20

Der Mann saß in der Werkstatt. Er wusste, dass er noch einmal heilige Arbeit verrichten musste. Er dachte an die Bibelworte aus dem Buch Genesis, die er mittlerweile auswendig dahersagen konnte: »Hör uns an, Herr! Du bist ein Gottesfürst in unserer Mitte. In der vornehmsten unserer Grabstätten darfst du deine Tote begraben. Keiner von uns wird dir seine Grabstätte versagen und deiner Toten das Begräbnis verweigern.«

Er lachte heiser und rief in die Werkstatt hinein: »Vornehm, vornehmer, am vornehmsten. Keiner wird das Begräbnis verweigern. Scheißdreck alter.«

Er schlug heftig mit der Hand auf die Holzplatte der Werkbank. Die Schublade sprang ein Stück auf. Er nahm die kleine Ausgabe des Alten Testamentes heraus und steckte sie in die weite Tasche seiner Cordhose. Das, was er für ein winziges Handy hielt, erinnerte ihn an seine Prophetin. Wenn er zurück war, das konnte aber lange dauern, musste er sich um sie kümmern. Dann drehte er sich ruckartig von der Werkbank weg und verließ die kühle Werkstatt.

 

Vor dem Schopf stand immer noch die Schubkarre. Er legte die kleine Holzkiste hinein, versteckte sie unter der alten Bundeswehrdecke, in der noch eingewickelt Spaten und Schaufel von der nächtlichen Arbeit lagen. Er ging erneut zurück in die Werkstatt und holte die Spitzhacke. Dann lief er mit seinem Gefährt los, weg vom Dorf, weg vom Ried Richtung Hagelloch, zum Schindanger.

Er hatte keine Angst, gesehen zu werden, der Weg war einsam und alle Aufmerksamkeit richtete sich zurzeit aufs Unterdorf, auf den Ochsen. Das sollte ihm ganz recht sein, er würde so die vorletzte Phase in aller Ruhe und mit der nötigen Andacht beenden können.

Er holperte mit seinem einrädrigen Gefährt den grünen staubigen Planweg entlang und erreichte dann die Senke, deren Trichter mit Mischwald bewachsen war.

Das Hagelloch. Hier gingen immer die heftigsten Gewitter nieder und hier war es im Winter auch am frostigsten. Die Stelle hatte für die Menschen der Umgebung etwas Unheimliches. Vielleicht lag es daran, dass der bewaldete Trichter außerhalb des Rieds lag, aber die tiefste Stelle im Zentrum immer moorig war. Mit Sicherheit lag es aber daran, dass es hieß, hier wäre früher der Schindanger gewesen. Hier seien die beerdigt worden, denen ein christliches Begräbnis verwehrt wurde. Aus diesen Gründen wurde das kleine Waldstück auch nie bewirtschaftet, es war ein kleines Stück Urwald. Es hieß auch in Stammtisch-Erzählungen, man dürfe keine Hunde zum Gassigehen hineinführen, sie würden dort verschwinden und abgeschlachtet. Es war ein begrenztes Areal – ein oberschwäbisches Tabu.

Man redete selten über das Hagelloch. Mutige Kinder besuchten ab und zu das Waldstück und kamen desillusioniert wieder zurück. Es war nichts Besonderes. Manchmal trafen sich am Rande des Trichters Jugendliche zum Saufen, selten sah man dort auch nächtliche Liebespaare in ihren Autos.

Der Mann lief weiter bis zum Rand des Waldes. Von dort aus ging er nach rechts am angrenzenden Acker entlang und wählte dann einen unscheinbaren Durchgang nach links. Er zwängte sich mit seinem Fahrzeug durch niedrige Hecken. Er folgte wenige Meter dem Wildpfad, den er immer nutzte, wenn er zu der Stelle ging. Von hier ab konnte er die Schubkarre nicht mehr einsetzen. Das Unterholz war oft zu dicht, viele Wurzeln verhinderten ein gutes Vorankommen und immer wieder lagen umgestürzte Bäume über dem Pfad, den er ging. Er hatte Spaten und Schaufel geschultert, die Spitzhacke würde er holen, wenn er sie tatsächlich benötigte. Aber die Erde an der Stelle war bestimmt noch nicht ausgetrocknet. Schon lange war er nicht mehr hier gewesen. Auf dem Weg zur Stelle kam ihm das Lied vom Luther Mate in den Sinn. Obwohl er mit den Wüstgläubigen nichts im Sinn hatte, gefiel ihm dieses Lied in einigen Strophen besonders gut. Mit fester Stimme hob er an, hier würde ihn keiner hören, nur ›es‹:

 

»Aus tiefer Not schrei ich zu dir,

Herr Gott, erhör mein Rufen.

