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Das Klingelzeichen im Hörer klang seltsam und wie unter Wasser, ein nostalgischer Froschgesang, als wäre New Orleans nicht nur an einem anderen Ort, sondern auch in einer anderen Zeit. Dieser Klang weckte Georgias Sehnsucht, diese Stadt in der Wirklichkeit zu durchforschen, nicht nur in Filmen und Büchern, die exotischen Gerüche einzuatmen und das Dröhnen der Musik in der Luft zu spüren. In allen Texten, die sie über New Orleans gelesen hatte, war die Rede vom Geruch des Flusses, vom würzigen Essen und von der Musik. Geh einfach irgendeine Straße entlang, hieß es immer, und die ausgelassene Musik flutet von allen Seiten auf dich zu. Manchmal, wenn die Sehnsucht sie übermannte, zog sie ihr Chef-K-Paul-Loui siana-Kochbuch hervor und bereitete ein Gericht zu, das ein Pfund Butter und je einen Viertelteelöffel von siebenundzwanzig verschiedenen Pfeffersorten verlangte und an dem man sich den Mund verbrannte. Der erste Bissen eines Creole Shrimp Jambalayas genügte, um sie in ihrer Fantasie an einen weiß gedeckten Tisch mit Blick über den Jackson Square zu versetzen.

Jemand nahm den Hörer ab und fummelte damit. Ein paar Sekunden lang klapperte es nur, und dann näselte die zittrige Stimme einer alten Frau: »Hallo?«

»Hey, hier ist Georgia Bottoms. Kann ich mit Miz Eugenia Jordan sprechen, bitte?«

Sie wusste natürlich, dass sie schon mit Eugenia sprach, aber bei alten Leuten durfte man an Höflichkeiten nicht sparen. Alles, was sie besaßen, war genug Zeit, um herumzusitzen und über die Unzulänglichkeiten der Jugend zu sinnieren.

»Ich bin Eugenia«, sagte die zittrige Stimme.You-Dschinn-Ya. »Wer spricht da noch mal?«

»Georgia Bottoms. In Six Points.«

»Sorry, Baby, aber ich kann Sie nicht hören. Lassen Sie mich mal diesen Krach ausknipsen.«

Eugenia legte den Hörer zu Seite. Der Fernseher lief so laut, dass Georgia hören konnte, wie Regis Philbin sagte: »Das ist doch lächerlich!« und wie das Publikum lachte. Dann brach der Ton ab. Georgia überlegte, wie lange es her war, dass sie jemanden gekannt hatte, der aus dem Sessel aufstehen musste, um einen Fernsehapparat auszuschalten.

»So!«, meinte die Lady. »Wer, sagten Sie, ist da?«

Geduldig erklärte Georgia alles, und jetzt sagte Mrs. Jordan: »Oh, hallo, wie geht’s denn, Baby? Wie geht’s so? Unglaublich, dass Sie meinen Brief so schnell gekriegt haben.«

»Er ist heute gekommen«, erklärte Georgia. »Ich hab Sie sofort angerufen.«

»Na, wissen Sie, ich hör immer, wie die Leute sich über die Post beschweren«, sagte Eugenia. »Aber ich kapier ehrlich nicht, wie sie das schaffen. Ich hab ihn erst vorgestern unten an der Ecke hier in Na’walyins in den Kasten geworfen. Und jetzt haben sie ihn schon bis zu Ihnen raufgebracht?«

»Ja, das ist wirklich ein guter Service«, antwortete Georgia.

»Wie geht’s euch denn da oben? Ist’s auch so heiß wie hier bei uns?«

Georgia ließ sich ein paar Minuten lang auf alle möglichen »Wie geht’s?«-Fragen und Wettervergleiche ein, bis sie schließlich eine Lücke entdeckte und sich sofort hindurchzwängte: »Also, Miz Jordan, der Grund, weshalb ich Sie anrufe  – na ja, es tut mir einfach so leid wegen Ree. Was ist denn passiert? Warum hat man sie denn eingesperrt?«

»Ich weiß es nicht genau. Sie haben versucht, mir zu sagen, was los war, aber es ist mir nicht klar geworden.«

»Wie lange muss sie sitzen?«

»Zwei Jahre, haben sie gesagt, aber vielleicht braucht es nicht so lange zu sein. Mein Enkel Larue sagt, nächstes Jahr Ostern ist sie wieder draußen, wenn sie drinnen nichts falsch macht.«

»Weil ich nämlich hier oben ganz allein bin, wissen Sie«, sagte Georgia. »Ich bin unverheiratet und im Moment so gut wie arbeitslos« – was formal gesehen stimmte –, »und ich muss mich hier in Six Points um meine Mama und meinen Bruder kümmern, die beide behindert sind« – was Brother genauso gut sein könnte, wenn man sich überlegte, zu was er eigentlich taugte –, »und ich will gern versuchen, Ihnen mehr Geld zu schicken, aber im Moment ist es für mich auch ein bisschen schwierig.« Sie hatte diese Taktik im Voraus geplant: Man musste die Erwartungen dämpfen.

