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Little Mamas Verstand zerbröselte so langsam, dass man sich fast einreden konnte, man bemerke es nicht. Beim ersten Lunch nach der Katastrophe war sie noch fit genug, um dabei zu sein. Ein Jahr später blieb sie oben in ihrem Zimmer.

Georgia wurde immer besser darin, ihre Geburtstage zu ignorieren … den fünfunddreißigsten, den sechsunddreißigsten … aber dann plötzlich war es 2005, und die große runde Zahl kam ihr donnernd entgegengerollt. Sprich die Zahl nicht aus sprich sie nicht aus nicht!

Eigentlich plagte es sie nicht. Sie vermied es einfach, daran zu denken. Nach achtunddreißig Jahren Rackern auf dem Ameisenhügel hast du das Recht, dir auszusuchen, woran du denken willst und woran nicht. Wenn du dein jugendliches Ich hinter dir gelassen und aufgehört hast, von einem blauen Himmel zu träumen, dann wächst deine Freiheit, dich niederzulassen und das Leben zu genießen. Du kannst aufhören, dich so zu plagen. Du hast Zeit, du hast ein paar Dollar im Portemonnaie. Du brauchst keine Hamburger zu essen, es sei denn, du möchtest welche.

Persönlich zog Georgia ein Ribeyesteak und Champagner vor, aber heute Abend würde es ein Schinkensandwich und das letzte Stück von der süßen Pastete geben. Es war Freitagabend, Bill Allreds Abend, aber er hatte aus dienstlichen Gründen abgesagt. Georgia war großzügig gestimmt und hatte ihn auf den Samstag verlegt – ausnahmsweise.

Bill hatte eine Vorliebe für Süßes, und deshalb fuhr sie hinaus zu Hull’s Market, um die Zutaten für einen Lemon Freeze zu besorgen, seine geliebte gefrorene Zitronentorte.

Als sie wieder in die Einfahrt bog, sah sie Hazel Vickreys Postauto herankommen. Sie parkte und ging zum Briefkasten, sagte Hallo zu Hazel, reichte ihr den Stapel Rechnungen, den sie verschicken wollte, und nahm einen einzelnen Umschlag in Empfang.

Einen kleinen weißen Umschlag.

Das Postauto tuckerte davon.

Georgia erkannte die zittrige Handschrift nicht, in der ihr Name geschrieben war, »Miss Ga. Bottoms«, und ihre Anschrift, »15 Magnolia St., Six Points, Ala.« Kein Absender. Die Briefmarke war schief aufgeklebt. Jemand bei der Post hatte die Postleitzahl mit blauer Tinte nachgetragen.

Aus irgendeinem Grund machte ihr der Umschlag Angst. Ein handschriftlicher Brief von einem fremden Menschen – hatte das je etwas Gutes bedeutet?

Jedenfalls wollte sie ihn nicht öffnen, während Mrs. Pinson sie zwischen ihren Petunien hindurch beobachtete.

Sie winkte hinüber, ging dann mit dem Umschlag die Stufen hinauf und ins Haus und schlitzte ihn mit dem Daumennagel auf.

 

Liebe Georgia,

Entschuldigung, dass ich schreibe. Würde Sie anrufen, aber ich hab kein Geld für Ferngespräche. Vielleicht wissen Sie, dass meine Tochter Ree krank war und jetzt für 3 Jr. im Staatsgefängnis von St Gabriel sitzt. Nicht schuldig, sagt sie, aber wer weiß. Der Junge Nathan wohnt jetzt hier bei mir in N.O. Ich hab nur meine Behindertenrente und Sozialhilfe für 1 Pers., und es dauert Monate, die neuen Papiere zu kriegen. Sie waren so nett, Ree ein paar $ zu senden, aber jetzt ist es sehr schwer. Können Sie bitte noch mehr schicken, an meinen Namen und dieselbe Adresse bei W. Union, und ich hole es ab. Sie sollten den Jungen sehen – groß & stark, aber was der isst! Bitte lassen Sie mich wissen, was Sie können. Oder wenn Sie keine $ schicken können, sagen Sie es mir, und ich schicke Ihnen den Jungen mit dem Bus oder Zug. Ich möchte Ihnen nicht lästig fallen, aber ich bin alt und kann das nicht allein und hab fast keine Hilfe von irgendwem. Bitte rufen Sie mich an 586-0645.

Ihre ergebene Mrs. Eugenia Jordan.

