10
Shelley Grinnell in der Wee-Pak-N-Ship-Paketannahme brauchte fast eine Stunde, um das Durcheinander mit Western Union zu klären und das Geld noch einmal zu überweisen, diesmal an Eugenia Jordan. Als Zeichen ihres guten Willens hatte Georgia noch fünfzig Dollar dazugelegt.
»Was ist denn aus der geworden, an die wir sonst immer überwiesen haben?«, fragte Shelley neugierig.
»Das war Cousine Ree«, erklärte Georgia, und damit Shelley ein schlechtes Gewissen bekam, fügte sie hinzu: »Sie hat uns verlassen.«
»O je. Mein Beileid«, sagte Shelley. »Was ist denn passiert?«
»Man vermutet, dass es eine Lungenentzündung war, aber nagle mich nicht darauf fest.« Wenn man log, war es immer ratsam, in den Einzelheiten unbestimmt zu bleiben, damit man nichts durcheinanderbrachte, wenn man versuchte, sich daran zu erinnern. »Jetzt geht es an ihre Mama, die arme alte Tante Eugenia. Ich tu, was ich kann, um ihr unter die Arme zu greifen.«
»Das ist so lieb von dir, Georgia«, meinte Shelley.
Georgia trat hinaus in den milchigen Aprilsonnenschein und beschloss, zu Fuß um den Platz herumzugehen. Die Luft war köstlich und verhieß noch Besseres. Manchmal wechselte das Kaufhaus Belk’s dienstags seine Schaufensterdekoration, und – hallo, wer steigt denn da aus einem vergammelten blauen Chrysler K-Car vor der Möbelhandlung Skinner?
Glänzend blondes Filmstarhaar, in einer altmodischen Cary-Grant-Welle aus der Stirn nach hinten gekämmt. Hellgrüner zweireihiger Anzug, prachtvolle smaragdgrüne Krawatte, ein teuer aussehendes Grün wie das Grün seiner Augen. Und – Jesus! – ein Grübchen im Kinn, ein gemeißeltes Gesicht wie bei den Männern in den altmodischen Anzeigen für Arrow-Hemden.
Er war jung, vielleicht dreißig. Wenn sie nicht gesehen hätte, dass er aus dem ramponierten kleinen K-Car gestiegen war, hätte Georgia vermutet, dass sich da tatsächlich ein Filmstar in den Straßen von Six Points verirrt hatte.
Sie hatte gut zehn Sekunden Zeit, um ihn zu mustern, während er die Wagentür schloss und auf den Gehweg trat. Hochgewachsen und schlank. Große, starke Hände. Breite Schultern wie ein Footballspieler, dazu eine schmale Taille. Der Anzug war nicht teuer, aber er stand ihm gut.
O Gott, was blinkt da an der linken Hand? Ist das vielleicht ein schlichter goldener Ring? Ja, tatsächlich.
Georgia zog das Bäuchlein ein und ging vorbei. Sie spürte, wie er sie musterte. Schon seit einer ganzen Weile war sie nicht mehr so eingehend betrachtet worden. In allerletzter Sekunde drehte sie sich um und konfrontierte ihn mit der Tatsache, dass er sie beobachtete. Seine Augen funkelten; sie hatten etwas Animalisches. »Morgen«, flötete sie und segelte weiter.
Sie schwebte bis zur nächsten Ecke und in Ryan’s Drugs, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie wusste, dass sein Blick ihr folgte – sie spürte die Glut an ihrem Po –, aber sie gönnte ihm nicht die Genugtuung, sich noch einmal umzudrehen.
Die Glocke über der Tür klingelte. Da war Sally Cranford mit ihrem strahlenden Lächeln und dem eleganten, vorzeitig weiß gewordenen Haar. Sally arbeitete bei Ryan’s, seit sie und Georgia junge Mädchen gewesen waren, und sie wusste, wie sie ihre beste Kosmetikkundin zu behandeln hatte: Sie rief Georgia immer an und sagte ihr Bescheid, wenn die neuen Lippenstifte eintrafen.
»Schau mal an mir vorbei, ob du da einen gut aussehenden Mann siehst«, sagte Georgia.
