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Pünktlich zehn Minuten vor Beginn der zweistündigen Sitzung ›Wer bin ich? Versuch einer Definition des Ichs zwischen Küche, Beruf und Kindern‹ war ich am Gemeindezentrum. Diesmal war kein Anruf der Gemeindereferentin Frau Kätherle nötig, um mich aus dem Schlaf zu holen.
Da ich aufgrund der turbulenten Ereignisse der letzten Tage nicht mehr wusste, was ich für den heutigen Workshop meiner fünfköpfigen Gruppe thematisch angekündigt hatte, brachte ich in meinem Rucksack eine Kerze und einen Stapel Zeitungen und Zeitschriften mit. Ich hatte streng darauf geachtet, dass auch Zeitschriften dabei waren, die das Gefallen meines überwiegend weiblichen Publikums finden würden. Kerzen waren immer gut für spirituelle und andere Impulse. Zu den Zeitschriften … da würde mir schon noch irgendetwas einfallen.
Pünktlich um neun Uhr trafen die fünf ein. Gesprächsthema der zusammengesteckten Köpfe waren die Morde und die reißerischen Artikel regionaler und überregionaler Zeitungen. Nicht nur regionale Blätter wie der Südkurier und die Schwäbische Zeitung, auch die BILD hatte die Morde dankbar als Aufmacher aufgenommen und titelte:
›Verrückter Spießer mordet im Pfarrmilieu‹
Hildegard, die stramme Lehrerin, und Philipp, der Sozialpädagoge, der für diesen Termin von seiner Arbeit bei der betreuenden Werkstatt wieder freigenommen hatte, setzten sich nebeneinander, sie waren Händchen haltend erschienen. Die anderen drei Damen wählten ihren Platz auf dem Boden nach Belieben. Mitten im Raum hatte ich die Kerze auf einen Ziegelstein gestellt, den ich im Bauschutt um das neue Gemeindezentrum herum gefunden hatte. Circa 80 Zentimeter rostigen Stacheldraht hatte ich von dem angrenzenden Weidezaun abgeknipst und dreist um die weiße Kerze gewickelt. Etwas frisches Gras und Blumen der Kuhweide zu Füßen des Ziegelsteins verschönerten das sinnige Arrangement.
Hildegard schaute mich gerührt an: »Das traut man dir gar nicht zu, wenn man dich etwas näher kennt … und dass das alles in deinen Rucksack passt.«
Die anderen drei Damen, freundliche Bäuerinnen in der Mitte-ihres-Lebens-Krise, nickten zustimmend in ihren bequemen Hosen und waren etwas neidisch auf Hildegard.
»Das drückt unglaublich treffend die Stimmung im Dorf aus«, bemerkte Frau Kessler, die Bäuerin mit vier Kindern, 30 Milchkühen und einem saufenden, prügelnden Mann zu Hause.
Schon ergab ein Satz den anderen und die Gruppe diskutierte angeregt über die Stimmung im Dorf.
Philipp reagierte an diesem Freitagmorgen distanziert, er saß im Lotossitz, den Kopf erhoben, damit jeder sah, dass er die Augen in meditativer Versenkung geschlossen hatte. Zum ersten Mal sah ich ihn mit gewaschenen Haaren, ein süßlicher Duft ging von ihm aus.
In der zweiten Stunde verteilte ich die
Zeitungen und Zeitschriften wahllos im Raum, holte Scheren und
Klebestift aus meinem Rucksack, dann hatte ich auch schon die Idee:
»Schneidet bitte Bilder und Artikel aus, die zu den Überschriften
›Typisch Mann‹ – ›Typisch Frau‹ passen.« Der Teilnehmer und die
Teilnehmerinnen gingen begeistert an die Arbeit. Sie wühlten in den
Biker-News ebenso engagiert wie in ›Frau im Leben‹. Letztendlich
hatten wir eine gelungene Collage zum Thema an einem Flipchart
hängen. Alle fanden in einem abschließenden Feedback die heutige
Einheit äußerst gelungen und produktiv. Selbst Philipp war wieder
ein wenig aufgetaut. Als ich zufrieden meine Siebensachen
zusammengepackt hatte, erwartete mich Philipp
am Ausgang: »Hast du kurz Zeit?«
Ich nickte.