 

Als Georgia den Brief zu Ende gelesen hatte, zitterten ihre Hände. Zu ihrer Verabredung mit Ree gehörte, dass die Kommunikation einseitig blieb. Dafür hatte sie bezahlt, Monat für Monat, all die Jahre hindurch – dass man sie aus dem Spiel ließ. Am vierten Samstag jedes Monats ging sie zur Western Union und überwies telegraphisch so viel, wie sie sich leisten konnte. Dafür unterblieb jeglicher Kontakt. Das war die Abmachung.

Dieser Brief kam aus einer neuen Richtung. Georgia fühlte sich bedroht.

Der Junge durfte nicht nach Six Points kommen. Sein Daddy saß im Gefängnis, und seine Großtante Ree jetzt auch. Die Briefschreiberin dürfte die Urgroßmutter des Jungen sein, Eugenia, die inzwischen mindestens achtzig war – die Ärmste: Musste sich um einem großen, hungrigen Jungen kümmern …

Aber der »Junge« war fast zwanzig, oder? Längst alt genug, um selbst ein paar »$« ins Haus zu bringen. Warum tat er es nicht? Georgia hätte ihn innerhalb von fünf Minuten auf Jobsuche geschickt, wenn er bei ihr gewesen wäre. Aber er würde nicht zu ihr kommen. Er würde bleiben, wo er hingehörte, bei Eugenia Jordan in New Orleans.

Nathan.

Sie ließ seinen Namen nicht oft in ihre Gedanken.

Sie wollte nur Geld schicken und ihn vergessen. Jetzt, da er erwachsen wurde, hatte sie gedacht, sollte er doch selbst für sich sorgen können. Dann könnte sie die Beträge verringern. Natürlich würde sie zum Geburtstag und zu Weihnachten weiterhin etwas schicken, aber irgendwann kam doch für jeden die Zeit, da er seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten musste. Und jetzt dieser Brief …

Manche Schulden hat man eben nie abbezahlt.

Georgia las den Brief drei Mal. Nach und nach erschien er weniger bedrohlich und eher wie eine flehentliche Bitte. Sie schrieb Eugenias Telefonnummer ab, steckte den Zettel in die Tasche und brachte den Brief in ihr Zimmer.

Aus der hinteren Ecke ihrer BH-Schublade holte sie eine mit grünem Filz ausgeschlagene Schatulle hervor.

Ihr Highschool-Tagebuch war das übliche, quadratische braune Buch mit einer Lederschlaufe und einem kleinen Messingschloss, das schon seit einer Ewigkeit kaputt war. Zwischen den vorderen Seiten klemmte ein Brief, den sie sich mit achtzehn Jahren selbst geschrieben hatte – auf einem separaten Blatt, weil es zu gefährlich gewesen war, ihn dem Tagebuch anzuvertrauen. Nach all den Jahren stieg noch immer ein Hauch von Giorgio-Parfüm aus dem Buch.

 

Liebes Tagebuch,

heute gab’s was Irres. War heute beim Cheerleader- Training, wir haben die zweiseitige Pyramide gemacht, und zum ersten Mal ist niemand runtergefallen. Ich war ganz oben rechts. Nach dem Training war ich SO fertig, dass ich mich auf die Tribüne setzen musste, um wieder Luft zu kriegen. Die Sonne sah aus wie ein dicker roter Ball, der im Himmel schwamm. Ich musste dauernd hinschauen. Dann hörte ich etwas, das klang wie ein Baby, das weinte, und ich ging hinter die Tribüne und unten rein, wo alle ihre Flaschen & so Zeug hinwerfen.

Im Unkraut lag ein kleines Kätzchen, schwarz und weiß gefleckt, ungefähr eine Woche alt, vielleicht auch zwei oder drei. Es war ganz klein und schrie, und seine Mama war weggelaufen oder unters Auto gekommen. Es hatte Angst, und ich hab versucht, es zu beruhigen, und nach einerWeile hört es auf zu schreien. Ganz weich, wie Mohair. Ich holte sie hinten aus der Tribüne raus, und da kam dieser Junge an, Clarence Blanchard, aber alle nennen ihn Skiff. Er kam nicht angeschlichen, aber irgendwie ruhig und leise, und fragt: »Was hast du denn da?« Ich zeig’s ihm, und er sagt nicht wie andere Jungs: »Ach, ’ne blöde Katze« oder so was, er nimmt das Kätzchen ganz sanft in die Hand und streichelt seinen Kopf wie ein Baby. Ich wollte ihren Rücken streicheln & hatte nicht vor, seine Hand zu berühren, aber dann tat ich es & dann küsste er mich. (!!!!!!)