»Allerdings – den neuen Pastor, und er kommt geradewegs auf dich zu.«
»Welchen neuen Pastor?«
»Unseren neuen Pastor. Hast du es nicht gehört? Und da ist er auch schon!« Die Glocke über der Ladentür klingelte. »Hey, Reverend, ich bin Sally, und das ist Georgia. Wir gehören zu Ihrer neuen Gemeinde. Willkommen in Six Points!«
»Oh, vielen Dank, Miss Sally, es ist mir eine Freude … und Miss Georgia, schön, Sie kennenzulernen. Ich habe schon von Ihnen gehört.« Seine Stimme klang aufregend sonor und passte gut zu dem markanten Kinn. Georgia überkam ein leichtes Schwindelgefühl, und ein hohes Rauschen erfüllte ihre Ohren. Sie schüttelte ihm die Hand, ohne etwas zu fühlen.
Sein Name sei Brent Colgate, sagte er, und es freue ihn sehr, als Pastor in eine Stadt mit so hübschen Damen zu kommen. Das hörte sich an wie ein Spruch von einem Gebrauchtwagenhändler, nicht wie etwas, das ein Pastor sagte. Und »Brent Colgate«, fand Georgia, klang wie ein erfundener Name.
Pastor Eugene war nie besonders attraktiv gewesen, auch wenn Georgia sich eingeredet hatte, dass er es sei. Aber dieser Mann hier sah schon beinahe zu gut aus. Es war, als würde man neben einem dieser kreisenden Scheinwerfer auf dem County-Jahrmarkt stehen: Wenn man direkt hineinschaute, taten einem die Augen weh.
Brent Colgate berichtete, seine letzte Kirche habe in einer viel kleineren Stadt gestanden. Eigentlich sei es nur ein verbreitertes Straßenstück namens Schuyler’s Creek in der Nähe der Grenze zu Tennessee gewesen. »Daphne und ich sind ganz aufgeregt, jetzt hier in der Großstadt zu sein – denn so kommt Six Points uns wirklich vor«, sagte er.
Er machte einen netten Eindruck, vielleicht ein wenig overdressed in seinem grünen Anzug und ein bisschen tollpatschig und eifrig wie ein übergroßes, fröhliches Hündchen, aber liebenswürdig. Er sagte, die First Baptist werde »die größte Kirchenfamilie sein, die wir je hatten«. Sally erzählte er, er brauchte eine Tube Pepsodent, aber Georgia kannte den wahren Grund, weshalb er hereingekommen war: Er wollte Georgia sehen.
Manchmal erforderte eine Verführung einen komplizierten Plan. Aber hier war es anscheinend nur eine Sache des Abwartens.
Sie tat, als studierte sie das Ladies’ Home Journal, während er seine Zahnpasta bezahlte, und sie fragte sich, warum jemand namens Brent Colgate sich für Pepsodent entschied.
Sie ignorierte ihn die ganze Zeit, während er sich im Drugstore aufhielt. Sie wusste, das würde ihn verrückt machen. Ein so gut aussehender Mann war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Und richtig – an der Tür drehte er sich um und kam zurück zum Zeitschriftenständer. »Hat mich wirklich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Miss Georgia. Ich hoffe, ich sehe Sie am Sonntag in der Kirche?«
»Das hoffe ich auch.« Sie schenkte ihm ein geheimnisvolles Lächeln, wandte sich wieder ihrer Illustrierten zu und blickte nicht mehr auf, bis die Glocke signalisierte, dass er draußen war.
Sally war beeindruckt. »Hast du gesehen, dass er den ganzen Weg zurückgekommen ist, um sich von dir zu verabschieden?«
»Ach ja?« Georgia zuckte die Achseln. »Ist mir nicht aufgefallen.«
»Ach, komm. Ist es wohl.«
»Der Mann sieht zu gut aus für einen Pastor«, meinte Georgia. »Und überhaupt, er ist viel zu verheiratet für mich.«
Sally behauptete, er sei eher nicht ihr Typ, aber sie könne sich vorstellen, dass er manchen Leuten gefalle.
»Sally, was ist denn aus Pastor Barker geworden?«
»Du lässt nach. Du bist doch sonst diejenige, die immer alles weiß«, antwortete Sally. »Herzinfarkt. Beim Fernsehen. Glücksrad. Sie haben ihm im Baptistenkrankenhaus vier Bypässe gelegt. Ich glaube nicht, dass er noch mal zurückkommt.«
Georgia kaufte einen »Bright Passion«-Lippenstift und eine Dose »Tawny Gold«-Gesichtspuder. Als sie auf die Straße trat, war der kleine Chrysler nirgends mehr zu sehen. Sie fühlte sich erleichtert.Wenn Brent Colgate neben seinem Wagen gestanden und sie mit seinen animalischen Augen angesehen hätte, dann wäre sie vielleicht geradewegs mit ihm ins Bett gehüpft. Daran war nichts auszusetzen – er hatte auf jeden Fall verdient, dass sie in Betracht zog, ihn auf ihre To-do-Liste zu setzen –, aber wann und wo das passierte, hatte sie zu bestimmen, und es durfte nicht passieren, nur weil sie wegen seines bloßen Anblicks völlig aus dem Häuschen geriet.
