, oder?«

»Doch, einen Moment lang dachte ich das allerdings, Dr. Horn.« Leon lachte.

»Leon, wir müssen weiter«, meinte Georgia. »Dr. Horn hat auf der Party Schmerzen in der Brust bekommen, und ich fahre ihn zum Krankenhaus.«

Leon riss die Augen auf. »Okay, dann bleiben Sie jetzt ganz ruhig, Sie brauchen eine Eskorte, ich rufe Unterstützung …«

»Nein, wir brauchen keine Eskorte, Leon, vielen Dank. Lassen Sie uns einfach fahren, damit man sich um ihn kümmern kann.«

Ted beugte sich herüber. »Es ist alles in Ordnung. Ich brauche nur neue Herztropfen.«

»Dann eskortiere ich Sie«, sagte Leon entschlossen. »Fahren Sie hinter mir her.«

Was blieb ihnen übrig? Leon stieg wieder in sein Sheriffauto, ließ seine Sirene losheulen und fuhr zwei Straßen weit vor ihnen her bis zu Callum’s Nursing Home, dem ehemaligen Altenheim, in dem sich jetzt das Cotton County Medical Center befand, seit das alte Krankenhaus abgebrannt war. (Bei dem Brand waren beträchtliche Mengen von Arzneimitteln verschwunden, aber Brother und Sims Bailey hatte man nie vor Gericht gestellt.) Die Zufahrt zur Notaufnahme am hinteren Ende des langgestreckten, flachen Gebäudes sah hell erleuchtet aus. Georgia hatte nicht vor, mit Teds Auto in dieses helle Licht einzutauchen, aber wie sollte sie es vermeiden, wenn Deputy Bulmer vorausfuhr?

Das braune Tuch und die Sophia-Loren-Sonnenbrille täuschten über die schlichte Tatsache nicht mehr hinweg: Ihre Tarnung war geplatzt, Regel Nummer eins lag in Scherben auf dem Boden, und Deputy Leon hatte mehr als genug herumzuerzählen. Ganz zu schweigen davon, dass sie Krystals Namen in die Sache hineingezogen hatte. Erstaunlich, wie schnell ein kleiner Schlamassel sich in eine große Katastrophe verwandeln konnte.

Sie drehte sich zu Ted. »Hast du immer noch ein Problem?«

»O ja. Schlimmer denn je.« Man hätte denken sollen, das Element der Gefahr, das plötzliche Auftauchen von blitzendem Blaulicht, hätte vielleicht geholfen, aber es schien die entgegengesetzte Wirkung zu haben.

»Ich gehe nicht mit dir in diese Klinik, Ted.«

»Das ist okay, Honey. Ich bin wirklich dankbar, dass du mich hergefahren hast.«

»Steig einfach aus und geh rein. Ich parke deinen Wagen da drüben. Geh.«

Sie klang nicht sehr mitfühlend, aber warum auch? Sie war wütend auf Ted, weil er sie in diese Lage gebracht hatte, und wütend auf sich selbst, weil sie nachgegeben und somit ihre wichtigste Regel übertreten hatte. Das war eine Schlamperei, die ihre gesamte Lebensweise in Gefahr brachte.

Ted stieg mit seiner Kleidertüte aus und humpelte auf die Flügeltür zu. Deputy Bulmer sprang aus seinem Wagen und wollte helfen. Dabei warf er Georgia einen Blick zu, der verriet, was er von einer hielt, die einen Mann mit Schmerzen in der Brust allein in die Notaufnahme humpeln ließ.

Georgia fuhr weiter zum Parkplatz.

Deputy Bulmer beförderte Ted mit einem leicht modifizierten Wrestlinggriff durch die Tür. Die beiden wandten ihr den Rücken zu, und Georgia konnte nicht erkennen, ob Teds Dilemma immer noch ersichtlich war. Doch sie hoffte, dass der Deputy es nicht bemerkte und den falschen Eindruck bekam.

Sie klemmte Teds Autoschlüssel an die Sonnenblende und stieg aus. Durch die Glastür der Notaufnahme verfolgte sie, wie Ted sich unverzüglich in einen Rollstuhl fallen ließ. Prima Idee!

Georgias Aufgabe war erledigt. Sie riss sich Tuch und Sonnenbrille herunter, überquerte im Fitness-Walking-Tempo den Parkplatz und überlegte, auf welchem Heimweg sie die wenigsten Leute treffen würde.

Eine tiefe Stimme kam aus der Dunkelheit. »Miss Georgia? Soll ich Sie mitnehmen?«

Sie konnte das Gesicht nicht erkennen. Die Stimme kam ihr bekannt vor, aber wer unter ihren männlichen Freunden hatte ein so dunkles Radiotimbre?

Dann trat er ins Licht, und o ja, natürlich, das war der neue Pastor, Mr. Blondlocke, der Reverend Brent Colgate. Da stand er neben seinem Chrysler K-Car mit dem Jesusfisch auf dem Nummernschild. Hatte er die ganze Zeit da gestanden und sie beobachtet?