Er war so ein guter Küsser, dass ich nicht aufhören konnte. Ich weiß, ich hätte ihn wegstoßen müssen. A ber HÄH???? RIESEN-GEHEIMNIS! Als wir fertig waren, sagt er, er nimmt das Kätzchen mit nach Hause und will es versorgen. Er ist also auch noch ein guter Mensch. Aber ich hab trotzdem ein GROSSES PROBLEM. Ich hab Skiff gern, bin verrückt nach ihm, glaube ich, aber SELBSTVERSTÄNDLICH darf ich ihn nie wiedersehen!!!

So sieht’s aus, und was mach ich jetzt? Erzähl’s niemandem, nicht mal Krystal.

G.

 

Sie hatte ihre Eintragungen immer so unterschrieben – »G.« –, denn sie hatte möglichst cool sein wollen.

Aber sie hatte es nicht über sich gebracht, die Natur ihres GROSSEN PROBLEMS schriftlich festzuhalten.

Skiff war schwarz.

Sie schob den Brief zusammen mit Eugenias Schreiben vorn in das Tagebuch. Dann blätterte sie die Seiten um und atmete das oberflächliche Mädchen ein, das sie gewesen war. Vielleicht, dachte sie, gab es noch weitere verschlüsselte Eintragungen über Skiff, aber sie fand keinen einzigen Hinweis auf seine Existenz. Detailliert hatte sie über jede Party berichtet, über jeden Telefonklatsch, jedes Club-Meeting, jede Buchkritik, die sie für die Schule geschrieben hatte. Aber kein Wort über Skiff. Abgesehen von dem geheimen Brief, den sie sich an dem Tag als sie ihn kennenlernte, selbst geschrieben hatte, hatte Georgia alles, was passiert war, sogar vor sich selbst verschwiegen.

Sie erinnerte sich, wie scharf sie aufeinander gewesen waren. In der Abenddämmerung hatten sie sich unter der Tribüne getroffen, um mit ihrem Kätzchen (»Rags«) zu spielen und zu knutschen. Es war mehr als nur Küssen – es war heftiges Petting: Sie rieb ihn mit der Hand, auch wenn seine Hose zublieb. Und seine Hand rubbelte ebenso wild an ihrer Unterwäsche, sodass sie sich sexy und erregt fühlte. Erst wenn er versuchte, ihre Brustwarze zu berühren oder an ihrer Unterhose zu ziehen, schlug sie auf seine Hand. Gerade so viel Jungfräulichkeit hatte sie noch übrig.

Sie fing an, sich spät nachts aus dem Haus zu schleichen, um sich mit ihm zu treffen. Man konnte nicht endlos viel Zeit im stachligen Unkraut unter der Tribüne verbringen. Irgendwann fand man den Weg auf den behaglich weichen Rücksitz von Skiffs Daddys braunem Ford LTD, und dort ging es jedes Mal ein kleines Stückchen mehr zur Sache.

Und eines Tages ließ man einfach los und sagte Ja. Na ja, man sagte es nicht direkt. Eigentlich wurde kaum ein Wort gesprochen. Aber jede Faser des Körpers schrie: Ja!

Komm schon, gib’s zu, Skiff war nicht mal der Erste. Der Erste war Danny Ray Patterson im blauen Nova seines Vaters. Bis sie es mit Skiff tat, hatte sie gedacht, Danny Ray sei gut gewesen, aber jetzt erkannte sie, dass er überhaupt nichts gewesen war. Nie hatte sie sich bei ihm so sexy und wild gefühlt wie bei Skiff. Skiffs Lippen, dick und sexy, küssten sie überall im Gesicht. Skiffs dicke Zunge war ein Lebewesen, ein glitschiges, sexy, heißblütiges Tier mit einem eigenen Willen. Diese Zunge und diese Lippen hatten sie mit ihren Küssen auf dem Rücksitz des LTD um den Verstand gebracht, als Skiff und Georgia an einem gewissen Freitagabend über ihre bisherigen Grenzen hinaussegelten.