Dein gnädig Ohren kehr zu mir

Und meiner Bitt sie öffnen.

Denn so du willst das sehen an,

Was Sünd und Unrecht ist getan,

Wer kann, Herr, vor dir bleiben?«

 

Die folgenden Strophen übersprang er, sie waren ihm nur noch bruchstückhaft in Erinnerung. Außerdem war er Katholik, deshalb ging es ihn sowieso nichts an, was dieser Mate Luther zu sagen hatte. Obwohl es ihm schon lange egal war, was katholisch oder evangelisch war. Deshalb begann er die letzte Strophe des Liedes in Anlehnung an ein ordinäres Sauflied, das er immer schon verachtet hatte:

 

»Scheißegal, scheißegal;

Ob katholisch oder evangelisch;

Ob bei uns ist der Sünden viel,

Bei Gott ist viel mehr Gnaden;

Sein Hand zu helfen hat kein Ziel

Wie groß auch sei der Schaden.

Er ist allein der gute Hirt,

Der Israel erlösen wird

Aus seinen Sünden allen.«

 

Singend war er an der Stelle angekommen. Trotz der langen Dürre war die Erde an diesem unheimlichen Ort tatsächlich immer noch feucht. Unter seinen Schritten gab sie leicht nach. Hier, an der tiefsten Stelle im Gehölz, gab es keine Buchen und Eichen mehr, hier standen, zum Teil schief, flach wurzelnde Nadelhölzer und gaben dem Ort seinen düsteren Charakter. Auf dem Boden stand verschmutzt und schief das rotgläserne ewige Licht, das er vor Jahren hier aufgestellt hatte. Er schob es beiseite und fing zu graben an.

Vorsichtig setzte er den Spaten in die weiche moorige Erde. Er war zufrieden, so würde seine Grabarbeit hier bald beendet sein. Doch dann kamen die Hindernisse, die flach wurzelnden Tannen hatten ihr unterirdisches Geflecht über den weichen Boden um den Stamm herum fingerartig ausgebreitet. Überall stieß er auf Wurzeln. Er versuchte, die teilweise armdicken Gebilde mit dem Spaten zu durchschlagen, er hatte keine Chance.

»Herrgott Sakrament noch mal!«

Fluchend ging er zurück zur Schubkarre und holte die Spitzhacke. Er schaute sicherheitshalber durch die Äste der den Wald begrenzenden Büsche hinaus zu den Feldern. Bis zum Ortsrand hin war niemand zu sehen. Die heiße Luft stand wie Seifenblasenwasser über den Feldern Riedhagens. Er legte sich das spitze Grabinstrument über die linke Schulter und stapfte wieder zurück zur Stelle. Er murmelte vor sich hin:

 

»Das Kind, das war so krank und klein,

der Pfaffe ist ein rechtes Schwein,

die Margot schlag ich morgen tot,

den Pfaff holt ich im Morgenrot.

 

Das Schwesterlein, das Schwesterlein

litt große Pein.

Da kommt das Brüderlein daher,

der Pfaff erzählt ihm eine Mär.

Da hol ich mir die Schweine halt,

verscharre sie im dunklen Wald.«

 

Als er die Verse zu Ende gesprochen hatte, lachte er laut in den Wald hinein.

Dichter, ich hätte auch Dichter werden können.

In bester Laune ging die schwere Arbeit mit dem richtigen Werkzeug nun besser voran. Früher standen da keine Bäume, hier waren damals niedere Büsche. Nur am Rande des Hagellochs standen damals schon die Eichen und Buchen und wenig Nadelgehölz.

Bald musste es soweit sein, dann müsste er das Bündel entdecken. Aber die Arbeit war komplizierter, als er dachte, er hatte schon tiefer gegraben, als die Erinnerung ihn ermutigte. Vielleicht hatten die Wurzeln beim Wachsen das Bündel verschoben. Er grub fluchend immer weiter um das Zentrum herum und wollte schon aufgeben.

Doch dann tauchten einen Meter von der gedachten Stelle braune Leinenfetzen auf. Er wusste, dass er ›es‹ gefunden hatte.

Mit den Händen grub er in der nassen, sauren Erde weiter, die aus verrotteten Pflanzenresten bestand. Dann hatte er das schmutzige Bündel freigelegt. Es lag da wie ein überdimensionaler Engerling.

Er nahm das Bündel mit beiden Händen aus der Mulde, die sich allmählich mit braunem riedigem Wasser füllte.

Die Neugierde trieb ihn. Noch einmal wollte er ›es‹  sehen. Die Leinenstoffbahnen ließen sich leichter als erwartet lösen. Einige Fetzen zerfielen unter seinen vorsichtigen Fingern, dann sah er ›es‹ und erschrak wieder. Die moorige Erde hatte ›es‹ all die Jahre bestens konserviert. Er erschrak auf die gleiche Art, wie er vor vielen Jahren auch erschrocken war, als er ›es‹ zum ersten Mal sah.