»Na, hallo«, sagte Georgia, denn die beste Verteidigung war immer noch der Angriff, »was machen Sie denn hier?«

»Ich habe unsere kranken Brüder und Schwestern besucht«, antwortete er. »Ich nehme Sie gern mit.«

»Nein, danke, ich gehe gern zu Fuß. Die Bewegung tut mir gut.« Natürlich hätte sie den Reverend gern besser kennengelernt, aber die Lage war kompliziert genug für eine Nacht. Jetzt noch mitzufahren – da hätte sie die Probleme geradezu heraufbeschworen.

Andererseits.

Brent hatte sie schon gesehen. Wenn sie sein Angebot annähme, könnte sie ihn vielleicht von dem, was immer er sonst mitbekommen haben mochte, ablenken. Und die Heimfahrt in seinem Wagen würde die Gefahr verringern, dass ihr noch jemand anders über den Weg lief.

Wenn man es sich recht überlegte, hatte Georgia eigentlich keine andere Wahl, als mit ihm zu fahren. Also schickte sie ihm ein telepathisches Signal: Frag mich noch mal.

»Sind Sie sicher?«, fragte er. »Ich bin auf dem Heimweg. Ich setze Sie gern irgendwo ab.«

»Na ja … wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht?« Sie lächelte ihn dankbar an. »Ein bisschen spät ist es ja. Six Points ist natürlich absolut sicher, aber trotzdem – so spät nachts noch zu Fuß unterwegs zu sein …«

»Mir wäre es ein Vergnügen, Miss Georgia«, sagte er mit diesem aufregenden Grollen, das so dunkel klang, dass es immer ein wohliges Gefühl hervorrief. Und es war nicht nur seine Stimme, sondern auch sein Benehmen. Er wirkte so höflich. Heutzutage fand man diese Eigenschaft bei jungen Männern nicht mehr so oft. Georgia erinnerte sich, dass die Freunde ihres Vaters in Anwesenheit einer Dame mit dieser ausgesuchten Höflichkeit gesprochen hatten. Colgate riss die Beifahrertür seines K-Car auf, als wäre es eine Limousine mit Chauffeur.

»Der arme Ted«, sagte sie beim Einsteigen. »Wir sind alte Freunde, schon seit der Highschool … Wenn er dieses Herzflimmern bekommt, ruft er immer mich. Ich fahre ihn dann her, und sie machen irgendwas mit ihm, keine Ahnung, wie man es nennt. In einer Stunde geht’s ihm wieder besser, und dann fährt er selbst nach Hause.«

»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie ihm helfen.« Brent Colgate startete den Motor.

Georgia schnallte sich an. In Colgates Wagen roch es nach alten Fritten.

»Ted ist ein netter Mann«, fuhr sie fort. »Irgendwie traurig, wenn man drüber nachdenkt. Er ist der Arzt, der dafür sorgt, dass alle gesund bleiben, aber wenn er selbst krank wird, wen kann er dann rufen?«

»Es hat mir Spaß gemacht, Dr. Horn kennenzulernen«, sagte Brent. »Für einen Mediziner hat er keinen schlechten Humor.«

Georgia fragte sich, ob das eine subtile Spitze gewesen war. Sie drehte den Kopf zur Seite und musterte ihn. Er schaute mit seinen leuchtend grünen Augen ruhig nach vorn auf die Straße. Allzu subtil kam er ihr eigentlich nicht vor. Für einen Prediger kleidete er sich ziemlich schick. Heute Abend machte er auf salopp, aber die Ärmel seines grün karierten Hemds waren genau in der richtigen Höhe aufgekrempelt, und die Khakihose hatte eine scharfe Bügelfalte. Den Duft, der von ihm ausging, konnte Georgia nicht identifizieren; er war holzartig wie Old Spice, aber mit einer stärkeren Moschusnote.

»Bestimmt brauchen auch Sie in Ihrem Beruf Humor«, sagte sie und lenkte das Gespräch von Ted ab.

»O ja«, entgegnete der Reverend. »Ich habe eben noch ein Gemeindemitglied besucht, dessen Namen ich nicht nennen möchte. Er wurde erst kürzlich operiert, und zwar am – wie soll ich es nennen? An seinem Hinterteil. Und er war ganz versessen darauf, mir die Narbe zu zeigen.«

Georgia lachte. »Sie haben hoffentlich abgelehnt.«

»Mit allergrößtem Nachdruck.« Colgate ließ sein milchweißes Lächeln erstrahlen. »Aber wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht, ob das richtig war. Ich bezweifle, dass Christus sich abgewandt hätte. Ich glaube, er wäre bereit gewesen, sich dem Anblick des Leidens dieses armen Mannes zu stellen.«

»Versuchen Sie immer zu tun, was Christus tun würde?«, fragte Georgia.

»Die Betonung liegt auf dem Wort ›versuchen‹«, erklärte Colgate. »Und ich scheitere viel öfter, als ich erfolgreich bin.«

»Geht uns allen so«, sagte Georgia.

Eins hatte ihr an Pastor Eugene immer gefallen: Er redete in einer Unterhaltung niemals von Jesus. Wenn er mit Georgia zusammen war, hatte er hundertprozentig dienstfrei gehabt.

Aber dieser Brent schien seinen Job mit sich herumzutragen. Daran würde sie noch arbeiten müssen. Es gab viel Nettes, was man über Jesus sagen konnte, aber die häufige Erwähnung seines Namens war einer romantischen Stimmung nicht zuträglich.