Als sie es getan hatten, taten sie es wieder. Es war so viel besser und heißer als mit Danny Ray. Ganz klar, das war es, weshalb man so viel Theater machte. Drei wilde Tiere auf dem Rücksitz: Georgia, Skiffs Zunge und Skiff.

Sagen wir, vier.

Eine große Überraschung also, und ein GROSSES PROBLEM. Das Problem bestand natürlich darin, dass Georgia und Skiff sich in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen konnten. Sie konnten nicht zusammen ausgehen, weder bei Tag noch im Dunkeln. Denn Skiff war schwarz, und Georgia war weiß, und sie lebten in Six Points im Jahr 1985.

Georgia fragte sich manchmal, ob sie sich mit Skiff insgeheim an ihrer Mutter rächen wollte. Sie war ihre ganzen Teenagerjahre hindurch rebellisch gewesen. Little Mama hasste die Schwarzen, und vielleicht war Georgia deshalb so begierig danach, einen zu haben, zu schmecken und ihre Lippen an seine zu pressen. Sie fühlte sich dann wild. Ungezogener als jedes andere Mädchen in der Stadt. Und Skiff gefiel sie auch, die kleine Wildkatze, in die sie sich verwandelte, wenn er sie berührte. Es gefiel ihm, wie er sie nur mit seinen weichen Lippen und glutvollen Augen auf Touren bringen konnte.

Die weißen Jungs, mit denen sie befreundet war, waren langweilig: Ernie Woolward, Jeff Bright, Denny Ray. Alberne, uninteressante Jungs: Autos, Football und wieder Autos. Skiff dagegen war dunkel und geheimnisvoll und konzentrierte sich ganz auf Georgia, auf ihren Mund, ihre Lippen. Ihre Beine. Ihre Brüste. Auf jeden Zollbreit ihres Körpers. Seine warmen braunen Finger berührten ihre weiße Haut. Und sie liebte es, sich mit ihm herumzudrücken und beinahe erwischt zu werden – von ihrem Vater, ihrer Mutter, von x-beliebigen Leuten am Rand von Hull’s Parkplatz und einmal von einem Farmer an ihrem geheimen Platz bei der Welsfarm. Sie fuhren mit dem LTD in den tiefen Schatten dreier gewaltiger Eichen, durch ein Brombeergestrüpp verborgen und von der Straße aus unsichtbar. Durch die Frontscheibe hatten sie einen schönen Blick auf den Teich und das gefiederte Schilfrohr am sumpfigen Ufer. Sie hörten Duran Duran und Air Supply und gaben sich Zungenküsse, bis die Kiefer schmerzten.

Mama wusste, dass es einen Jungen gab, aber sie wusste nicht, wer es war. Georgia war nicht mutig genug, um es ihr zu erzählen. Aber gern malte sie sich aus, wie hysterisch Mama werden würde, wenn sie es je erfahren sollte.

Als sie »es« dann wirklich taten, genügte ein einziges Mal. Viel fruchtbarer als ein geiler Junge und ein achtzehnjähriges Mädchen konnte man ja nicht sein. Fünf Wochen später, in der zweiten Stunde – Amerikanische Geschichte –, verspürte Georgia plötzlich einen Brechreiz. Auf der Mädchentoilette über die Kloschüssel gebeugt, erlebte sie den tödlichen Augenblick der Erkenntnis.

Sie war schon zwei Wochen über der Zeit, aber sie hatte versucht, nicht daran zu denken, und für einen oder zwei Tage war es ihr fast gelungen. Sie hatte angenommen, Skiff habe ein Gummi benutzt, aber genau wusste sie das nicht, denn sie war in dem Augenblick so selig abgelenkt gewesen.

Diese Sache war so ernst, dass sie es nicht mal Krystal, ihrer besten Freundin, erzählt hatte. Eine Schwangerschaft erschien ihr sehr viel rebellischer, als ihr lieb war.

Da sie wusste, von wem das Baby stammte, gab es nur zwei Möglichkeiten: Sie ließ es sofort wegmachen, oder sie versteckte sich irgendwo, bis sie es zur Welt gebracht hätte. Sie lief nur deshalb nicht sofort weg, weil sie wusste, was für Sorgen Mama sich machen würde, wenn sie ohne ein Wort verschwände. Sie hatte nichts dagegen, Little Mamas Empörung zu wecken, aber Angst machen wollte sie ihr nicht.

Irgendwann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und erzählte es Skiff. Er bekam so große Augen, dass sie wider Willen lachen musste. Das machte ihn wütend – er dachte, sie mache sich über die Situation lustig.