»Dich haben sie ja auch schon verhört, ich war gestern dran. Ich habe das Gefühl, die wollen mich in irgendwas reinziehen.«
»Und was habe ich damit zu tun?«
»Es geht um die Sache mit dem Orgelspiel. Die haben gefragt, warum ich abgehauen bin. Mir war das einfach zu lange, Ngumbu hat überzogen und ich hatte noch einen Termin. Das geht aber niemanden etwas an.«
Ich nickte verständnisvoll und ließ ihn weiterreden.
»Ich habe der Polizei halt gesagt, ich sei davon ausgegangen, dass nach dem Segen der Gottesdienst aus ist. Wenn sie dich noch einmal befragen, kannst du das ja auch in die Richtung lenken.« Fragend schaute er mich an.
Ich nickte noch einmal: »Verstehe. Frauengeschichte?«
Philipp bekam rote Flecken auf den Wangen und zuckte mit den schmalen Schultern.
»Hilde soll auf keinen Fall etwas erfahren. Ich kann das aber der Polizei so nicht erzählen. Wenn Hilde Wind davon bekommt, ist Schluss, bevor es angefangen hat. Und die andere Geschichte, die wurde eben nach dem Gedenkgottesdienst beendet. Bitte kein Wort zu irgendjemandem.«
Ich gab dem verlegenen Philipp die Hand: »Ehrenwort. Und sieh die Sache nicht so dramatisch, die können dir doch nichts anhaben, weil du zehn Minuten früher aus dem Gottesdienst gegangen bist.«
»Ich hab mich halt gleich in ein paar Widersprüche verstricken lassen. Die blonde Kommissarin, die hier immer herumschleicht, hat mich ausgefragt. Und ich bin in alle Fallen getappt, die sie mir gestellt hat.«
Philipp schluckte heftig. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, begleitete ihn nach draußen und tröstete ihn: »Wenn sie mich das nächste Mal darüber befragen, werde ich versuchen, das hinzubiegen.«
Wie, wusste ich noch nicht.
Die Gelegenheit dazu bekam ich noch am selben Tag. Zu Hause erhielt ich einen Anruf der Polizeidienststelle in Bad Saulgau, ich möge doch nachmittags vorbeikommen, um einige Aussagen zu machen.
Und so bewegte ich gegen 15 Uhr mein starkes Eisen Richtung Riedstraße. Der Teer war durch die Hitze an vielen Stellen zähflüssig und gab in heißen Schwaden sein Straßen-Aroma an die Umwelt ab. Manche Straßenmäander konnte ich nur im Schritttempo nehmen, damit das Hinterrad nicht wegschmierte. Ein kleiner Dreh am Gasgriff ließ das riemengetriebene Hinterrad auf dem flüssigen Teer augenblicklich durchdrehen.
Die flirrende Riedlandschaft mit ihren Birkenbruchwäldern und betrunken wogenden Inseln von Rohrkolben glitt langsam an mir vorbei. Die einstige Hochmoor-Vegetation war durch jahrhundertelanges Torfstechen abgeräumt worden. Das Wasser flüchtete irgendwie aus dem Moor, unser Ried verlandete mehr und mehr. Zur Rettung des Rieds hatte sich schon eine Interessengemeinschaft ›Wasser für das Ried‹ gebildet, die die Ostrach mit ihrer Vorflutfunktion und andere Bäche dazu nötigen wollten, das austrocknende Ried wieder besser zu befeuchten.
Im Vorbeifahren wechselten sich in der vor Hitze flirrenden Landschaft Torfstiche und sogenannte Belegfelder zum Trocknen der herausgestochenen Wasenstücke ab. Heute ging dieser Beschäftigung des Torfstechens kaum mehr jemand nach, außer aus musealen oder folkloristisch-historischen Motiven. Niemand heizte mehr mit Torf, und keiner wusste so richtig, wie man mit diesem sensiblen Ökosystem umgehen sollte. Verlanden lassen, wieder bewässern, renaturieren.
Manchmal kamen kreischende Schulklassen mit hochmotivierten Lehrern im Rahmen eines handlungsorientierten Projekts zum Torfstechen. Ich fragte mich dann immer, ob diese hyperaktiven Schreihälse, die sofort mit den Spaten aufeinander losgingen, später alle Torfstecher würden?
Im Laufe weniger Jahre hatte sich auf den Trockenfeldern ein Urwald aus Birken, Kiefern, Espen und Fichten angesiedelt, und auf fein hergerichteten Wegchen eilten Pfunde verbrennende Touristinnen verzückt durch die urige Natur.
