5

Am Montag um Mitternacht kam der Augenblick des Wechsels von den abgegriffenen Blättern der To-do-Liste zu dem mit knappen Notizen versehenen Zeitplan. Nachdem Georgia diesen Plan an den Kühlschrank gehängt hatte, wusste sie, was sie in jeder Minute bis Dienstag, elf Uhr dreißig, wenn die ersten Gäste kämen, zu tun hatte, damit sichergestellt war, dass jedes Gericht im Warmhalteofen oder im Kühlschrank die ideale Serviertemperatur aufwies.

Georgia behandelte die Planung und Durchführung ihres Lunchs mit wissenschaftlicher Präzision in allen Details. Jedes Läuten der Türglocke vor elf Uhr dreißig wurde konsequent ignoriert, auch wenn Krystal diese harte Linie für lächerlich hielt. »Willst du sie wirklich bis Punkt elf Uhr dreißig auf der Veranda stehen lassen?«

»Ich lade nur Leute ein, die lesen können«, antwortete Georgia. »Auf der Einladung steht nicht elf Uhr fünfzehn. Wenn ich keine Grenze ziehe, kreuzen sie schon am Abend vorher mit Schlafsäcken auf. Außerdem stehen auf der Veranda ein paar sehr hübsche Schaukelstühle, in denen sie warten können.«

Der Plan gestattete ihr exakt fünf Stunden Schlaf. Aber als sie den Kopf, wie festgelegt, um ein Uhr fünfzig auf das Kissen sinken ließ, hörten ihre Gedanken nicht auf zu kreisen, und immer wieder sah sie, wie Eugene hinter seiner Fliegentür hervortrat, um den Konsequenzen seines Handelns ins Auge zu sehen. Sie sah die Esszimmerstühle auf den Armen der Möbelpacker vorüberziehen, und Reihen um Reihen von Feigen im Prosciuttomantel marschierten zum Horizont.

Dabei war es unbedingt nötig, dass sie gut schlief, damit alle sagen konnten, wie wundervoll sie aussehe. Sie brauchte einen rosigen, frischen Teint als Kontrast zu dem prachtvollen smaragdgrünen Ralph-Lauren-Kleid, das sie eigens in der großen Belk’s-Filiale in Mobile bestellt hatte.

Sie lächelte, als sie daran dachte, wie gut sie in diesem Kleid aussah, und kuschelte sich tiefer in das weiche, warme Kopfkissen.

Irgendwann nach drei Uhr morgens kam Brother betrunken hereingestolpert, die dritte Nacht hintereinander. Er polterte die Treppe hinauf wie ein Pferd, das aus seiner Box stürmt, und prallte gegen jede Wand und jedes Geländer auf dem Weg zu seinem Zimmer.

Georgia stand auf, ging hinunter und stellte fest, dass die Haustür offenstand, eine Einladung an die ganze Welt.

Whizzy hielt Wache. Als er Georgia sah, begann er, mit dem Schwanz zu wedeln. Sie bückte sich, kraulte ihn hinter den Ohren und schloss die Tür.

Es dauerte eine Weile, bis sie wieder einschlief, und als sie das nächste Mal aufwachte, zirpte der Digitalwecker, und draußen dämmerte der Morgen. Ihr Herz fing an, aufgeregt zu klopfen, wie es das früher am Weihnachtsmorgen getan hatte, als sie noch ein Kind war. Sie sprang aus dem Bett, ohne sich Zeit für den üblichen Seufzer zu nehmen. Gott, wie freute sie sich auf diesen Tag! Sie war zu gern die prominenteste Gastgeberin von Six Points; sie war entzückt, wenn es in ihrem Haus von Damen wimmelte, die mit lauter Ooohs und Aaahs die ausgezeichneten Speisen und Dekorationen bewunderten, und sie liebte es, ihre Komplimente zu hören, wenn die anderen nicht merkten, dass sie lauschte. Georgia war alles andere als reich, aber einmal im Jahr konnte sie sich fühlen wie die reichste Lady in der Stadt.

Das Telefon klingelte, als sie aus der Dusche kam. Sie wickelte sich in ein Badetuch und lief tropfend in den Flur. Es war Lon Chapman in der Bank. Er rief immer an, bevor seine Kassierer zur Arbeit kamen, wenn er an ihrer Dienstagabendverabredung etwas ändern wollte.

Georgia legte Wert darauf, mit den Männern in ihrem Leben legitime Freundschaften zu pflegen. Das war einfacher, als sich herumzudrücken und ihre Anrufe vor Little Mama zu verheimlichen. Ihr Geld zum Beispiel lag bei Lon auf der Bank, und so hatte er gute Gründe, sie anzurufen.

»Hey, hallo«, begrüßte sie ihn. »Was macht das Geld?«

»Komm, spring nur rein, es macht Spaß, drin zu schwimmen.« Lon lachte. »Und was macht die Schönheit?«

»Du schmeichelst mir, Lon. Aber lass dich von mir nicht abhalten.«

Lon lachte. Er war ein lustiger Typ – drahtiges Haar wie Stahlwolle, ein breites, freundliches Gesicht und ein dröhnendes Lachen, das in regelmäßigen Abständen losging wie eine Kanone. Er redete tough wie ein Polizist im Fernsehen, kleidete sich ein bisschen schrill (dunkle Hemden, weiße Satinkrawatten) und hielt sich für eine Art Six-Points-Playboy. In jüngeren Jahren hatte er sich zweimal scheiden lassen, und seitdem lebte er solo. Ein paarmal im Jahr fuhr er mit seinem protzigen goldfarbenen Cadillac nach New Orleans, um dort ein Wochenende abzutauchen – der Himmel allein wusste, was er da trieb. Hin und wieder hatte er Georgia eingeladen mitzukommen, aber sie meinte, New Orleans interessiere sie kein bisschen.

