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Das Buch Numeri:

 

›19,11 Wer irgendeinen toten Menschen berührt, ist sieben Tage lang unrein.

19,12 Am dritten Tag entsündigt er sich mit dem Reinigungswasser, und am siebten Tag wird er rein. Wenn er sich am dritten Tag nicht entsündigt, dann wird er am siebten Tag nicht rein.

19,13 Jeder, der einen toten Menschen, einen Verstorbenen, anrührt und sich nicht entsündigt, hat die Wohnstätte des Herrn verunreinigt. Ein solcher Mensch muss aus Israel ausgemerzt werden, weil er sich nicht hat mit dem Reinigungswasser besprengen lassen. Er ist unrein; seine Unreinheit haftet ihm immer noch an.‹

 

Der Mann steckte die Bibel hektisch zurück in die Schublade. Er sprang auf, der alte Schulstuhl aus Buchenholz mit seiner gebogenen Lehne fiel krachend zu Boden. Der Mann war völlig verschwitzt und von oben bis unten mit Erde beschmutzt.

Heilandzack, Reinigungswasser, ich brauche Reinigungswasser. Ich habe den Toten berührt, nur mit Reinigungswasser kann ich mich entsündigen. Wenn nicht, werden sie mich ausmerzen.

Das war eine Scheiß-Arbeit, obwohl an dem alten Sack nichts dran ist, hab ich ihn schier nicht aus dem Grab bekommen, … und die Margot, die Zeit war zu knapp, auch egal.

Der Mann schlich sich in der morgendlichen Dämmerung zur Kirche. Nebelschwaden trieben über dem Ried. Die ersten Vögel wurden aktiv. In der Werkstatt hatte er sich ein Stück vom Gartenschlauch abgeschnitten und einen leeren Plastikkanister mitgenommen. Er kannte in der Kirche alle Gefäße, die mit Weihwasser befüllt waren. Zuerst ging er zum Portal, dort erhoffte er sich die größte Ausbeute.

Er steckte den Schlauch ins steinerne Weihwasserbecken, saugte auf der anderen Seite das Wasser kurz an. Drückte rasch den Daumen zwischen seine Lippen und das Schlauchende, um die Öffnung zu verschließen. Dann senkte er die Hand hinab zum Plastikbehälter, der auf dem steinernen Kirchenboden stand. Er zwängte den Schlauch in die kleine Öffnung und ließ dabei den Daumen zur Seite gleiten. Das Weihwasser lief gurgelnd in das Behältnis.

Nachdem er alle Weihwasser-Gefäße geleert hatte, verließ er die Kirche.

 

Zu Hause füllte er in seinem Badezimmer das Weihwasser in eine große blaue Plastikwanne. Er zog seine Kleider aus, nahm ein Stück Seife, stellte sich in die Wanne und begann zu singen:

 

»Ich bin getauft auf deinen Namen,

Gott Vater, Sohn und Heilger Geist;

Ich bin gezählt zu deinem Samen,

zum Volk, das dir geheiligt heißt.

Ich bin in Christum eingesenkt,

ich bin mit seinem Geist beschenkt.«

 

Heilandhurensakrament aber auch! Die Seife war ihm entglitten. Er stieg aus der Plastikwanne, holte sie und sang weiter:

»Du hast zu deinem Kind und Erben,

mein lieber Vater, mich erklärt.

Du hast die Frucht von deinem Sterben,

mein treuer Heiland, mir gewährt.

Du willst in aller Not und Pein,

o guter Geist, mein Tröster sein.«

 

Immer wieder leerte er sich Wasser, das er ächzend aus der Wanne mit beiden Händen hob, über seinen Kopf, seine Stimme wurde lauter, als er die dritte Strophe anstimmte:

 

»Mein treuer Gott, auf deiner Seite

bleibt dieser Bund wohl feste stehn;

wenn aber ich ihn überschreite,

so lass mich nicht verloren gehn;

nimm mich, dein Kind, zu Gnaden an,

wenn ich hab einen Fall getan.«

 

Beinahe hatte er das Gleichgewicht verloren, als er versuchte die Füße zu reinigen. Nach einer kurzen Atempause sang er leise, fast flüsternd weiter:

 

»Ich gebe dir, mein Gott, aufs neue

Leib, Seel und Herz zum Opfer hin;

erwecke mich zu neuer Treue

und nimm Besitz von meinem Sinn.

Es sei in mir kein Tropfen Blut, …

Blut, Blut … Scheißblut,

der nicht, Herr, deinen Willen tut.«

 

Weil immer mehr Weihwasser um den blauen Trog herum verspritzt war, stieg der Mann vorsichtig heraus. Er nahm ein Frotteehandtuch, legte es auf die nassen Stellen, wartete, bis das Tuch vollgesogen war und wrang es dann in die blaue Wanne aus. Dies wiederholte er so oft, bis der Boden um sein Plastiktaufbecken herum wieder trocken war. Währenddessen sang er laut weiter:

 

»Lass diesen Vorsatz nimmer wanken,

Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist;

halt mich in deines Bundes Schranken,

bis mich dein Wille sterben heißt.