Wenige Meter neben der Straße schreckte eine Reiherente, durch den Sound des großvolumigen Motors gestört, aus den Gräsern, um laut schimpfend im moorig-dunklen Wasser des nächsten Tümpels zu landen. Schwimm- und Tauchblattgewächse, Röhrichte und Gräser jeglicher Art sind die beliebten Brutstätten des riedeigenen Federviehs, von Stock-, Krick- und auch der Reiherente, ebenso von Zwergtaucher, Bless- und Teichhuhn, von Rohrammer und der Wasserralle. Doch die schienen heute in der Hitze einen unsichtbaren Mittagsschlaf zu halten. Auch die Rohrweihe fühlt sich in den üppigen Schilfwäldern dieses moorigen Biotops zu Hause. Selbst der tropisch bunte Eisvogel, den man vom Namen her eher am Nordpol wähnt, hat hier im Ried nicht nur Gaststatus; immer häufiger erledigt er in unmittelbarer Nähe zu Riedhagen sein Brutgeschäft und lockt somit kamerabeladene Ornithologen an.
Auch Biberlieber kommen im Ried auf ihre Kosten, fern der Wanderspuren kann man abgenagte Baumstämme betrachten, die der Großnager bearbeitet hatte – sehr zum Missfallen der Landwirte, die eines Morgens ihre Wiesen rechts der Ostrach nur noch vom Schlauchboot aus mähen konnten.
Und obwohl ich Arachniden in jeglicher Form nicht schätze – ich gehöre zu den bedauernswerten Menschen, die eine genetische Prädisposition für eine Spinnenphobie haben – ist es aufregend und gruselig zu wissen, dass die große gelb-schwarze Zebraspinne ihr riesiges Netz nicht nur im Mittelmeerraum baut, sondern auch hier in meiner direkten Nachbarschaft.
An mir vorbei ziehen aber auch kultivierte Weideflächen, zwischen dem fetten Grün dominiert das Gelb des Löwenzahns, der seine Hauptblütezeit jedoch schon längst hinter sich hat. An den Ufersäumen war es das Gelb der Wasserschwertlilien, das den Kontrast zu dunklen Wassern bildete. Einige Stockenten dümpelten träge im Wasser eines beschilften Tümpels, als ich ihn passierte. Schwarz-weiße Kühe standen auf weichen Weiden im Schatten der Bäume oder stillten ihren Durst an mit Wasser gefüllten alten Güllefässern aus Zink. Ich hupte jeder Herde freundlich zu, dankbar glotzten sie mir nach.
Die zerfallene, schilfumwachsene Wendelinus-Kapelle tauchte vor mir wie eine Fata Morgana als spiegelndes Bild auf. Traurig stand das Kreuz schief auf der kleinen Turmspitze. Gemächlich kam sie näher.
Dann das Trugbild – die Alte war wieder da, auferstanden von den Toten – Margot stand mit weit gebreiteten Armen, ganz in Schwarz gekleidet, vor dem Weiß der Kapelle. Sie schien mir etwas sagen zu wollen, ihre Arme bewegten sich wie in Zeitlupe durch die vor Hitze spiegelnde Luft. Sie kam mit unsicheren Schritten durch die dürren Gräser auf die Straße zu und winkte immer noch mit beiden Armen, als ob sie mich anhalten wollte. Trotz der Hitze bemerkte ich eine Gänsehaut von meinen Armen aus bis zum Rücken hin. Ich zwinkerte mit den Augen, um die Erscheinung verschwinden zu lassen – keine Chance. Die Gestalt kam immer näher an die Straße herangeschwankt. Erst als ich wenige Meter entfernt war, erkannte ich Deodonatus Ngumbu, unseren breitschultrigen Pfarrer, in seiner unverzichtbaren Soutane. Er fuchtelte immer noch wie wild mit seinen Armen in der Luft herum. Ich manövrierte meinen schwarzen Metallblock vorsichtig an den Straßenrand und öffnete das Visier des Helmes.
»Oh Gottlob kommst du hia vorbei, Dani, meina Quickly ist kaputt und fährta nimma mehr. Und die Hitza ina schwaaza Klamotta ist furchtbar. Ich haba geschoba die Quickly bis zur Kapelle. Kannsa mich mitanehma in die Stadt?«
»Dir sollte doch die Hitze nichts ausmachen, in Afrikas Busch ist es doch viel heißer.«
Ich zog meinen Helm vom schweißnassen Kopf.