Sie konnte nicht fassen, dass er die Frechheit besaß, wütend auf sie zu sein, nachdem er es war, der sie in diesen Zustand gebracht hatte. »Ich lass es wegmachen«, fauchte sie, obwohl sie eigentlich nicht glaubte, dass sie so etwas tun könnte. »Das geht in Mobile. Ich brauche vierhundert Dollar.«

»Das kannst du nicht«, sagte Skiff. »Vergiss nicht, es ist nicht nur dein Baby.«

»Oh, das vergesse ich schon nicht«, erwiderte sie. »Aber zufällig ist es in meinem Bauch, nicht in deinem. Und wenn du glaubst, ich werde es kriegen, dann hast du sie nicht mehr alle.«

»Warum denn nicht?«

»Was glaubst du wohl, warum nicht? Schau dich doch an. Schau in den Spiegel.« Vielleicht war das gemein, aber Georgia war nicht in der Stimmung, nett zu sein.

»Du musst es kriegen«, sagte Skiff. »Gott hat es da reingetan. Wir können nichts machen.«

»Das war nicht Gott, Skiff. Das warst du ganz allein.«

Sein Gesicht erstarrte. Einen Moment lang hatte sie fast Angst vor ihm. Schließlich fragte er: »Bist du denn sicher?«

Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was er meinte. »Ob ich sicher bin?«, platzte sie heraus. »Was willst du damit sagen? Los, sprich es aus. Trau dich.«

»Ach, sei still«, brummte er. »Du weißt, was ich meine.«

»Glaubst du, ich bin eine Schlampe, weil ich es mit dir getan hab?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Aber gedacht.«

»Nein, gar nicht.«

»Du warst der Erste, Skiff«, log sie. »Du bist der einzige Junge, mit dem ich je zusammen war.«

»Wir könnten irgendwo andershin gehen und heiraten«, sagte Skiff. »Wir könnten in den Norden gehen. Da gibt’s viele solche Leute.«

»Was für Leute?«

»Weiße mit Schwarzen, die heiraten.«

»Woher weißt du das?«

»Hab ich gehört«, sagte er. »Es ist okay, wenn du in Chicago bist oder in Detroit.«

»Du willst mich wirklich heiraten, Skiff?«

Er wurde sehr still. Obwohl er das Wort »heiraten« zuerst benutzt hatte, verschlug es ihm die Sprache, als er es jetzt von ihr hörte.

»Ich hab’s auch nicht angenommen«, sagte sie. »Keine Angst. Ich will dich auch nicht heiraten.«

Er zog die Stirn kraus. »Ich mach’s, wenn du das willst.«

Verdammt, dachte sie, das ist mehr, als Danny Ray gesagt hätte.

Skiff wollte ein Baby genauso wenig wie Georgia – daran ließ er keinen Zweifel –, aber es sehe verdammt so aus, als hätten sie eins gemacht, sagte er, egal, was sie jetzt davon hielten. Wollte sie es wirklich umbringen? Nach langen Diskussionen im LTD beschlossen sie, einen Ort zu finden, wo Georgia sich verstecken könnte, bis sie es zur Welt gebracht hätte, und es dann zur Adoption freizugeben.

Zum Glück waren es nur noch drei Wochen bis zum Examen. Der Talar verhüllte Georgias zunehmenden Bauchumfang. Die anderen Kids verschwanden, zum Teil zu ihren Sommerjobs, zum Teil in die Ferien. Georgia erzählte überall, sie fahre zu einer Cousine nach North Carolina. Krystal war damals noch nicht so neugierig. Sie war so aufgeregt bei dem Gedanken daran, im Herbst zum Auburn College zu gehen, dass sie es überhaupt nicht bemerkte, als ihre beste Freundin ihr ins Gesicht log.

Am Tag vor ihrer Abreise ging Georgia zu Little Mama, die an ihrer Telefonvermittlung saß. Es waren die achtziger Jahre, und inzwischen war ganz Six Points an das Direktwahltelefonnetz angeschlossen und Little Mamas einstmals brummende Telefonvermittlung zu einem zentralen Telefonauftragsdienst geschrumpft, der noch fünf Kunden bediente: zwei Ärzte, das Bestattungsinstitut, den Drugstore und den Krankenwagendienst.