Das war so ungefähr die größte Lüge aller Zeiten. Sie war noch nie in New Orleans gewesen, aber sie kannte es besser als viele, die dort wohnten. Sie hatte Bücher gelesen und Stadtpläne studiert. Von allen Orten auf der Welt stellte New Orleans Georgias Lieblingsstadt dar, und sie wusste, es war ihr bestimmt, dorthin zu gehen. Alle ihre Fantasien über ihr Leben endeten in New Orleans. Irgendwann, irgendwie, wenn Little Mama nicht mehr lebte und Georgias Zeit in Six Points zu Ende wäre, dann würde sie hinunterfahren – nie wieder weggehen. Sie würde an dieser Stadt festwachsen wie Moos an einem Baum. Sie würde dort alt werden und auch dort sterben. Man würde ihren Leichnam in einen dieser eleganten Marmorsarkophage legen, in denen man vor der Feuchtigkeit sicher ist.

Es wäre nett, den ersten Ausflug nach New Orleans am Arm eines großen, spendablen Mannes wie Lon Chapman zu machen. Mit ihm gäbe es die besten Cocktails und Restaurants, das schönste Hotel – eine Edelherberge im French Quarter, mit Innenhof, Springbrunnen und Bananenbaum, wie die in der Souvenirbroschüre von Mamas und Daddys Flitterwochen.

»Was kann ich für dich tun, Lonnie?«

»Hör zu, Babe, ich weiß, du bist heute beschäftigt, aber ich hatte gehofft, ich könnte heute Abend trotzdem vorbeikommen. Okay? Von mir aus auch spät.«

»Oh, Lon, Honey, das ist unmöglich, sorry. Hast du’s vergessen? Heute ist mein September-Lunch.«

»Ja, aber der ist doch mittags, oder? Ich rede von heute Abend. So spät, wie du willst. Ich hab uns in Meridian ’ne schöne Flasche Wein besorgt.«

Georgia war plötzlich ein wenig gereizt – aber halt! Warum soll Lon sich für deinen Lunch interessieren? Das ist eine Damenveranstaltung. Du kannst dich geschmeichelt fühlen, dass er überhaupt daran gedacht hat.

»Lonnie, ich würde dir zu gern den Gefallen tun, Sugar, aber du hast keine Ahnung, wie viel Arbeit es ist, hinter den Damen sauber zu machen. Die toben durch das Haus wie eine wilde Hundemeute. Heute Abend um acht bin ich platt wie eine Flunder.« Sie senkte die Stimme. »Ich mache es nächste Woche wieder gut.«

»Ach, komm schon, Georgia. Ich muss dich sehen! Wie wär’s denn … jetzt gleich? Ich könnte sagen, ich hab ’ne Sitzung beim Bankenverband …«

Also wirklich! Vor nicht mal einem Monat hatte Lon in letzter Minute angerufen, um den Dienstagabend unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand abzusagen, und jetzt sollte sie einen Salto schlagen, um ihn am arbeitsreichsten Tag des Jahres noch irgendwie unterzubringen? Männer nahmen sich viel zu wichtig. Irgendwann fingen sie an zu glauben, man gehörte ihnen, man sei ihr Besitz, und man müsse bereit sein, sie zu unterhalten, wann immer sie Lust haben, sich unterhalten zu lassen.

Manche Mädels mochten ihre Affären auf diese Weise handhaben. Dieses Mädel nicht.

»Geht leider wirklich nicht, Lonnie, tut mir leid«, sagte sie in lockerem Ton. »Meine Aufgabenliste ist so lang wie dein Arm. Schon wenn ich hier mit dir telefoniere, verspäte ich mich.«

Jetzt kam Little Mama durch den Flur geschlurft. In letzter Zeit schien sie morgens vergesslicher zu sein als sonst. Was sie heute Morgen vergessen hatte, war ihr Morgenmantel. Sie trug einen ausgeleierten alten BH und eine große weiße Unterhose, die hoch auf der Taille saß. Georgia wollte schimpfen, aber dann schaute sie lieber woanders hin. Little Mama verschwand im Bad und schlug die Tür hinter sich zu.

Lonnie redete unterdessen immer weiter. »Komm schon, Babe. Du hast keine Ahnung, wie es mir – ähm … ja, okay.« Sein Tonfall wurde sachlich. »Ja, natürlich, die Pfandbriefe werden ja jetzt fällig. Ich muss nur den Justiziar verständigen, und dann können wir die Einlagen freigeben. Ich rufe ihn an, und dann melde ich mich wieder.«

Gott sei Dank – irgendein Kassierer war zu früh gekommen. »Okay, Lonnie«, sagte Georgia, »tu das, mein Lieber, und ruf mich morgen an, dann erzähle ich dir von meinem Lunch.«

Die Badezimmertür schwang auf und eröffnete Georgia einen Blick auf ihre Mutter, die mit dem schlabbrigen Schlüpfer an ihren Knöcheln auf dem Klo saß.

Diese Tür hing nicht mehr lotrecht in den Angeln, wie alle verdammten Türen in diesem Haus. Man musste am Türknauf ziehen, damit das Schloss einrastete.

Georgia blinzelte, um das alles nicht ganz so scharf zu sehen, warf den Hörer auf die Gabel und sprintete durch den Flur. »Ich mach zu, Mama!«, rief sie und zog die Tür sanft ins Schloss. Sie wollte sie nicht zuschlagen und damit einen Herzanfall heraufbeschwören; offensichtlich war die Ärmste so früh am Morgen geistig noch nicht ganz da.