»Oh du Dumma«, lachte Deodonatus sein weißes Lachen. »Nairobi ista nicht Busch. Nairobi liegta 1600 Meta üba de Meerespiegal, Durchschnittstemparatur nur 19 Grad. Und Nairobi heißt in da Maasai-Sprache ›Engare Nyarobie‹, und das heißta in de deutscha Spracha ›kühler Fluss‹.«
»Bist du Massai?«, fragte ich überrascht.
Mittlerweile war ich von meiner Maschine abgestiegen, hatte meine Lederjacke geöffnet und fächelte mir, die beiden Jackenhälften wie große Flügel hin und her bewegend, Frischluft zu.
»Ja, meina Vata war großa Häuptling und lebta noch als Nomada mit großa Rinderherda in Süda von Kenia.«
Erstaunt schaute ich Deo, den unbekannten Massai-Krieger, in seiner Soutane an.
»Zeig mir deinen Feuerstuhl, vielleicht können wir ihn wieder zum Laufen bringen.«
Deodonatus’ über 50 Jahre alte perlgraue und jadegrüne Quickly S war an die Kapellenmauer gelehnt. Er hatte wohl damit gerechnet, nach Hause laufen zu müssen und hatte sein Fahrzeug in den heiligen Schutzbereich der Kapelle gestellt. Ich stakste mit Deo über die Gräser hin zu dem Ort, mit dem ich nicht die angenehmsten Erinnerungen assoziierte, und schaute mir das havarierte Moped des transpirierenden Geistlichen kurz an, konnte jedoch keinen äußeren Schaden erkennen.
»Ista vielleicht da Zündung?«
Benzin war auch genug im Tank.
»Wo musst du hin?«
»Oh Jesus unda Maria, zu da Polizei. Zu eina Vahöö mit da blonda Fräulein. Und wenn i zu spät komma, denka die bestimmt, dass i Dreck an da Stecka hab.«
»Du hast Dreck an den Händen. Und jetzt beruhige dich, ich muss auch zum Verhör. Ich nehm’ dich mit. Wasch dir aber zuerst die Hände, dass du meine Maschine nicht schmutzig machst.«
Nachdem sich Deo die Hände im moorigen Wasser gewaschen hatte, schaute er skeptisch zu meinem Bike.
»Wo ista da de Sitz für da Sozius?«
»Gibt’s nicht.«
»Oh Jesus, Josef und alla Heiliga, ich kann doch nicht auf da Kotflüga sitza.«
Deodonatus versuchte sich rittlings auf den harten Kotflügel der Harley zu setzen. Seine enge Soutane ließ es jedoch nicht zu, die Beine zu spreizen und aufzusteigen.
»Wie klappt das denn bei der Quickly?«
»Da Quickly ista schmal wie Fahrrad und ma sitz wie auf da Fahrrad.«
»Zieh doch den Rock hoch.«
»Das gehta nicht, sonst sieht ma de nackata Beine.«
»Das macht doch nichts.«
»Dir nicht, aba ich bin da Pfarra, sonst werd i zum Gespott.«
»Da gibt’s nur eine Lösung, Deo: Damensattel.«
»Meinst du, das geht ohne runtafalla?«
Deo schien nicht begeistert von der Vorstellung, die nächsten 15 Kilometer im Damensitz mitzufahren. Probeweise wollte er sich auf den schwarzen Kotflügel setzen und streichelte kurz darüber, zog aber sofort mit erstauntem Schmerz seine Hand zurück: »Kann ma nix draufsitza, der hata ja hundat Grad.«
In meinem Sturzhelm holte ich Wasser aus dem Tümpel und kühlte damit Sitz und Kotflügel so weit ab, dass wir endlich starten konnten.
Bei jeder Kurve, und hatte sie auch eher den Charakter einer Geraden, drückte mir Deo, der beide Beine auf die linke Seite herabhängen ließ, die Luft aus den Lungenflügeln. Krampfhaft hielt er mich mit seinen starken Massai-Armen umklammert, um nicht vom Motorrad zu rutschen. Bei jedem Abbremsen schob er mich, da er mit seiner Soutane auf dem blank polierten Kotflügel rutschte, auf den Tank, bei jedem Beschleunigen kreischte er nach vorn: »Hilfää, Daniel! Nix so snell, sonst falla runtaa!«
Irgendwann, es waren gefühlte Monate, kamen wir heil im Hof des Polizeireviers in Bad Saulgau an. Keck stellte ich meine Street Bob zwischen die grün-weißen Altfahrzeuge und die stolzen, blau-silbernen Neufahrzeuge auf den Parkplatz mit dem Hinweisschild ›Nur für Bedienstete der Polizei‹.