Er wickelte ›es‹ wieder so gut wie möglich ein. Die Grabwerkzeuge ließ er einfach liegen und trug das schmutzige Bündel wie eine kostbare Fracht vor sich her. Dann war er bei der Schubkarre angelangt. Unter der Decke holte er die Holzkiste, den kleinen Sarg hervor, den er in seiner Werkstatt selbst hergestellt hatte. Er passte nicht ganz, er hatte die Größe falsch eingeschätzt. Er hatte ›es‹ winziger in Erinnerung, und so drückte er einfach, bis ›es‹ hineinpasste. Schnell setzte er den Deckel auf und drehte die Schrauben mit seinem roten Taschenmesser mit dem weißen Kreuz durch die vorgebohrten Löcher. Als er das weiße Kreuz auf dem roten Grund sah, bekreuzigte er sich und sprach ein Ave Maria.

Er versteckte den kleinen Sarg unter der Decke in der Schubkarre.

Dann kehrte er noch einmal zum Loch zurück und holte seine Werkzeuge, danach zog er mit der Schubkarre los. Links in weitem Bogen am Dorf vorbei durch den Moosforst hin zum Ried. Es war ein Umweg, aber durch das Dorf traute er sich nicht mit dieser Fracht.

Die Sonne brannte ihm auf die nackten Hände, seine weiße Mütze schützte ihn von oben. Er bereute es nicht, keine kurzen Hosen angezogen zu haben. Das wäre der Situation nicht angemessen.

Die Ein-Mann-Prozession bewegte sich über die vor Hitze flirrende Ebene durch die Felder bis hin zu den ersten Hecken und Fichten des Moosforstes, von dort ging es im Schatten der Tannen-Monokultur hinunter ins Ried. Als er aus dem Moosforst herauskam, sah er schon sein Ziel hell leuchtend neben der schmalen, kaum befahrenen Straße liegen. Er hatte keine Sorge, noch ein paar wenige Meter hinunter, dann würde man ihn hinter den hohen Binsen auch von der Straße her nicht mehr sehen können. Und wenn … ein Mann im Ried mit einer Schubkarre ist nichts Ungewöhnliches.

Als er hinter der Wendelinus-Kapelle angekommen war, verschnaufte er zuerst.

Hier hatte ich die alte Hexe zwischengelagert, als schon anfangs alles schiefging. Von hier aus sollte dann der spätere Wechsel sein, wenn die dumme Sau auf natürliche Art durch den Hunger der Maden leichter geworden wäre. Die Natur hätte bei diesen Temperaturen in wenigen Wochen gute Arbeit geleistet. Und hier kommen nie Wanderer vorbei.

Wenn man sie vorher nicht gefunden hätte, hätte ich ihre Gebeine problemlos zum Schindanger fahren können. Sie war einfach zu schwer, die fette Kuh, ich hatte mich überschätzt. Auch mit dem alten Pfarrer, dem geilen Fettsack. Aber Hauptsache, er liegt hinter der Mauer. Wer das Zeichen verstehen will, kann es auch deuten. Und dann wird man auch mich verstehen.

Die fette Margot, die konnte ich nur bergab transportieren, das übergewichtige Luder. Und selbst das war nicht einfach. Gott sei Dank hat sie immer Wert auf Qualität gelegt und ihr Koffergefährt ist unter ihrem Gewicht, als ich sie über dem geleerten Kofferteil festzurrte, nicht zusammengebrochen. Qualität zahlt sich doch aus. Schon eigenartig, dass sie ihren eigenen Leichenwagen dabeihatte. Die Kleider darin und ihre hässlichen Schuhe gammeln im Ried – und nur ich weiß wo.

Dass sie so schnell gefunden wurde, hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Alles ist durcheinandergekommen, alles. Scheiß Motorradfahrer, aber er kann nichts dafür. Der Herr will mich ständig prüfen. Ich darf jetzt keine Fehler mehr machen, der Herr würde es mir nie verzeihen. Es ist fast beendet. Heilandzack!

 

Der Mann setzte sich müde von der harten Arbeit der letzten Tage, die ihm wenig Schlaf ließ, auf warme Trümmersteine der maroden Kapelle und holte eine Flasche Mineralwasser unter der Decke in der Schubkarre hervor. Als er sie öffnete, sprudelte das warme Wasser über seine Hände. Er nahm ein paar kräftige Schlucke aus der Flasche. Dann holte er das Werkzeug, warf Schaufel und Spitzhacke durch das hintere ausgebrochene Kapellenfenster und stieg mit dem Bündel in der Hand ein. So konnte er von der Straße her nicht gesehen werden.