Bei all ihren sorgfältigen Vorbereitungen hatte Georgia nie daran gedacht, dass Little Mama vielleicht nicht fit genug sein könnte, um wie sonst herumzustehen und so zu tun, als wäre sie die zweite Gastgeberin. Georgia fand Mamas Vergesslichkeit nicht so schlimm – jedenfalls nicht so schlimm, dass man irgendetwas hätte tun müssen. Aber jetzt wünschte sie plötzlich, sie hätte jemanden, bei dem sie Little Mama für den Nachmittag parken könnte, ohne sie zu kränken. Sie konnte sie ja nicht den ganzen Tag im Auge behalten, um sicher zu sein, dass sie sich nicht vor allen Leuten entkleidete.

Sie zog Shorts und eine Baumwollbluse an und machte ihr Bett besonders ordentlich für all die Neugierigen, die »aus Versehen« in ihr Zimmer spazieren würden. Sie legte das Lauren-Kleid zurecht (so wunderschön in seinem smaragdgrünen Ton) und hängte das »Bitte nicht stören«-Schild an den Türknauf an Brothers Zimmer. Nach seiner frühmorgendlichen Heimkehr konnte sie davon ausgehen, dass er den ganzen Lunch verschlafen würde.

Dann lief sie die Treppe hinunter und schaute auf ihren Zeitplan.

Noch nicht mal angefangen, und schon zehn Minuten im Rückstand!

Das Frühstück konnte sie ausfallen lassen – das brachte fünf Minuten. Und sie hatte fünf Minuten blockiert, um Krystal anzurufen und sie daran zu erinnern, die geschliffenen Glasplatten für die »Red Velvet«- Torte, den Wackelpudding und die Coca-Cola-Törtchen mitzubringen. Sie beschloss darauf zu vertrauen, dass Krystal von selbst daran denken würde, und bingo! – sie war wieder im Plan.

Um diese Zeit würden alle Damen damit beschäftigt sein, ihre Kleider herauszulegen und sich die Haare zu machen. In den nächsten zwei Stunden würde das Telefon nicht klingeln, und das war gut so, denn der Zeitplan hielt Georgia auf Trab. Sie lief hin und her, kürzte Kerzendochte und strich Falten aus Tischdecken, und ein paar Dutzend Mal rannte sie die Treppe hinauf und wieder hinunter.

Krystals Tischdekoration hatte dieses Jahr eine besonders dramatische Note. Sie hatte sich für ein Naturthema entschieden: massenhaft Zweige, Kiefernzapfen, kahle Äste und bemooste Steine, Herbstlaub und süße kleine Teiche in Schüsseln, Servietten, die zu dekorativen Schwänen gefaltet waren. Georgias Geschenktüten aus Goldfolie funkelten überall zwischen den Gedecken inmitten von Wolken zierlicher Schleifen in Grün und Braun. Nie hatte das große Haus festlicher ausgesehen. Auf jedem Sims, jedem Sideboard lagen grüne Efeuranken und balsamisch duftende Potpourris mit himmlischen Fresienakzenten. (Der Blumenladen Tommy’s Dixie Florist war der große Gewinner bei alldem.) Die Pressglasvasen ihrer Großmutter hatte Georgia mit scharlachroten Gladiolen gefüllt.

Sie fand wuchtige, einfarbige Gebinde einer einzelnen Blumensorte besonders wirkungsvoll, und die Gladiolen hatte sie in lauwarmes Wasser gestellt, damit sie schnell aufgingen und sich gegen Mittag im schönsten Rot präsentierten.

Aber irgendetwas an Lon Chapmans Anruf ließ ihr keine Ruhe. Es gab einen Grund, weshalb sie nachgeben und ihn heute Abend noch kommen lassen sollte. Sie versuchte sich zu erinnern. Gab es etwas, das er für sie tun konnte?

Schon wieder eine leere Rolodex-Karte.

Verdammt! Davon gab es in letzter Zeit zu viele. Ihr Kopf war überfrachtet mit nutzlosen Informationen; manchmal wachte sie auf und zählte die Zutaten eines Kochrezepts auf.

Irgendetwas, das Krystal gesagt hatte …

Am vergangenen Abend, als sie die Schwäne aus den Servietten gefaltet hatten. Krystal hatte über ihre Brille hinweggeschaut und gesagt: »Nur einer von diesen alten Mistkerlen muss einknicken, mehr brauche ich gar nicht. Dann hätten die anderen einen Vorwand.«

Das war es – Krystals Eingemeindungsplan. Die Hälfte der alten Mistkerle im Stadtrat erzählten ihr unter vier Augen, sie wünschten, sie könnten mitmachen. Aber keiner wollte als Erster seine Zustimmung geben.

Lon Chapman war einer von diesen Mistkerlen.

Georgia ging zum Telefon in der Küche. Kein Wählton. Das überraschte sie. Das Telefon war das verlässlichste Gerät im Haus. Sie drückte ein paarmal mit dem Finger auf die Gabel. Nichts.

Sicher hatte sie nach dem Gespräch mit Lonnie oben nicht richtig aufgelegt.

Sie lief die Treppe hinauf und zum Telefontisch. Richtig, das eine Ende des Hörers lag schräg neben der Gabel. Kein Wunder, dass es den ganzen Morgen so still war. Sie holte ihr Adressbuch und wählte die Nummer der Bank.

Besetzt? Dass der Anschluss der Bank besetzt war, hatte sie noch nie erlebt. Sie nahm sich vor, ihn später anzurufen.