»Können Sie eigentlich nicht lesen?«, fragte es blond aus einem geöffneten Fenster.
»Ja, wahrscheinlich sogar besser als Sie, ich habe auch mal Germanistik studiert, wissen Sie, was das ist?«
»Sind Sie so mit Herrn Ngumbu hergefahren? Da muss ich mal die Kollegen befragen, ob Ihr Kraftrad überhaupt für Soziusbetrieb ausgelegt ist. Und, Herr Pfarrer, wo ist denn Ihr Sturzhelm?«
Ich deutete unschuldig auf meinen Freund.
»Ich hatte ihn auf dem Rücken, es gibt, soviel ich weiß, kein Gesetz der StVO, das es mir verbietet, einen schwarzen Geistlichen auf dem Rücken mitzutransportieren. Die sind das so gewohnt. Als Kind wurde er nur so transportiert … ohne Sturzhelm.«
»Halta lieba deina blöda Mund! Sonst kriega mir noch eina Strafanzeiga.«
Deodonatus schaute besorgt zum Fenster im ersten Stock, in dem die blonde Furie stand und mir mit dem Zeigefinger drohte: »Halten Sie keine langen Reden, außerdem hätten Sie sich absprechen und zeitversetzt kommen können. Ich kann Sie beide nicht gleichzeitig vernehmen.«
»Sie wären auch die erste Frau, die zwei Dinge gleichzeitig kann.«
»Höa jetzt auf, Dani, mit deina Scheißprovakation, ich will wieda nach Hause.«
Höflich ließ ich Deodonatus den Vortritt zum Verhör. Seine Vernehmung ging gefühlte acht Stunden und dauerte tatsächlich knappe 30 Minuten. Mein Verhör dauerte gefühlte 15 Minuten und dauerte tatsächlich eine Stunde und 35 Minuten.
Immer wieder explodierte das hellhaarige Fräulein Kommissarin und fauchte mich an: »Sie halten das wohl für einen Spaß? Stecken Sie eigentlich in der Pubertät fest? Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen! – Nehmen Sie Ihre Stiefel da weg! Wenn Sie so weitermachen, lasse ich Sie in Beugehaft stecken! – Sehen Sie, so geht’s doch auch! –Wenn noch eine dumme Anspielung über meinen Handheld kommt, dann … Sie machen sich doch nur verdächtig, wenn Sie nicht kooperieren! – Können Sie auch mal ernst sein? – Ja, das mit Ihrem Philipp Maiser habe ich begriffen. – Nehmen Sie endlich Ihre Stiefel da weg! – Wir sind hier keine Eisdiele, hätten Sie doch vorher Ihre alberne Bananenmilch getrunken! – Wenn Sie noch einmal ›Handschellen‹ sagen, schmeiße ich Sie hier raus! Setzen Sie sich sofort wieder hin! – Wie haben es Ihre Eltern mit Ihnen ausgehalten? – Wenn Sie noch einmal Ihre Luden-Stiefel … «
Dankbar für den kurzweiligen und unterhaltsamen Nachmittag trat ich die Rückfahrt zur Kapelle mit dem zappeligen Deodonatus auf dem Kotflügel an. Von der Kapelle ab saß Deodonatus zwar immer noch im Damensitz auf dem Kotflügel meiner Harley, aber als zusätzliche Geschicklichkeitsübung zog er am Lenker seine defekte Quickly neben sich ins Dorf. Letztendlich erreichten wir das mit Efeu bewachsene Pfarrhaus bei der Kirche. Deodonatus war völlig verkrampft und schüttelte sich kräftig aus.
»Meinst du, da Butzi kann de Quickly repariera? Ich brauch da Maschine dringaand.«
Deodonatus hatte keinen Autoführerschein, vermutlich war er auch nicht berechtigt, die Quickly zu fahren. Da die antike Maschine zusätzliche Pedale hatte, hielt er sie vermutlich für ein Fahrrad und somit für führerscheinfrei.
»Ich werde es ihm sagen.«
»Hasda noch Zeit für Besprechung, wega die Doppal-Beerdigung am Montag?«
Zusammen gingen wir durch den welken Vorgarten zum Pfarrhaus. Deodonatus holte den Hausschlüssel aus dem Geldbeutel und stutzte vor der hölzernen Tür: »Ich bin mir sicha, dass ich abgaschlossa hab.«
Erstaunt drückte er die angelehnte Tür auf.