Sie öffnete die Tür ihres Wagens, trat einen Schritt zurück, um die Hitze herauszulassen, und sah, wie Krystal die Stufen der City Hall herunterkam. Sie erwartete ein normales Hallo, aber Krystals Gesicht ließ sie zögern.
»Du kannst im Moment nicht nach Hause fahren«, sagte Krystal. »Komm mit in mein Büro.«
»Was ist denn los?«
»Das Alabama Bureau of Investigation ist bei euch, um deinen Bruder zu verhaften.«
»Die Kriminalpolizei? O Gott. Weshalb?«
»Das ist kompliziert. Er sträubt sich. Hat sich im Zimmer deiner Mutter eingeschlossen und will nicht rauskommen.«
»Dann fahre ich besser hin.« Georgia drehte sich zu ihrem Wagen um.
»Nein, Georgia – er hat gedroht, das Haus in die Luft zu sprengen, wenn sie nicht weggehen und ihn in Ruhe lassen.«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Georgia. »Er kann nicht mal den Rasen sprengen, wenn ich es ihm nicht zeige. Kommst du mit? Steig ein.«
Krystal stieg ein, und Georgia fuhr los. Krystal verriet ihr, dass das ABI schon vor drei Jahren eine Akte über Brother angelegt habe, anlässlich seiner Demonstration vor dem Obersten Gericht. Agenten hätten beobachtet, wie er und Sims Bailey ein Quantum Sprengstoff gekauft und es in einem Drive-in-Schließfach in Alexander City deponiert hätten. Das ABI glaube, Brother und Sims hätten vor, die Zehn Gebote und den ganzen Obersten Gerichtshof von Alabama in die Luft zu sprengen.
»Herrgott noch mal!«, rief Georgia. »Als hätte ich nicht schon genug am Hals! Wann hast du davon erfahren?«
»Sie haben mich vor einer Woche angerufen«, gestand Krystal. »Es tut mir leid, Georgia, aber ich durfte kein Wort sagen. Das verstehst du hoffentlich.«
»Hast du Bill Allred angerufen?« Der Sheriff und seine Deputys kannten Brother, seit er klein war. Sie hatten ihn schon oft in den allerschlimmsten Situationen erlebt und wussten, wie man ihn beruhigte und auf den Rücksitz eines Streifenwagens beförderte.
»Ich wollte keinen allzu großen Wirbel machen«, erklärte Krystal. »Ich habe ihnen gesagt, er ist harmlos, aber dieser ABI-Typ ist ein Arschloch.«
»Herr im Himmel, Krystal, da bin ich mal eine Stunde nicht zu Hause – und schon passiert was!«
»Es hilft nichts, wen du dich jetzt aufregst.«
»Ich bringe den Kerl um«, sagte Georgia. »Und Sims Bailey war natürlich dabei und hat ihn angestachelt. Ich bringe sie beide um.«
Die Einfahrt wurde von einem auffällig unmarkierten, kackbraun lackierten Ford Crown Victoria blockiert. Georgia hatte halb damit gerechnet, dass ein Sondereinsatzkommando das Haus umzingelt hätte, aber nichts wies auf eine Konfrontation hin. Krystal hielt sich zurück, als Georgia auf die Veranda lief und die Haustür aufriss. »Jemand zu Hause?«
Sie marschierte durch den Flur in die Küche, und dort saß Brother mit den drei Männern zusammen, die gekommen waren, um ihn festzunehmen. Brother trank ein Budweiser aus der Dose und drückte sich ein blutiges Kleenex an die Nase. Die Agenten lachten über etwas, das er gesagt hatte. Als Georgia so plötzlich hereinplatzte, drehten sie sich um. Ihr Lachen verebbte, und sie starrten sie an.
»Was, zum Teufel, ist hier los?«, fragte sie.