So leb ich dir, so sterb ich dir,

so lob ich dich dort für und für.«

 

Mit dem Wasser und der Seife reinigte er sich von Kopf bis Fuß. Immer wieder fing er mit seinem Reinigungsritual unter Absingen klerikaler Lieder von vorn an. Bald war das heilige Wasser wieder aus der breiten Schüssel verschwunden, obwohl er versuchte, so wenig wie möglich von dem kostbaren Nass zu verspritzen. Der Boden rundum war schlüpfrig geworden. Vorsichtig stieg der Mann aus der Schüssel und trocknete sich ab, bis die Haut gerötet war und brannte. Abschließend steckte er seinen Kopf noch unter den Wasserhahn und wusch sich mit viel Shampoo die Haare. Dann legte er sich schlafen. Die schwere nächtliche Arbeit hatte ihn müde gemacht. Als er aufwachte, war es schon nach zwölf.

 

Der Frau, ich muss ihr etwas zu Essen bringen, sie hat mich gewarnt, sie ist die Prophetin. Ihr darf es an nichts mangeln. Sie darf mich aber noch nicht erkennen.

In der Küche ging er zum Kühlschrank und öffnete eine Lyoner-Dosenwurst. Er schnitt mit einem scharfen Messer dünne Scheibchen. Die Essiggurke zerteilte er gekonnt, dass sie wie ein Fächer aussah. Eine Tomate schnitt er in vier Teile. All das drapierte er auf einem Holzbrett. Aus dem Garten holte er noch ein Sträußlein Petersilie, um die Tomaten hübsch zu garnieren. Dazu legte er drei Scheiben Bauernbrot. Er war jedoch mit dem Arrangement auf dem Vesperteller noch nicht ganz zufrieden. Aus einem Wasserglas am Fensterbrett nahm er Gänseblümchen, kürzte die Stängel, stellte sie in ein leeres Schnapsglas und setzte es zu den Wurstscheiben. Zufrieden stieg er die Treppe hinunter, überquerte den Hof und ging zu seiner Werkstatt.

 

Cäci war hungrig. An Wasser mangelte es ihr nicht. Der Wasserhahn an ihrem Bett lieferte frisches, wohlschmeckendes Wasser. Ihre Überlegungen, wo sie sein könnte und warum sie hier gefangen war, hatten sie nicht weitergebracht. Sie spürte, dass sie nicht weit von zu Hause entfernt sein konnte. Sie hatte auch immer wieder gedämpft die Glocken läuten gehört, und es waren die Glocken Riedhagens. Sie hatte versucht, die Holzverkleidung am Oberlicht zu entfernen, aber ohne Werkzeug hatte sie keine Chance. Immer wieder schaltete sie das Handy ein. Aber hier unten war die Sendeleistung zu schwach.

»Scheiß-Ding!«

Sie wollte es gerade in die Ecke werfen, als sie eine Idee hatte. Sie legte das blaue Handy mit seiner schwarzen Stummelantenne auf die Matratze und suchte den Boden nach einem geeigneten Schneidewerkzeug ab. Nach langem Suchen im funzeligen 40-Watt-Licht fand sie endlich unter dem Oberlicht einen intakten Stahlnagel. Der war beim Vernageln der Fenster wahrscheinlich hinuntergefallen.

Mit dem Nagel schälte sie vorsichtig die Kunststoffummantelung der Mini-Antenne des Handys ab. Immer wieder musste sie ihre zitternden Hände beruhigen. Nach Minuten, die ihr wie Stunden vorkamen, hatte sie die verkupferte Antenne mit dem Nagel freigelegt. Rötlich blinkte sie verheißungsvoll im dämmerigen Licht.

Zufrieden schnaufte sie kurz durch und lehnte ihren verspannten Rücken an die kühle Wand ihres Gefängnisses. Doch kaum ruhte sie, kam die Angst wieder. Unkontrolliert begann ihr schlanker Körper zu zittern, sie warf sich auf die Matratze und weinte.

›Nicht, das macht keinen Sinn, bleib ruhig, das war schon immer deine Stärke … und jetzt Schritt zwei der Handyaktion‹, so hätte es Dani formuliert. Sie schnäuzte in ihren Rock und wischte den Tränenschleier aus ihren Augen. Die Hände waren ruhig, sie zitterten kaum, sie griff zum Mobiltelefon mit der nackten Antenne.

In ihrer billigen Studentenwohnung in der Nähe der Kunsthalle in Tübingen hatte sie für ihre Stereoanlage keine Antennenbuchse im Zimmer. Ein Freund hatte ihr daher geraten, die Wurfantenne der Anlage einfach mit dem Heizkörper zu verbinden. Tatsächlich hatte sie dadurch einen fast perfekten Empfang für ihre Stereoanlage zustande gebracht, wo vorher nur ein Rauschen zu hören war. Vielleicht klappte das ja ebenso mit dem Handy.