»Hallo, ist da wea?«
»Ein Einbrecher würde nicht antworten.«
»Ich haba ganz bestimmt abgeschlossa! Hiea stinkt’s nach Rauch.«
Tatsächlich herrschte im Haus ein starker Geruch von Verbranntem.
»Schau mal, ob etwas fehlt.«
Deodonatus durchsuchte schnuppernd sein zweistöckiges Reich, doch erst im Keller, der sogenannten Bibliothek, wurde die Nase fündig.
Auf einem großen Holztisch lagen drei aufgeschlagene Bücher. Inmitten der Bücher lag ein verkohlter Lappen. Einige Bücher waren leicht angesengt. Das Feuer war von allein wieder ausgegangen.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Igandjeman hata vesucht de Bücha zu verbrenna. Gott sei Preis und Ehre, dass das wieda von alleina ausgeganga ist.«
Deodonatus faltete die Hände und schaute kurz dankbar zur Decke.
»Was sind das für Bücher?«
Der Pfarrer nahm eines der Bücher, das in Leder eingebunden war, in die Hand, blätterte kurz darin und betrachtete die übrigen: »Sinda alles Bücha von Gemeindaleben. Von Gebuat, von Heirat und vonna Beedigung. Da steht bis in alta Zeit alles drin mita Datum.«
»Meinst du, das müssen wir der Polizei melden?«
»Sicha!«
Deodonatus zog das Handy aus der Soutane, hatte jedoch im Keller keinen Empfang. Während er nach oben ging, fotografierte ich alle mir wichtig erscheinenden Details im Keller, vor allem von den aufgeschlagenen Buchseiten versuchte ich gute Bilder zu machen. Immer wieder kontrollierte ich die Lesbarkeit der aufgeschlagenen Seiten am kleinen Bildschirm der Kamera.
»Deo, ich gehe lieber, bevor die herbe Blonde wieder anrückt. Wenn die mich schon wieder an einem Tatort sieht, wird sie mich verhaften«, sagte ich ihm, nachdem er sein Telefonat erfolgreich abgeschlossen hatte.
»Das kannsta nicht macha, Dani! Dann komm ich in Widaspruch, das kommta raus, bleib in Gottas Willa da! Ich bring dia eina Walda Hefabier von Kühlschrank«, flehte er mich an.
Das letzte Argument war das beste.
So warteten wir im Glutofen des pfarrlichen Vorgartens, bis die angeforderte Beamtin mit Dienstfahrzeug und Chauffeur im Pfarrhof ausstieg. Sie nickte wissend: »Das war mir klar. Sie sind an jedem Tatort zu finden.«
»Sie doch auch – aber immer etwas später.«
»Wollen Sie mir gleich Ihre Kamera geben?«
»Ich habe heute leider keine dabei«, ich spreizte meine Arme ab und zog das Genick etwas ein.
»Soll ich Sie durchsuchen lassen?«
»Nein, bitte machen Sie es selbst.«
Sie nickte sichtlich genervt ihrem Kollegen zu, und der kam tatsächlich zu mir und verlangte, den Inhalt meiner Hosentaschen und meiner Lederjacke preiszugeben. Oberflächlich entleerte ich den Inhalt meiner Taschen. Ich zauberte einen Kugelschreiber und einen Geldbeutel aus der Innentasche meiner Lederjacke. Der Beamte war mit meiner laienhaften Durchsuchung nicht zufrieden: »Darf ich mal?«
Er nahm meine schöne Jacke und tastete sie gekonnt von außen ab, bis er triumphierend grinste, seine sensiblen Hände hatten die Kamera aufgespürt: »Na, was spüren wir denn da? Da haben wir’s doch schon.«
Eigentlich habe ich ja nichts gegen den Pluralis Majestatis, wenn er von Königen oder anderen bedeutenden Würdenträgern verwendet wird. Wenn aber ein Polizistchen, das wahrscheinlich Schwierigkeiten hat, seinen eigenen Namen richtig zu schreiben, fortwährend von ›wir‹ redet und ›sich‹ meint, dann sind eindeutig die Grenzen der Zumutbarkeit für den Kommunikationspartner überschritten.