»Ich verstehe«, sagte Eugenia. »Ich bin auch mächtig dankbar für jede Hilfe, die Sie mir geben können.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Georgia. »Ich habe vor zwei Wochen eine telegraphische Überweisung an Ree geschickt. Am vierten Samstag des Monats. Haben Sie das Geld abgeholt?«

»Ich bin hingefahren. Musste noch ewig auf den zweiten Bus warten, aber als ich dann ankam, sagten sie mir, auf der Überweisung müsste mein Name stehen, nicht ihrer«, erzählte Eugenia. »Sie wollten’s mir nicht geben, wenn Sie es nicht noch mal und auf meinen Namen überweisen.«

»Ich gehe morgen zur Western Union und kläre die Sache. Seit wann ist Ree schon … weg?«

Eugenia wusste es nicht genau. Drei oder vier Wochen.

»Und wie geht’s dem Jungen?«

»Wie bitte?«

»Dem Jungen«, wiederholte Georgia. Sie hatte seinen Namen noch nie laut ausgesprochen, aber das war kein Grund, es weiterhin nicht zu tun. »Nathan. Wie geht’s ihm?«

»Ach, er ist ein guter Junge, aber er isst unheimlich gern.« Eugenia gluckste.

»Ja, das haben Sie geschrieben. Ist er gescheit? Gut in der Schule?« Georgia hoffte, er komme wenigstens in einer Hinsicht nach ihr.

»Weiß ich nicht«, antwortete Eugenia. »Ich glaube nicht, dass er in letzter Zeit hingegangen ist.«

»Er hat kein Examen gemacht?«

»Dieser Junge nicht. Macht zu gern Dummheiten. Ich hab ihm gesagt, wenn er sich nicht am Riemen reißt, schicke ich ihn rauf nach Alabama, und dann können Sie sich um ihn kümmern. Das hat ihm anscheinend einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«

»Ja, hören Sie, Miz Eugenia, was das angeht … ich bin hier oben eigentlich nicht drauf eingerichtet, mich um einen Jungen zu kümmern. Meine Mutter ist invalide – und mein Bruder ist auch behindert. Was immer wir tun, wir müssen zusehen, dass er bei Ihnen bleibt.«

»Ich verstehe«, sagte Eugenia. »Ich könnte mir denken, Sie wollen auch nicht, dass er in die Stadt kommt und alle erfahren, dass Sie einen schwarzen Sohn haben.«

»Na ja, das spielt auch eine Rolle«, räumte Georgia ein. »Und ich meine, es ist ja nicht so, dass wir einander kennen. Ich hab ihn nie gesehen. Seit seiner Geburt nicht mehr.«

»Dann sollten Sie mal zu Besuch kommen«, sagte Eugenia. »Er würde seine Mama gern kennenlernen.«

»Hat er das gesagt?«

»Nein, aber wenn Sie eine Mama hätten, würden Sie die nicht gern kennenlernen?«

»Ich habe eine«, sagte Georgia. »Und rückblickend würde ich sagen, nein.«

Whizzy sprang zu ihr auf den Sessel, und Georgia streichelte seine Ohren. Mit Eugenia zu sprechen war einfach. In ihrem Ton lag kein Vorwurf. Georgia konnte sich nicht erinnern, jemals so entspannt mit einer schwarzen Person geredet zu haben. Mit Ausnahme von Skiff natürlich – und deshalb war sie ja in diese Lage gekommen.

»Sie könnten uns ja einfach mal besuchen«, schlug Eugenia vor. »Ich würde nicht versuchen, Ihnen den Jungen anzuhängen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Ich hab immer davon geträumt, mal nach New Orleans zu fahren.«

»Na, dann kommen Sie doch einfach, Baby«, sagte Eugenia. »Wir bringen Ihnen das Essen bei. Ich weiß, dass Sie klapperdürr sind. Ree hat gesagt, Sie waren immer ein winziges kleines Hüpferchen, sogar während der Schwangerschaft.«

Georgia hörte entzückt, dass jemand sie als »winziges Hüpferchen« bezeichnete. »Ist das Ihr Ernst? Ich muss hungern, damit ich nicht aufgehe wie ein Ballon.«

Eugenia lachte. »Ich sehe eher aus wie der Goodyear-Zeppelin, aber was soll’s? Meine Mama war auch dick. Bisschen Fleisch auf den Knochen, das schadet nicht.«

Als Georgia schließlich auflegte, war sie davon überzeugt, dass es dem Jungen bei Eugenia viel besser ging als bei Ree. Es war, als wäre ihr eine Last von den Schultern genommen worden. Alles zusätzliche Geld, das sie schicken könnte, würde gut verwendet werden.