Mama blickte nicht von ihrer Schalttafel auf. Sie nahm weiter Nachrichten entgegen, als Georgia ihr gestand, sie sei in der neunten Woche schwanger von einem Jungen, dessen Namen sie nicht nennen wolle. Sie fahre jetzt nach North Carolina zur Tante dieses Jungen. Sie habe vor, das Baby dort zur Welt zu bringen und dann wegzugeben.

»Und was dann?«, fragte Little Mama.

»Dann komme ich wieder nach Hause, denke ich. Wenn es dir recht ist.«

»Du bist jederzeit willkommen.« Mehr sagte Little Mama nicht, und Einzelheiten wollte sie nicht wissen.

Als sie Georgia zur Bushaltestelle neben der Texaco-Tankstelle brachte, reichte sie ihr zweihundert Dollar und meinte, es sei gut, dass Daddy schon tot sei, denn das hier hätte ihn ganz sicher umgebracht.

Georgia machte ein ernstes Gesicht, aber sie dachte: Liebe Lady, wenn du wüsstest, was ich getan habe und mit wem, und wenn du wüsstest, welche Farbe dein Enkelkind haben wird – verdammt, du wärst sehr viel wütender, als du jetzt bist.

Sie unterdrückte den Drang, mit der Wahrheit herauszuplatzen, brachte es nicht über sich, Little Mama so sehr zu verletzen. Also steckte sie das Geld ein und hielt den Mund.

Little Mama bemerkte nicht einmal, dass der Bus nach HATTIESBURG fuhr, in die entgegengesetzte Richtung, und nicht nach North Carolina. Georgia war stolz darauf, dass ihr dieses Täuschungsmanöver gelungen war: Sie wollte nach Westen, zu Skiffs Tante Ree in Laurel, Mississippi.

Rees richtiger Name lautete, Eureka Blanchard. Sie war eine vergnügte dicke Mama mit einer Vorliebe für Riunite-Roséwein und Männer, die vor Kurzem aus dem Knast gekommen waren. Während der ganzen Zeit, die sie in Rees Haus verbrachte, fürchtete Georgia um ihr Leben. Krystal schrieb sie Briefe und erzählte ihr, wie schön und friedlich es in North Carolina und was für eine reizende Lady die Cousine sei, die sie zu Empfängen und Nachmittagstees in die besten Häuser der Stadt mitnehme.

Rees Haus stand in einer abgelegenen Sackgasse zwischen düsteren Amberbäumen am Rand eines Viertels, in dem die Leute Müll auf den Boden warfen, den niemand wieder aufsammelte. Man wusste nie, wessen Auto es war, das da freitagabends um elf rumpelnd und dröhnend die Straße entlanggefahren kam. Oft war es ein riesiger, tough aussehender schwarzer Brother, der zu Ree wollte. Georgia kauerte dann in ihrem Zimmer, schlang die Arme um ihren dicken Leib, und malte sich in grellen Farben aus, was im Wohnzimmer vor sich ging, während sie hier zu schlafen versuchte: Natürlich wurde Marihuana geraucht – der Geruch wehte unter der Tür hindurch – und viel gevögelt, und neben dem Riunite musste eine ganze Bootsladung Malt Whiskey dran glauben – nach den Flaschen zu urteilen, die am nächsten Morgen herumstanden. Dazu Al Green und die Staple Singers aus der Stereoanlage, laut. Und immer lief der Fernseher. Für Georgia war es echter Sozialkundeunterricht über das Leben der Menschen.

Aber dass Ree sie aufgenommen hatte, war anständig von ihr. Sie verlangte nie etwas dafür, nicht einen Cent. Und gegen Georgias bedrohlich gewölbten Bauch hatte sie anscheinend auch nichts. Wenn Georgia über Kreuzschmerzen klagte, massierte Ree ihr den Rücken. Als die Schwangerschaftsstreifen erschienen, besorgte Ree eine spezielle Creme und sagte, davon würden sie weggehen. Das taten sie nicht, aber es war trotzdem nett von ihr.

Georgia entband zwei Wochen vor Weihnachten in der County-Klinik, mitten in der Nacht. Alle waren sehr freundlich, bis das Baby herauskam. Georgia sah, wie eine der Schwestern das Gesicht verzog. Vielleicht war die Frau auf den Anblick eines schwarzen Kindes nicht vorbereitet – obwohl es gar nicht richtig schwarz war, sondern eine Art Zwischenton hatte, ein goldenes Eichenholzbraun.