Der dünne Mann, der links saß, stand auf. »Alabama Bureau of Investigation, Ma’am. Ich bin Agent Lathem. Wir stellen diesem Mann einen Haftbefehl zu.«
»Ich bin mit Lichtgeschwindigkeit hergekommen«, sagte Georgia, »weil jemand mir gesagt hat, hier liege eine Belagerungssituation vor.«
»Ja«, sagte Brother. »Ich habe versucht, gewaltlos Widerstand zu leisten.«
Die Agenten lachten. »Hat aber nicht so gut geklappt«, bemerkte Lathem.
Krystal kam schwer atmend herein. »Ich bin Bürgermeisterin – Lambert – habe ich – mit einem von Ihnen gesprochen?«
Der ältere Mann am Tisch stellte sich als Agent Poole vor und betrachtete Krystal skeptisch. »Mr. Bottoms war so kooperativ, wie Sie es vorausgesagt haben. Nachdem klar geworden war, dass wir etwas hatten, das er haben wollte.«
Georgia fragte, was das gewesen sei. Die Männer grinsten.
»Kurz gesagt, er hat sich für ein Bier ergeben«, meinte Lathem.
»Die hatten mich in Mamas Zimmer eingesperrt und wollten mir nichts geben, verdammt«, sagte Brother. »Wenn’s nach ihnen gegangen wäre, hätte ich da drin verdursten können.«
Wenn es jemals einen wirklich hoffnungslosen Fall gegeben hatte, dann war das Brother. Trotzdem hatte Georgia das Gefühl, sie dürfe nichts unversucht lassen. »Officer, was immer er da ausgebrütet haben mag, Sie sehen doch selbst, dass niemals die Gefahr bestand, er könnte es in die Tat umsetzen. Ich schlage vor, Sie sprechen mit Sheriff Allred. Der kennt die ganze Geschichte hier.«
»Sei doch still, Georgia. Du machst es nur noch schlimmer.« Brother trank einen Schluck Bier. Georgia sah, dass die Hand mit der Dose zitterte. Seine Großspurigkeit war nur gespielt.
Plötzlich tat er ihr furchtbar leid.
»Ich will nur verhindern, dass du im Gefängnis landest«, sagte sie.
»Das werden Sie nicht können«, erklärte Agent Poole. »Möglich, dass ein Richter ihn gegen Kaution laufen lässt. Ich täte es nicht.«
»Namens der Stadt Six Points kann ich Ihnen versichern, dass dieser Mann absolut harmlos ist«, mischte Krystal sich ein. »Ich kenne ihn fast sein ganzes Leben lang. Was er redet, hat oft keinerlei Bezug zur Wirklichkeit. Ich schlage vor, Sie kommen in die City Hall und sehen sich seine Akte an.«
»Aber nicht heute«, entgegnete Lathem.
»Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten.«
»Wir haben einen Haftbefehl, und wir sind durch unseren Eid verpflichtet, ihn zuzustellen«, sagte Poole. »Wenn Sie ihm helfen wollen, besorgen Sie ihm einen Anwalt. Kommt, Jungs, wir brauchen uns hier keinen Vortrag von Mr. – ich meine, Miz Bürgermeister anzuhören. Verzeihung.«
Der Spott in seiner Bemerkung war nicht zu überhören, und er zwinkerte seinen Kollegen zu. Agent Lathem lachte überrascht, als wollte er sagen: Ich kann nicht glauben, dass Sie das wirklich gesagt haben! Krystal biss die Zähne zusammen.
Der dritte Agent am Tisch sah aus, als wäre er ungefähr neunzehn. An seinem linken Ohrläppchen klebte ein Klecks Rasiercreme, und bis jetzt hatte er noch kein Wort gesagt. »Er ist alles andere als harmlos«, erklärte er jetzt. »Er ist ein heimischer Terrorist und gehört einer radikalen Gruppierung an. Er hat gegen mindestens neun Gesetze des Staates Alabama und gegen etliche Bundesgesetze verstoßen. Er wird im Knast schmoren, bis er alt und grau ist.«
»Gott, was sind Sie für ein Arschloch«, sagte Brother. »Ich komme freiwillig aus diesem Zimmer – zeige mich kooperativ, wissen Sie, Friede auf Erden und der ganze Scheiß. Und da erzählen Sie mir diesen Bullshit? Nichts da, Mann. Zu Ihrem Bullshit sage ich: Bullshit!«
Die beiden anderen Agenten lachten, als ihr Grünschnabel mit dem Rasierschaum am Ohr von einem Loser wie Brother zurechtgewiesen wurde. Normalerweise neigte Georgia, wenn es um Brother ging, dazu, sich auf die Seite von Recht und Gesetz zu stellen. Aber diese aufgeblasenen Clowns waren mit ihrem kackbraunen Crown aus Montgomery gekommen, nur um ihr den Tag zu verderben.