Georgia mischte sich nicht oft in das Leben ihrer Männer ein, und wenn sie es tat, achtete sie darauf, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. So wäre sie beispielsweise niemals direkt zu Richter Barnett gegangen, um ihn aufzufordern, er möge Krystals Eingemeindungsplan zustimmen. In finanziellen oder politischen Angelegenheiten wird ein Mann auf praktisch jeden anderen Mann hören, aber nicht auf eine Frau. Das mochte man als sexistisch missbilligen, aber Georgia wusste, dass es so war. Ihre Methode bestand deshalb darin, dass sie Mann A überredete, Mann B einen Gefallen zu erweisen, der dann über C, D und E zu A zurückkehrte. So bewegte Georgia die Dinge in Six Points, und niemand ahnte, dass sie das tat.

Nach dem Plan war sie ihrer Zeit jetzt um acht Minuten voraus. Als Nächstes musste sie die Backöfen vorheizen und die ersten Speisen aus Kühlschränken und Gefriertruhe nehmen.

Sie ging durch den Korridor zu dem kiefernholzgetäfelten Zimmerchen, in dem Little Mama nachmittags ihre Fernsehgeschichten anschaute. Sie wappnete sich für den Blick durch die Tür, aber überrascht stellte sie fest, dass Mama ihr adrettes, hellblaues Sonntagskleid trug, in dem sie zur Kirche ging, und ihr schütteres Haar säuberlich gebürstet hatte.

»Du siehst aber hübsch aus!«, sagte Georgia.

Little Mama hatte sogar ihre beste Kette umgelegt, ein goldenes, mit kleinen Staubperlen besetztes Medaillon. Abgesehen von den flauschigen, pinkfarbenen Häschenpantoffeln mit den Kulleraugen wirkte sie absolut präsentabel. Sie schaute auf den Fernseher, der leise vor sich hin murmelte. »Ich wollte Kaffee, aber ich hab dich herumklappern hören. Da wollte ich nicht im Weg sein.«

»Sei nicht albern«, sagte Georgia. »Na komm, ich mache dir eine Tasse. Willst du jetzt deine Frühstücksflocken?«

»Nein. Ich bleibe lieber hier, da störe ich niemanden.«

»Ach, komm, Mama. Du musst doch einen Mordshunger haben.«

»Es geht schon …« Little Mama ließ den Satz in der Schwebe. Diese Jammernummer war gar nicht ihre Art. Georgia trat ins Zimmer, damit sie besser sehen konnte, und entdeckte so etwas wie Blutkrusten in Little Mamas Mundwinkeln. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es Lippenstift war.

Little Mama beugte sich vor. »Ich weiß nicht, warum sie auf allen Sendern denselben Film zeigen.«

»Welchen Film?«

»Flammendes Inferno.«

»Oh, der gefällt mir.« Georgia ging rückwärts hinaus. »Dieser Steve McQueen ist ein gut aussehender Mann.« Little Mama antwortete nicht. »Ich bringe dir deinen Kaffee, Mama. Mach’s dir bequem und genieß den Film.«

Little Mama starrte den Bildschirm an.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das war klar. Es lag nicht nur an dem Lippenstift und den Häschenpantoffeln. Da war auch eine neue Gebrechlichkeit, das Gefühl, dass sie seit gestern an Boden verloren hatte.

Ted Horn hatte erklärt, dass man in den Anfangsstadien der Demenz gute und schlechte Tage in unregelmäßiger Reihenfolge erlebte. Es sah nicht so aus, als ob es heute ein guter Tag werden würde.

Georgia goss gerade Wasser in die Maschine, als das Telefon klingelte. Als sie abnahm, hörte sie gerade noch, wie der Anrufer auflegte. Die Uhr zeigte 10.58 Uhr. Wahrscheinlich eine Zu- oder Absage in letzter Minute.

Sie schob das erste Blech mit gefüllten Feigen in den Backofen, stellte den Timer ein, nahm dann die Servierplatten aus der Kühltruhe auf der hinteren Veranda und trug sie zum Mahagonitisch im Esszimmer.

Mit Krystals Walddekoration aus Moosen und Farnen sah das Zimmer aus wie ein National Geographic-Sonderheft. Den ganzen vergangenen Abend hatte sie damit zugebracht, Tüten mit abgestorbenem Pflanzenmaterial hereinzuschleppen und jede erreichbare Fläche mit Spanischem Moos, Girlanden aus trockenem Laub, Preiselbeeren und verstreuten Samenkapseln zu schmücken. Georgia war zwar ein wenig besorgt wegen der Zecken und Spinnen, die aus diesem ganzen Moos hervorgekrochen kommen könnten, aber sie musste doch zugeben, dass das Resultat wirklich hübsch war.

Sie nahm ihre Kamera aus dem Sideboard. Leise pfeifend heizte das Blitzlicht sich auf. Sie machte gern Albumfotos vom Tisch in seiner ganzen Vollkommenheit, ehe die Meute hier durchtrampelte.

Die Kaffeemaschine gurgelte und spuckte. Georgia bestückte ein Tablett mit Kaffee, Orangensaft und Cap’n Crunch-Frühstücksflocken und brachte es Little Mama, die immer noch wie gebannt vor ihrem Film saß. (In letzter Zeit war es ein Kampf, die Cap’n Crunch-Knusperflocken auf das Frühstück zu beschränken; Little Mama hätte sie mit Vergnügen dreimal täglich verspeist.) »Komm, wir müssen deinen Lippenstift in Ordnung bringen. Und Schuhe hab ich dir auch mitgebracht.«

»Ich hab schon Schuhe an«, sagte Mama.

»Nein, das sind Häschenpantoffeln. Das hier sind deine Schuhe.« Sie hielt sie hoch.