Aber der Ausdruck des Abscheus im Gesicht der Schwester verfolgte Georgia. Als wäre sie durch das, was da aus ihr herausgekommen war, plötzlich ein geringerer Mensch.

So mussten die Schwarzen sich jeden Tag fühlen.

Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass es ein Junge werden würde, und es war einer. Die Hebamme fragte sie, ob sie ihn halten wolle. Georgia weinte, und das Baby ebenfalls. Es klang rau und dünn, und Georgia hatte Angst, es in den Arm zu nehmen. Wenn sie es je in die Hände bekäme, würde sie es vielleicht nie mehr loslassen. Also sagte sie: »Nein danke.«

In all den Jahren seitdem war es das, was sie am meisten bereute. Sie wünschte, sie hätte ihn nur für einen Augenblick in den Armen gehalten, bevor sie ihn wegbrachten. Vielleicht, dachte sie, würde sie noch einmal Gelegenheit dazu bekommen, aber sie hatte ihn nie wiedergesehen.

Zwei Tage später fuhr sie mit dem Bus zurück nach Six Points. Auf der Fahrt nach Alabama starrte sie die ganze Zeit die steigenden und fallenden Linien der Stromleitungen an, die aussahen wie eine grafische Darstellung ihrer Stimmung. Sie schmiedete detaillierte Pläne, die ihr helfen sollten, in Zukunft nicht wieder in Schwierigkeiten zu geraten.

Sie zog ihren Rollenkoffer von der Bushaltestelle nach Hause in die Magnolia Street, und niemand auf der Straße erkannte sie, weil sie nach der Schwangerschaft so rundlich wirkte.

Little Mama freute sich, sie zu sehen, und darüber waren sie beide überrascht. Georgia blieb im Haus, bis sie den Schwangerschaftsspeck weggehungert hatte. Sie beantwortete einen Stapel Briefe von Krystal, die bei einer Tante in Birmingham wohnte und im Kaufhaus Pizitz an der Kosmetiktheke arbeitete.

»Alle sagen, ich sehe so gut erholt aus«, schrieb Georgia. »Muss an der Gebirgsluft in Carolina liegen.«

Zwei Jahre später gerieten Skiffs Eltern draußen auf der State Road 47 unter einen Holzlaster. Nicht lange danach wurde Skiff das erste Mal verhaftet. Georgia konnte niemandem erzählen, wie sehr sie das bedrückte. Nicht, dass sie daran gedacht hätte, zu Skiff zurückzukehren, aber sie hatte ihn mehr geliebt als jeden anderen Freund vor ihm. Als sie sich kennenlernten, hatte er in einer warmherzigen und liebevollen Familie gelebt – doch jetzt waren sie alle weg. War das Georgias Schuld? War sie ein Unglücksbringer?

Ree schrieb ihr, dass niemand das Baby adoptieren wolle, weil es war, wie es war – was für eine Überraschung! –, und deshalb habe sie beschlossen, es zu behalten. Sie nannte den Jungen Nathan, nach Georgias Lieblingslied in jenem Sommer, und sagte, sie werde nach New Orleans zu ihrer Mutter ziehen, die versprochen habe, ihr mit dem Kind zu helfen.

Ree fragte nie nach Geld, aber Georgia kannte ihre Verantwortung. Als sie den Brief bekommen hatte, ging sie noch am selben Tag in die Stadt und fand ihren ersten Job an der Kasse im Planters’ Mercantile, sodass sie jeden Monat Geld schicken konnte.

Das war jetzt zwanzig Jahre her. Am vierten Samstag jedes Monats überwies sie so viel, wie sie entbehren konnte, nach New Orleans. Dafür verlangte sie nur, dass es keinen Kontakt gab.

Eine traurige Vorstellung, dass Ree im Gefängnis saß. Sie war ja keine schlechte Frau, aber sie hatte einen Hang zu üblen Männern. Und jetzt brauchte ihre arme alte Mutter Hilfe. Da muss ich eine Möglichkeit finden, noch mehr zu schicken.

Herrgott, warum hängt es immer an mir?

Ruf die alte Lady heute Abend an. Sie muss begreifen, dass es keinen Grund gibt, auch nur daran zu denken, den Jungen herzuschicken. Das wird niemals funktionieren, weder für ihn noch für mich noch für sonst jemanden.

Irgendwo musst du eine Grenze ziehen.