»Was ist das für eine Gruppierung?«, fragte sie.
»Ma’ am?«
»Sie haben gesagt, er gehört einer radikalen Gruppierung an.«
»Den AA«, sagte Brother.
»Er geht zu den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker. Bezeichnen Sie die als radikale Gruppierung?«
»Er gehört zu einer Bande, die sich Alabama Anarchists nennt«, behauptete Junior-Detective.
»Die AA«, sagte Brother.
»Herrgott noch mal!«
»Ich hab Ihnen doch erklärt, das ist keine Gruppierung. Das sind bloß ich und Sims«, sagte Brother.
»Leute«, sagte Georgia, »wenn ich Ihnen beweisen kann, dass mein Bruder niemals vorhatte, irgendetwas in die Luft zu sprengen, können wir Ihnen dann einen Lunch servieren und Sie danach verabschieden?«
»Wir haben schon gegessen.« Agent Poole stand auf. »Wir nehmen ihn jetzt mit.«
»Aber wenn ich Ihnen demonstrieren kann …«
»Ma’am«, unterbrach Agent Poole, »hindern Sie uns nicht an der Ausübung unserer Pflicht.« Er trat hinter Brother, riss ihn grob vom Stuhl hoch, zog seine Hände auf den Rücken und legte ihm Handschellen an.
»Verdammt, Mann, Sie brauchen mir nicht wehzutun«, schrie Brother. »Ich leiste doch überhaupt keinen Widerstand.«
»Klappe«, sagte Poole. Georgias Einmischung passte ihm nicht, und sein Stirnrunzeln bezog sich auch auf Krystal … ah, okay, vielleicht war es das: Er hatte einen Blick auf Krystal geworfen und hegte jetzt gewisse Vermutungen über sie und Georgia.
»Die Gesellschaft verfolgt seit jeher den Visionär«, erklärte Brother. »Ich habe versucht, euch zu warnen, Leute: Wer diesen Mann in seinem Amt belässt, ist ein Götzenanbeter.«
Agent Lathem schnaubte.
»Schafft ihn hier raus«, befahl Poole.
Georgia stellte sich in die Tür. »Wohin bringen Sie ihn?«
»Treten Sie bitte zur Seite«, befahl Poole.
»Habe ich nicht das Recht zu erfahren, wo ich Kaution für ihn stellen kann?«
»Diese Information erhalten Sie im Büro des ABI in Montgomery.« Er schob sie beiseite und machte Platz, damit Lathem und der Junior Brother aus der Küche führen konnten. Brother sträubte sich kein bisschen, aber sie ließen ihn trotzdem nicht gehen wie einen normalen Menschen, sondern schleiften ihn durch den Flur und zur Tür hinaus.
Georgia folgte ihnen auf die Veranda. »Ich kann Sie wegen Polizeibrutalität anzeigen!«
»Tun Sie das«, sagte Agent Poole.
»Lebend kriegt ihr mich nicht, Bullen!«, rief Brother.
»Wir haben dich doch schon«, sagte Lathem, und die anderen lachten wie zwei Schuljungen.
Poole legte Brother die Hand auf den Kopf und drückte ihn auf den Rücksitz. Dann ging er um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Lathem schob sich zu Brother auf den Rücksitz, und Junior saß vorn. Der Ford setzte auf die Straße zurück und fuhr davon.
Georgia merkte, dass Krystal neben ihr stand, und sagte: »Ich hätte gute Lust, ihn diesmal einfach hängen zu lassen.«
»Das könnte dir niemand verdenken.«
»Gott, ich wünschte, ich würde noch rauchen. Willst du einen Kaffee oder so was?«
»Ich muss zurück an die Arbeit«, antwortete Krystal. »Willst du mich etwa zu Fuß gehen lassen?«
»Lass mich rasch bei Mama reinschauen, dann fahre ich dich.«
Little Mama saß in ihrem Zimmer vor dem Fernseher und sah zu, wie Martha Stewart eine Pastetenkruste zubereitete. Welche Rolle sie in Brothers Geiseldrama auch immer gespielt haben mochte, sie hatte sie schon wieder vergessen. Von irgendwelchen Polizisten wusste sie nichts. Manchmal war Mamas Gedächtnisverfall beinahe ein Segen. Unversehens wünschte Georgia, sie könnte sich an einer milden Variante anstecken, nur für einen Nachmittag.