Little Mama lächelte mit lippenstiftverschmierten Mundwinkeln. »Aber die hier halten mir die Füße warm.«

»Die Damen kommen in einer Stunde. Du siehst sonst so hübsch aus. Da willst du auf unserer feinen Party doch nicht mit Häschenpantoffeln erscheinen. Komm, sei brav und zieh dir Schuhe an.«

»Rede nicht in diesem Ton mit mir, junge Dame!«, fauchte Little Mama. »So groß bist du noch nicht, dass ich dich nicht übers Knie legen könnte.«

»Okay.« Georgia betupfte Mamas Mundwinkel mit einem feuchten Waschlappen. »Halt still.«

Mama riss den Kopf zur Seite. »Himmel, ich glaube, dich sticht der Hafer, Missy Jean!«

»Schon gut, Mama. Tut mir leid.«

»Immer wieder das Gleiche«, schimpfte Little Mama. »Ich hab’s so satt.«

»Was hast du satt?«

»Diesen verdammten Film. Sie zeigen immer denselben Teil. Keine Ahnung, was sie damit beweisen wollen.«

Georgia warf einen Blick auf den Bildschirm. Man sah den Wolkenkratzer in einer riesigen Flammenwolke und Hubschrauber, die wie Libellen um ihn herumschwirrten. »Warte nur, gleich kommt Steve McQueen wieder.« Sie stand auf. »Ich muss mich umziehen.«

Sie ging in die Küche und wählte Krystals Nummer. Es klingelte und klingelte. Das war merkwürdig, dachte Georgia, genauso merkwürdig wie das Besetztzeichen in der Bank. Wenn Rhonda auch nicht an ihrem Schreibtisch saß, musste sich doch der Anrufbeantworter einschalten. Was, zum Teufel, war heute los mit dem Telefon? Hoffentlich fummelte die Telefonfirma nicht ausgerechnet am Tag ihres Lunchs am System herum.

Sie unternahm mehrere Ausflüge zur Gefriertruhe, um die verzinkte Wanne mit gemahlenem Eis zu füllen. Sie schleppte Tabletts mit ihren Lobster-Scallion-Shooters in den Kerzengläsern heran und drückte sie in dekorativen Reihen in das Eis, wie sie es auf dem Bild in Bon Appetit gesehen hatte. Der ganze Hummer hatte nur hundertdreißig Dollar gekostet (nur!), aber in so vielen kleinen Gläsern sah es nach einer satten Million aus. Ein einzelner leuchtend roter Hummer lag ausgebreitet in der Mitte, nur als Dekoration. In der Mitte des Tisches, von Spots angestrahlt, standen die Reihen der Gläschen mit einem Klecks dunkelroter Sauce und einem grünen Zwiebelstiel. Es war ein beeindruckendes Arrangement.

Georgia trat zurück, um den Anblick zu bewundern. Mädel, du hast dich selbst übertroffen. Manchmal hörte sie Daddys Stimme, wie er ihr gratulierte und die netten Dinge sagte, die er zu seinen Lebzeiten nie wirklich gesagt hatte. Daddy gehörte zu den Leuten, die in der Erinnerung angenehmer waren als im wirklichen Leben. Selbst Little Mama wusste nicht viel über ihn zu sagen, und sie war fünfzig Jahre lang mit ihm verheiratet gewesen. Georgia konnte nicht vergessen, wie unglücklich sie miteinander gewesen waren und wie sehr sie sich dauernd gestritten hatten. Sie hatte sich immer geschworen, reich zu sein, wenn sie erwachsen wäre, damit sie niemals einen Mann heiraten müsste, den sie nicht mochte.

Und jeder, der dieses Hummerarrangement sähe, würde annehmen, dass sie tatsächlich reich sei. Das gefiel ihr – sie hatte den Bottoms ein wenig von ihrem alten Ansehen zurückgegeben. Sie wusste, dass es oberflächlich gedacht war, aber in ihren Augen zählte der äußere Schein mehr als alles andere.

Apropos – wenn sie sich jetzt nicht umzöge, würde sie die ersten Gäste in diesen alten Lumpen empfangen müssen. Sie lief in ihr Zimmer, riss sich die Sachen vom Leib, in denen sie die Vorbereitungsarbeiten erledigt hatte, zwängte sich in die figurformende Strumpfhose und den Wonderbra und zog das Lauren-Kleid aus smaragdgrüner Seide an. Sie kämmte ihr Haar, frischte ihr Make-up auf und sprühte ein Wölkchen Chanel in die Luft. Sie hatte gerade ihre Ohrringe mit den Brillanten befestigt, als es läutete. Auf geht’s! Punkt elf Uhr dreißig.

Whizzy bellte. Georgia rief ihn nach oben und sperrte ihn in Daddys Zimmer, wo er sich viel wohler fühlen würde, solange die Gäste da wären.

Vor dem mit Goldfiligran gerahmten Spiegel in der Diele blieb sie stehen. Hinreißend. Sie spitzte den Mund und warf ihrem Spiegelbild eine Kusshand zu, dann ging sie mit einem strahlenden Gastgeberinnenlächeln zur Tür.

Und wer war der erste Gast? Natürlich Geraldine Talby, zuletzt mit gereizter Miene gesehen, als Georgia in der Kirchenbank an ihr vorbeidrängte, um in Ohnmacht zu fallen. Jetzt stand sie strahlend auf der Veranda. Die Farbe ihres Hosenanzugs war ein heikles Kürbisorange mit braunen Paspeln an den Revers. Herbstlich, aber nicht auf attraktive Art.