Er holte, immer noch mit Triumphgesicht zu seiner schönen Kollegin schauend, aus einer der Innentaschen mein hellblaues Handy. Erstaunt schaute er es an: »Donnerwetter, das scheint die erste Handy-Generation zu sein. Das hat ja noch eine kleine Antenne. Eine echte Antiquität.«
Er fummelte weiter mit sanften Klatschbewegungen an meiner Jacke herum: »So, was haben wir denn hier, das wird doch wohl keine Kamera sein?« Und wieder schaute er mit souveränem Lächeln zu seiner Chefin.
Er zog einen fast bierfilzgroßen heiligen Christophorus aus Silber aus der Seitentasche der Lederjacke heraus.
»Was ist denn das?«
»Der Heilige Christophorus.«
»Ach, abergläubig sind Sie auch noch«, bemerkte die Sonnenblonde.
»Nein, gläubig, aber es heißt ›abergläubisch‹.«
»Ach, lecken Sie mich …«
»Gern, aber das heißt ›necken‹.«
Ich hatte Verständnis, dass der Kommissarin die Nervenbahnen etwas zu heiß liefen. Das Wetter, die häufigen Begegnungen, einfältige Kollegen …
Während all dieser Aktivitäten lag meine Kamera auffällig neben meinem Bierglas auf dem grünen Gartentischchen in Deodonatus’ Vorgarten.
Beamtin und Beamter verschwanden im Dunkel des Pfarrhauses. Als sie wiederkamen, fiel das Wort ›Spurensicherung‹
Zwischen Zeigefinger und Daumen hielt sie ein kleines Plastikbeutelchen, in diesem wiederum befand sich ein orangefarbenes Feuerzeug mit auffälligem Logo. Es war eine stilisierte schwarze Hand. Als ich neugierig zum Plastiksäckchen schaute, steckte die Beamtin es schnell in ihre Tasche. Ich wandte mich nicht zu hastig ab und versuchte mein kurzzeitig erstauntes Gesicht den beiden dienstbeflissenen Beamten nicht preiszugeben, sonst hätten sie meine Mimik eventuell richtig verstanden. Ich hatte das Feuerzeug erkannt. In meinem Kopf rasten die Gedanken wie Jungfische, die dem unausweichlichen Käscher entgehen wollten. Wenn ich nur noch wüsste, wo ich es vor Kurzem gesehen hatte. Die Jungfische in meinem Kopf wurden immer aufgeregter, trotzdem stellte sich die Erinnerung nicht ein.
Der Beamte kam missmutig auf mich zu, zielte mit dem Zeigefinger auf meinen Kopf: »Wir sollten uns die nächsten Tage zur Verfügung halten.«
»Werden Sie auch verdächtigt? Ich habe Zeit, wie steht’s mit Ihnen?«
Er schaute mich leicht verwirrt an.
»Jetzt wollen wir aber nicht auch noch frech werden.«
»Sie doch nicht.«
Die Kommissarin schüttelte den Kopf in Richtung ihres Kollegen, tippte mit dem rechten Zeigefinger zweimal unauffällig gegen ihre Stirn.
Die eindeutige Symbolik der Geste schockierte mich nicht. Vielmehr war ich überrascht, als ich die Maishaarige fragen hörte: »Herr Ngumbu, hätten Sie auch ein Bier für mich und meinen Kollegen?«
»Das heißt ›für meinen Kollegen und mich‹«, sagte ich zur Gerstenblonden.
Ihr Kollege nickte anerkennend in meine Richtung.
»Eins können wir uns schon genehmigen«, lachte der Polizist.
Bevor sich die beiden an das grüne Tischchen setzten, ließ ich unbemerkt meine Kamera in meine Hosentasche gleiten.
»Wenn Sie Lust haben, Herr Bönle, kann der Kollege auch jetzt schon Ihre Aussagen aufnehmen, auch die von Herrn Ngumbu, dann brauchen Sie nicht noch einmal im Revier anzutanzen.«
Deodonatus hatte drei Bier mitgebracht. Alle waren wir dankbar.
Der freundliche Beamte nahm mit unserem Einverständnis die Befragung auf ein altmodisches Diktafon auf und notierte nebenher in einen Notizblock aus Papier.