Als sie am Pfarrhaus der First Baptist Church vorbeifuhren, sah sie Brent Colgate in der Einfahrt stehen, immer noch im hellgrünen Anzug. Er hob einen Karton aus dem Kofferraum seines K-Car. »Wow, sieh dir das an«, sagte Krystal. »Ich glaube, ich muss Baptistin werden.«
»Ich danke dem Berufungsausschuss aus tiefstem Herzen«, sagte Georgia zustimmend. »Hör mal, Krystal – glaubst du, du könntest in Montgomery anrufen? Du weißt, ich frage sehr ungern. Ich bitte dich nie, dich in den Schlamassel einzumischen, den Brother anrichtet. Aber das hier spielt sich auf Staatsebene ab. Da habe ich absolut keine Beziehungen.«
»Ich habe mich schon gefragt, wen ich anrufen könnte«, sagte Krystal. »Ich kenne immerhin den Direktor des Amts für Öffentliche Sicherheit. Der ist zwar nicht der direkte Vorgesetzte dieser Typen, aber er wird wissen, mit wem wir reden können.«
»Das wäre fabelhaft«, meinte Georgia. »Was für ein Glück ich habe: Meine beste Freundin ist auch Bürgermeisterin.«
Nach einer bedeutungsschwangeren Pause sagte Krystal: »Vielleicht nicht mehr lange.«
»Was soll das heißen?«
»Du weißt, dass ich im September zur Wiederwahl antrete.«
»Natürlich. Ohne Konkurrenz, wie immer.«
»Die Meldefrist für Kandidaten endete gestern Nachmittag um fünf. Und wie sich herausstellte, habe ich doch Konkurrenz.« Krystal schaute lächelnd aus dem Fenster und genoss ihre Geheimniskrämerei.
»Du machst Witze. Wer ist es?«
»Madeline Roudy.«
Georgias Unterkiefer klappte herunter.
»Pass auf, der Wagen da …« Krystal griff ins Steuer und lenkte den Wagen geschickt um einen Cadillac herum, der vom Parkplatz des Schnellrestaurants kam.
»Danke … Madeline kandidiert gegen dich? Kann sie das denn?«
»Natürlich kann sie das.« Krystals Lächeln wurde schmaler. »Ich hab sie ja eingemeindet. Wenn sie sich alle einig sind, haben sie genug Stimmen, um sie zu wählen – und weshalb sollten sie es nicht sein? Ich wusste, dass es irgendwann dazu kommen würde, aber ich hatte gehofft, sie würden mir zum Dank wenigstens noch eine oder zwei Wahlperioden Zeit lassen, bevor sie mich rausschmeißen.«
»Krystal, du bist die beste Freundin, die sie in dieser Stadt haben. Wer sonst hat denn für die Eingemeindung gekämpft?«
»Sie finden nicht, dass sie mir was schuldig sind. Und weißt du was? Sie haben recht. Wie auch immer – bei mir bist du an der falschen Adresse. Lass mich bitte aussteigen. Ich muss was tun für die Menschen hier, solange ich den Job noch habe.«
Krystal war erstaunlich vergnügt, aber Georgia wusste, dass sie niedergeschlagen sein musste. Bürgermeisterin von Six Points zu sein, war das Einzige, was Krystal sich je wirklich gewünscht hatte. In dem Wirbel um die Eingemeindung hatte Georgia nicht erkannt, dass sie damit wissentlich die Möglichkeit schuf, aus dem Job gedrängt zu werden.
Madeline Roudy?
Eine beeindruckende Frau. Eine Kinderärztin, die für arme kranke Kinder arbeitete. Genau die Person, die man sich als ersten schwarzen Bürgermeister für Six Points wünschen würde.
Krystal hatte überhaupt keine Chance.
Genau wie Brother.
Und dieser neue Pastor, Brent Colgate? Der hatte auch keine Chance.
Der Stärkere überlebte, das war ein Naturgesetz. Das kann man mir nicht vorwerfen, dachte Georgia. Die Welt war schon so, als ich kam.