»Ja, Geraldine, wie wundervoll, Sie zu sehen! Fabelhaft – Sie sind die Erste. Hey, diese Farbe steht Ihnen wirklich gut. Kommen Sie herein!«

Wer will die Erste auf einer Party sein? Georgia persönlich hätte sich zehnmal um den Block geschlichen, um einem solchen Schicksal zu entgehen, aber Geraldine machte es nichts aus. Sie schwatzte auf dem ganzen Weg durch die Diele und stieß einen Entzückensschrei aus, als sie die Lobster Scallion Shooters entdeckte. »Oh! Mein Gott! Sieh! Dir! Das an!«

»Oh, vielen Dank, Geraldine.«

»Das ist so entzückend! Georgia, haben Sie das alles allein gemacht? Als Sie am Sonntag ohnmächtig wurden, habe ich gesagt, wie soll sie das je alles bis Dienstag schaffen? Aber Sie haben es geschafft! Wie um alles in der Welt?«

»Ich hatte Hilfe.« Georgia beschwor unsichtbare Kolonnen von Personal herauf, während sie in Wirklichkeit mit Krystal bis zwei Uhr morgens Spanisches Moos an die Kerzenständer geklebt hatte.

Gottlob klingelte es erneut. Das war das Tolle daran, Gastgeberin zu sein: Man wurde immer anderswo gebraucht. »Nehmen Sie sich bitte, was Sie möchten, Geraldine. Ich bin sofort wieder da.«

Diesmal war es Lily Jane Mobley mit ihrer Schwägerin Jean Lardell, zwei Witwen, die in der Öffentlichkeit immer nur zusammen gesehen wurden. Sie lobten die grüne Dekoration im vorderen Zimmer überschwänglich, kamen dann durch den Flur und wiederholten Geraldines begeisterte Ausrufe beim Anblick der Hummerpracht.

Georgia wünschte, dass Krystal es hätte hören können. Aber – wollte Krystal nicht schon früher kommen, um Kuchenplatten zu bringen und bei den heißen Horsd’œuvres zu helfen? Wahrscheinlich war sie wieder in irgendeiner blöden Bürgermeisterangelegenheit aufgehalten worden. Zum Glück gab es jetzt ein paar Gäste, die einander Gesellschaft leisten konnten, während Georgia alles allein erledigte.

Diese Party kam nur langsam in Gang, das war nicht zu bestreiten. Schon fast Mittag, und bisher nur drei Damen. Normalerweise rauschte gleich in der ersten Stunde eine Riesenwelle durch das Haus.

Aber Gäste waren Gäste. Ob drei oder dreihundert, darauf kam es nicht an.

Georgia trug das erste Tablett mit den gerösteten Prosciutto-Feigen hinaus und sah zu, wie die Häppchen kalt wurden. Die Damen machten ein großes Theater, als sie die Feigen probierten, als erforderte es viel Mut. Jean Lardell sagte, sie seien »besser, als ich dachte« – ein so hinterhältiges Kompliment, dass Georgia sich auf die Zunge beißen musste, um sie nicht anzufauchen.

Das Telefon klingelte. Sie entschuldigte sich und ging hinaus in die Diele.

»Oh, Georgia, Nadine Watson hier – oh, Honey, es ist ja so furchtbar, ich kann es selbst nicht fassen! Nach all der Mühe, die sie sich gemacht haben!«

»Nadine, was ist denn los? Kommen Sie nicht?«

»Aber Honey – nein, natürlich nicht. Wissen Sie denn nicht, was passiert ist?« Sie klang hysterisch wie Tante Pittypat in Vom Winde verweht, als Onkel Billy Shermans Artilleriegranaten auf Atlanta herabregnen.

»Wovon reden Sie?«, fragte Georgia.

»Sie armes Herz, Sie haben den ganzen Morgen gearbeitet, und Sie wissen gar nichts! Es ist zu viel, um es zu erklären. Schalten Sie Ihren Fernseher ein. O Gott, es ist so furchtbar.« Peng! Sie hatte aufgelegt.

Mama kam mit ihrem Gehgestell durch den Flur. Sie trug immer noch die Häschenpantoffeln. »Hab ich da Leute reden hören?«

»Unsere Gäste sind da, Mama. Willst du nicht deine Schuhe anziehen? Ich hab sie neben den Fernseher gestellt.«

»Nein, will ich nicht«, sagte Mama.

»Na, ich werde jetzt nicht mit dir streiten.« Georgia drehte sich zum Esszimmer um. »Alle mal herschauen, hier kommt Little Mama!«

Die Damen stießen spitze Schreie aus. Es war die gezwungene Extraportion Begeisterung, mit der man alten Leuten und kleinen Kindern begegnete. Little Mama ließ ihre Umarmungen und freundlichen Nachfragen kommentarlos über sich ergehen, und Georgia brummelte etwas von der Haustür, obwohl es gar nicht geläutet hatte, lief durch die Diele und spähte auf die Straße hinaus.

Niemand versuchte sein Auto zu parken. Keine Gruppen von Damen in Partykleidung kamen den Gehweg entlang.

Georgia biss die Zähne zusammen. Sie ging durch den Flur zu Little Mamas kiefernholzgetäfeltem Zimmerchen. Der Fernseher zeigte immer noch denselben Teil des Films. Es war eine Nachrichtensendung – »Eilmeldung«, hieß es da immer wieder. Etwas Verschwommenes erschien auf der einen Seite des Bildschirms. Ein Ball aus orangegelbem Feuer explodierte in einem Turm. Ein Turm brach in einem Ascheregen in sich zusammen. Panische Menschen rannten Hals über Kopf auf die Kamera zu, verfolgt von der wabernden Staubwolke.

Georgia dachte an Ameisen. Der Große Ameisenverband. Der Ameisenhügel war eingestürzt, und die Ameisen rannten hin und her.

Sie setzte sich auf die Kante von Mamas Sessel und las das Schriftband, das über den Bildschirm lief. Sie drehte die Lautstärke ein wenig höher.

Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Lily Jane und Jean Lardell sowie Geraldine und Little Mama sich hinter ihr versammelt hatten und mit offenen Mündern auf den Bildschirm starrten.

»Das ist wie Pearl Harbor«, meinte Lily Jane.

»Georgia sagt, es ist ein Film«, sagte Little Mama.

Georgia hielt den Mund.

»Ich nehme an, inzwischen wissen es alle«, erklärte Geraldine. »Deshalb sind sie noch nicht gekommen.«

Georgia ging hinaus in den Flur, und die anderen Damen halfen Little Mama in ihren Ruhesessel.

Die aufgeregten Stimmen der Nachrichtensprecher hallten durch den Flur. Georgia blieb in der Haustür stehen und schaute hinaus.

In Six Points passiert so etwas nicht. Darum wohnen wir hier – um weit weg von solchen Dingen zu sein.

Sie versuchte zu begreifen, was da geschehen war. Eine Tragödie. Der nationale Notstand. Der Präsident flog irgendwo hin, aber sie sagten nicht, wohin. Überall stürzten Flugzeuge ab.

Natürlich hatte so etwas Vorrang vor jedem September-Lunch. Es war viel, viel wichtiger als jede gesellschaftliche Veranstaltung.

Vielleicht war sie nicht die Einzige in dieser Lage, dachte Georgia plötzlich. Wahrscheinlich standen ja überall im ganzen Land Gastgeberinnen an ihren Buffets und warteten auf Gäste, die nicht kommen würden.

Sie lief ins Wohnzimmer, vorbei an Pyramiden von Sandwiches mit Hühnersalat und Paprikakäse, und dachte daran, dass sie sich mit leisem Grausen vorgestellt hatte, wie die Gäste diese wunderschönen Arrangements zerstören würden. Na, dein Wunsch ist dir erfüllt worden, dachte sie verbittert. Alles war noch makellos und unberührt.

Sie nahm ein Schälchen mit gemischten Nüssen und ging damit zurück in Little Mamas Zimmer. »Haben sie schon eine Vermutung, wer das war?«

»Bin Soo«, antwortete Lily Jane. »Das ist der, der das Schiff in die Luft gejagt hat.«

»Die Titanic?«, fragte Little Mama.

»Nein, ein Schiff der Marine. Hat ein Loch in die Seite gesprengt, und es wäre fast gesunken. Vor ungefähr einem Jahr. Wisst ihr noch?«

»Wo war denn das?«, fragte Jean Lardell. »Ich glaube, das ist mir entgangen.«

»Irgendwo da drüben im Mittleren Osten, ich hab vergessen, wo«, sagte Lily Jane. »Nenn mir ein Land im Mittleren Osten.«

»Japan?«, vermutete Jean.

»Nein, das ist im Fernen Osten. Der Mittlere Osten.«

»Möchte jemand ein paar Nüsse?«, fragte Georgia. »Mein Gott, da ist so viel Essen. Ich glaube, ich mache Ihnen allen einen Teller zurecht, und Sie können hier vor dem Fernseher essen.«

»Oh, die arme Georgia.« Geraldine Talby drehte sich zu ihr um. »Sehen Sie doch nur. Das arme Herzchen. Ihre Party ist ruiniert.«

Die Damen drängten sich heran, tätschelten ihr den Arm und sprachen davon, wie leid es ihnen tue. Georgia erklärte, ein nationaler Notstand sei viel wichtiger als jeder gesellschaftliche Anlass.

Und schon hatte sie es satt, tapfer zu sein; sie hatte die Fernsehkommentatoren satt, und sie war angewidert von den schrecklichen Szenen, die in einer Endlosschleife immer wieder über den Bildschirm flimmerten. Das waren lebende Menschen, die da aus den brennenden Türmen sprangen. So etwas sollte man einfach nicht im Fernsehen zeigen, Punkt.

Sie hoffte, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie niedergeschmettert und enttäuscht sie war – und wenn doch, dann würden die anderen ihren Gesichtsausdruck hoffentlich als Besorgnis über die schrecklichen Ereignisse deuten, nicht als die massiv egozentrische Enttäuschung, die sich wirklich dahinter verbarg.

Sie wünschte, alle würden jetzt einfach nach Hause gehen, damit sie weinen könnte.

Das Telefon klingelte.

»Hey, George«, sagte Krystal. »Alles okay?«

»Ich denke schon. Wo bist du?«

»Im Büro. Wir warten auf eine Telefonkonferenzschaltung. Der Direktor des staatlichen Amts für öffentliche Sicherheit will unsere Maßnahmen zur Zivilverteidigung besprechen.«

»Während all das hier im Gange ist?«

»Ja, darum geht’s ja gerade. Sie wissen nicht, ob es noch weitere Angriffe geben wird«, erklärte Krystal. »Manche nehmen an, die Großstädte waren nur die erste Welle. Vielleicht sind die Kleinstädte als Nächste an der Reihe. Da müssen wir vorbereitet sein.«

»Ach, hör auf. Du glaubst doch nicht ernsthaft, diese Leute kommen nach Six Points?«

»Ich bin nicht sicher. Du etwa?« Krystal seufzte. »Hör zu, im Fernsehen sagen sie, wir haben Krieg, und das ändert alles. Ich bin Bürgermeisterin, weißt du, und ich muss das ernst nehmen.«

»Ich will aber nicht, dass alles sich ändert«, sagte Georgia. »Ich will, dass es bleibt, wie es ist.«

»Hey, die Telefone hier spielen verrückt«, sagte Krystal. »Falls ich dich später brauche, könntest du dann kommen und uns helfen?«

»Ja, natürlich. Sag einfach Bescheid.« Georgia fand die Vorstellung, dass Krystal Six Points gegen Terroristen verteidigte, ein bisschen zum Lachen, aber heute war kein Tag zum Witzemachen.