Die Kommissarin schaute nach der langatmigen Befragung auf ihre Damenarmbanduhr, die mit hässlichen Swarovski-Steinen besetzt war, und meinte: »So, Dienstschluss, haben Sie noch ein Bier, Herr Pfarrer?«
Sie wurde mir immer sympathischer. Auch ich sah mich genötigt, noch einen halben Liter zu mir zu nehmen, damit sie nicht allein trinken musste. Deodonatus selbst verweigerte, er müsse noch einen klaren Kopf haben, um die Predigt für den Sonntag vorzubereiten, die er auf die Ausnahmesituation des Dorfes ausrichten wolle. Im Übrigen steige ihm der Alkohol auch zu schnell zu Kopfe.
Der chauffierende Beamte nuckelte immer noch an seinem mittlerweile handwarmen ersten Biergetränk herum und schien weniger glücklich über die augenblickliche Situation. Immer wieder blickte er verstohlen auf seine Armbanduhr.
Als die beiden weg waren, blieb Deodonatus noch sitzen: »Du, Dani, ich mussa sprecha mit dir.«
Und dann fing er an, stockend zu erzählen, dass ihn der Streit mit dem Alt-Pfarrer immer noch sehr belasten würde. Sie hätten noch kurz vor dem Tod seiner Haushälterin eine böse Auseinandersetzung gehabt, in deren Verlauf der Alt-Pfarrer ihn auf übelste Weise beschimpft habe. Schwarze Pfarrer wie er seien eine Bankrotterklärung der Theologie Roms, es sei nötiger, in seiner Heimat zu missionieren, die Schwarzen seien lediglich auf dem Papier Christen, wenn man nicht hinschaut, würden sie nach wie vor ihren heidnischen Voodoo-Ritualen nachgehen. Gott sei jedoch gerecht und hätte ihnen für ihre vielfältigen Verfehlungen Aids geschickt.
Außerdem habe er ihn auch persönlich beleidigt, es sei nicht normal, dass der Sohn eines stolzen Massai-Kriegers in Nairobi Theologie studiere, sein Vater hätte bestimmt erwartet, dass er ein großer Krieger und Viehhirte würde und nicht ein katholischer Pfarrer. Auch für eine europäische christliche Gemeinde könne es eine unangenehme Vorstellung sein, dass ihr Pfarrer in einer Hütte groß wurde, die mit Kuhdung erbaut wurde und dass ihr Pfarrer in seiner Jugend Rinderblut aus lebenden Kühen getrunken hat. Wo komme denn die einstmals so große katholische Kirche mit solchen Pfarrern wie ihm bloß hin? Er stamme aus einer Gesellschaft, in der das Prestige eines Mannes von der Menge seiner Rinder bestimmt wird und der Anzahl seiner Frauen. Es sei schon eigenartig, dass er dieses Leben verlassen hat, ob er sich schon überlegt habe, ob in ihm homophile Neigungen schlummerten?
»Und da bin ich ganz verruckt gewoda vor Zorn, ich haba ihm gesagt, dass ganza Doaf weiß, dass er mit seina Haushältarin Vahältnis hat. Da hatta er mich ins Gesicht geschlaga. Wenn das allas herauskommt, dann ist das sehr schlimm für Ruf von alla Pfarra. Und dann vielleicht alla behaupta, dass da schwaza Pfarra auch noch schwul ist. Es ist schon schwera genug in Deutschaland, wenn du schwaza Haut hast. Bitte, erzähl keina Person von diesa Gespräch.«
Deodonatus senkte den Kopf. Ich konnte seine Bedenken verstehen.
»Kopf hoch, Deo, wir werden die Sache schon wieder hinbiegen, du bist einfach zu gut für diese Welt. Und wenn du schwul wärst, das würde mir …«
»Verdammt noch mal, ich hatta früher Freundin, ich bin nicht schwul!«
»Deo, hast du eigentlich ein orangefarbenes Feuerzeug, eines mit einer schwarzen Hand darauf?«
»Nein, warum?«
»So eins hat die Kommissarin im Keller gefunden, ich habe es gesehen, bevor sie es wegstecken konnte.«
»Das gehöat bestimmt de Täta?«
»Wahrscheinlich.«
Ich klopfte ihm mit der Faust gegen die Schulter: »Komm, wir schauen nach der Quickly.«
Er grinste mich an: »Du bista imma Optimist. In Doaf zwei Tote und eine tote Hund und heute noch Einbrecha in Pfarrhaus, Polizei schnüffat bei mir herum, aba du sags, allas wird wieda gut.«
Bald hatten wir den Fehler an Ngumbus Zweitakter gefunden. Das Zündkabel hatte sich vom Zündkerzenstecker gelöst.