Sie hielt die blanke Stummelantenne an das Wasserleitungsrohr neben ihrer Matratze, und tatsächlich, das Handy zeigte plötzlich eine ausreichende Signalstärke an. Nervös tippte sie Danis Nummer ein. Sie verrenkte ihren Kopf, um den Kontakt zur Wasserleitung nicht zu verlieren. Es tutete dreimal, bis er abhob.

»Ich bin’s, Cäci«, flüsterte sie mit zitternder Stimme.

»Ja, mir geht’s gut. Ich weiß nicht, wo ich bin. Man hat mich entführt.«

»Nein wirklich, ich bin okay. Ich habe nur ein bisschen Kopfweh und ein steifes Genick.«

»In einem Keller, ich höre unsere Kirchenglocken, ich denke, ich bin irgendwo im Dorf.«

In dem Augenblick hörte sie von oben ein kräftiges Rumpeln, eine Tür wurde knarrend geöffnet und Schritte nach unten waren zu hören.

»Ich muss auflegen. Jemand kommt.« Ihre Stimme wurde noch leiser und höher. Die Hände begannen wieder unkontrolliert zu zittern.

»Okay, ich rufe das nächste Mal bei Mama an, wenn’s geht. Oder auch bei dir, ich weiß nicht. Ich muss auflegen«, hauchte sie.

Die Luft zum Atmen schien aus dem Raum entwichen zu sein.

»Ich dich auch«, schluchzte sie mit tropfender Nase.

 

Hastig steckte sie das Handy in die tiefe Tasche ihres Rockes. Und dann wurde auch schon die Tür zu ihrem Verlies aufgeschlossen und langsam einen schmalen Spalt geöffnet. Eine behaarte Hand erschien im Türspalt. Ungeschickt tastete sie an der Wand herum. Cäci war starr vor Schreck. Eine fahle Gänsehaut erschien auf ihren Armen, die feinen Härchen stellten sich vor Furcht und Entsetzen auf. Die knochige Hand tastete weiter die Wand ab, schließlich fand sie den Lichtschalter und es war völlig dunkel im Raum. Eine Männerstimme, die bemüht war, sich zu verstellen, sagte kurz: »Essen, guten Appetit.«

»Danke«, hauchte sie.

Man hörte es auf dem Boden rascheln, die Tür wurde zugezogen und wieder abgeschlossen. Schritte nach oben waren zu hören, sie zählte sechs, dann wurde eine Tür mit einem kräftigen Knall zugeschlagen, und wieder war das eigenartige Rumpeln zu hören, als ob jemand etwas Schweres über den Boden zog.

Zusammengerollt wie ein Ungeborenes lag sie auf der Matratze, streichelte sich selbst ihre Oberarme. Sie atmete tief durch und tastete sich dann auf dem Boden auf allen Vieren kriechend durch den dunklen Raum zum Lichtschalter. Kurzzeitig befürchtete sie, die Orientierung zu verlieren und in Panik zu geraten.

 

Sie fand den rettenden Lichtschalter. Auf dem Boden stand ein schön hergerichtetes Vesper. Sie wunderte sich über die Gänseblümchen im Schnapsglas und wusste, dass sie einem Verrückten in die Hände gefallen war. Jetzt erst merkte sie, wie hungrig sie war. Ein eigenartiger Geruch, der nicht zum Vesperbrett passte, stieg ihr in die Nase. Sie kannte den Geruch, sie mochte ihn nicht. Es fiel ihr nicht ein, wo sie ihn schon einmal gerochen hatte. Sie schnupperte die Luft im Bereich der Türe, um sich den Geruch zu merken. Dann war der Hunger stärker als alles andere, sie nahm vorsichtig das runde Holzbrett, setzte sich auf die Matratze und mit Tränen in den Augen aß sie alles, was auf dem Brett lag. Die Gänseblümchen stellte sie auf die Camper-Toilette. Als sie das Vesperbrett auf den Boden legte, fiel es ihr ein. Himbeer-Shampoo. Es war eindeutig der schwere süße Geruch von Himbeer-Shampoo. Dani hatte es auch einmal gekauft, weil es billig war, aber es roch so intensiv, dass es seine empfindlichen Bronchien reizte, er hatte es nie wieder benutzt.

Auch die Stimme, obwohl sie eindeutig verstellt war, kam ihr bekannt vor. Aber alle Personen, die sie zu den Verdächtigen zählten, kamen nicht in Frage. Entweder benutzten sie kein Shampoo dieser Qualität oder hatten eine andere Stimme.

Cäci ging vorsichtig zur Tür, drückte ihr rechtes Ohr dagegen und lauschte. Sie musste sehr vorsichtig sein, aber sie hörte nichts. Auch von oben war kein Geräusch zu vernehmen. Sie kramte das hellblaue Handy aus der Rocktasche hervor. Zärtlich streichelte sie es.

Diesmal tippte sie die Nummer ihrer Mutter ein.