Denn so schlimm war es: Sie konnte nicht einmal mit ihrer besten Freundin Witze machen, mit der sie doch sonst selbst in den schlimmsten Dingen noch etwas Komisches entdeckte. Um wen auch immer es sich bei den Leuten handelte, die da um die halbe Welt gekommen waren, um sich zwischen sie und Krystal zu stellen – Georgia hasste sie. Wieso können sie uns nicht in Ruhe lassen? Das hat doch nichts mit uns zu tun!

Unversehens wurde ihr klar, dass alle drei Damen zu ihren Handtaschen gegriffen hatten und zur Tür gingen. »Ach nein, gehen Sie doch bitte nicht!«, flehte sie. »Niemand sonst kommt mehr, und Sie haben doch noch gar nichts gegessen.« Es war nicht die charmanteste Formulierung, und noch uncharmanter war es, dass Georgia daran dachte, wie viel Geld sie ausgegeben hatte. Aber wie kann man sein Gehirn daran hindern zu denken, was es will?

»Oh, ich könnte jetzt nichts essen. Das alles regt mich zu sehr auf«, sagte Jean Lardell.

»Ich weiß nicht so recht, ob wir jetzt auf die Straße gehen sollten«, sagte Geraldine Talby. »Was ist, wenn sie anfangen, Bomben zu werfen?«

»Niemand wird Bomben werfen«, entgegnete Georgia. »Wir sind hier in Six Points.«

»Meine Schwester Frances hat eine Tochter, die in New York zur Schule geht«, erklärte Jean. »Ich muss sie anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist. Sie ist genau der Typ, der sich die Kamera schnappt und losläuft, um da unten Fotos zu machen.«

»Die können Sie doch von hier aus anrufen«, sagte Georgia.

»Das ist schon okay«, meinte Jean. »Ich habe diesen Pauschaltarif für Ferngespräche.«

»Ich habe ein so schlechtes Gewissen, weil ich nicht hierbleibe und Ihnen beim Aufräumen helfe«, sagte Lily Jane Mobley.

Georgia zwang sich zu einem höflichen Gastgeberinnenlächeln. »Ich danke Ihnen sehr dafür, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Wir werden es bald mal wiederholen.« Sobald die Hölle zugefroren ist! Sie wusste, es war verrückt, auf die drei einzigen Damen neben Nadine und Krystal, die überhaupt an die Einladung zum Lunch gedacht hatten, wütend zu sein. Alle anderen nutzten die Katastrophe anscheinend als Vorwand, um die fundamentalen Gebote der Höflichkeit außer Acht zu lassen.

Sie umarmte die Damen nacheinander und verfolgte dann, wie sie zu ihren Autos eilten. Geraldine reckte den Hals und spähte gen Himmel. Dann fuhr sie mit quietschenden Reifen davon. Lily Jane und Jean winkten noch einmal zum Abschied, bevor sie abfuhren.

Georgias Gesicht glühte rot, und ihre Hände zitterten. Sie atmete tief ein und wieder aus und zwang sich, dies ein paarmal zu wiederholen: Jetzt beruhige dich. Du bist nicht die Einzige, der etwas passiert ist.

Im Fernsehen war die Rede von Tausenden Toten. Vielleicht zwanzig-, vielleicht fünfzigtausend. Eigentlich waren die Zahlen zu groß, um wirklich darüber nachzudenken. Georgia konnte sich so viele Leute auf einmal nicht vorstellen.

Aber es waren ja auch Fremde, Yankees, die sie nichts angingen. Wieso behandelte man sie anders als alle anderen Toten in den Nachrichten? Hunderttausend bei einem Taifun in Bangladesch. Eine Million bei einer Hungersnot in Afrika. Solche Zahlen konnte man nicht begreifen.

Georgia dachte immer wieder an die Stapel von Sandwiches, an die geschichteten Salate, die an den Rändern durchweichten, an das Limettensorbet, das in der Bowle zerschmolz, und das kleine Vermögen in Form von Hummerfleisch, das im Licht der Spots allmählich warm wurde.

Die Welt geriet außer Kontrolle, und was konnte Georgia tun? Nichts. Kriege und heimtückische Angriffe waren etwas, das im Kino passierte, in der Vergangenheit, in Little Mamas Generation – nicht heute bei all unseren modernen Erfindungen, bei den Vereinten Nationen, schnurlosen Telefonen und Scheibenwischern, die selbst wussten, wann es regnete. Wer hatte erlaubt, dass so etwas passierte? Georgia hatte den Verdacht, dass der dreizehnte Präsident ein bisschen dämlich war. Nach dem Gesicht zu urteilen, das er jetzt im Fernsehen machte – er guckte wie ein verängstigtes Kaninchen –, hatte er nicht die leiseste Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.

»Können wir das bitte ausmachen, Mama? Der Mann geht mir auf die Nerven.«

»Von mir aus. Er sagt sowieso nicht, wer es in Wirklichkeit getan hat. Du weißt, wer das war.«

»Rosa Parks?«, fragte Georgia.

Little Mama verzog das Gesicht. »Das hab ich nicht gesagt. Aber dir ist klar, dass es kein Weißer war.«

Mama hatte Glück. Was auch passierte, sie brauchte nie darüber nachzudenken. Sie wusste ganz automatisch, wer schuld war.

Georgia drückte auf die POWER-Taste. Stille erfüllte das Haus.

Das Geplapper der Fernsehsprecher war besser. Georgia schaltete den Fernseher wieder ein und drehte die Lautstärke halb herunter. Wenn das Ende der Welt bevorstand, wollte sie wenigstens kurz vorher Bescheid wissen.