19

Mit Deos Quickly rasten wir zum Goldenen Ochsen. Der giftgrüne Beetle zeigte uns an, dass wir nicht die einzigen Besucher waren. Frieda hatte an der Eingangstür zur Gastwirtschaft einen handgeschriebenen Zettel aufgehängt.

›Heute geschlossen – morgen vielleicht.‹

Im Schankraum saßen die drei. Frieda erzählte wild gestikulierend mit geröteten Augen, die Beamtin und der Beamte stellten Fragen und machten sich Notizen.

»Cäci hat vor fünf Minuten angerufen, sie wurde allerdings gestört, sie wird gefangen gehalten, es geht ihr aber soweit gut«, rief ich, als wir in den Gastraum stürmten. Frieda rannte auf mich zu.

»Sie ruft, wenn es möglich ist, hier noch einmal an.«

Detailliert begann ich zu erklären, was seit der Beerdigung geschehen war, ich versuchte mich an jede Kleinigkeit zu erinnern. Frieda hielt mich krampfhaft an der Hand.

Hauptkommissar Härmle verzog sich nach meinen Ausführungen und Deodonatus’ Ergänzungen in eine Ecke des Gastraumes und führte mit seinem Handy verschiedene Telefongespräche.

»Ich habe die Technik verständigt, sie werden versuchen, den Anruf zu orten. Es werden auch Techniker hierher kommen, Ihre Telefone präparieren und die Telefonate aufzeichnen. Vielleicht gelingt es uns herauszufinden, woher der Anruf stammt.«

Umständlich erklärte er, wie es ihnen schon einmal gelungen war, über eine Telefonschaltung einen Verdächtigen zu ermitteln.

Deodonatus und ich unterbrachen den Hauptkommissar, erläuterten im Gegenzug den beiden Kriminalisten unsere Theorie und deren psychologischen Hintergrund zur Täterfindung. Die beiden Profis hörten mit wachsendem Interesse zu. Frieda hatte sich mit stark geröteten Augen wieder zur Zapfanlage hin verzogen. Mit einem Tuch wischte sie alles blitzblank und lauschte jedem unserer Worte aufmerksam wie ein Luchs.

»Wissen Sie, Herr Bönle und Herr Ngumbu, wir sind ja auch nicht untätig gewesen und haben versucht, ein Täterprofil zu erstellen. Wir haben sogar einen Profiler aus Stuttgart kommen lassen. Leider fehlt uns noch ein griffiges Motiv, wenn wir erst mal …«

In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

»Soll ich abheben?«, fragte Frieda ängstlich und ließ ihren Putzlappen hektisch fallen.

Härmle nickte.

»Und wenn es Cäci ist, was soll ich sagen?«

»Gehen Sie ran, Frau Maier, beruhigen Sie Ihre Tochter und dann geben Sie das Telefon an mich weiter.«

»Hallo?«

»Oh Cäci, wie geht’s?«, schluchzte Frieda.

»Wo bist du denn, wie geht’s dir?«

Der Hauptkommissar streckte die Hand nach dem Telefon aus. Frieda sagte noch mit wackeliger Stimme: »Moment, der Herr Hauptkommissar will …« und reichte den Hörer mit zittrigen Händen dem ungeduldigen Kommissar.

»Hier Härmle, Kripo. Wie viel Akku haben Sie noch?«

»Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«

»Sind Sie sich sicher, dann müssten Sie ja in der Nähe der Kirche sein.«

»Können Sie irgendwelche Hinweise zum Täter geben?«

»Ich lege jetzt auf, sparen Sie Akku, das ist ganz wichtig, sonst können wir Sie nicht lokalisieren. Rufen Sie nur im äußersten Notfall an. Melden Sie sich in zwei Stunden wieder. Wir rufen nicht bei Ihnen an, das könnte vom Entführer bemerkt werden. Bleiben Sie ruhig. Ade.«

 

Sekundenlang war es mucksmäuschenstill im Gastraum, dann jammerte Frieda los: »Mein Kind, das halt ich nicht aus, wenn mir das auch noch genommen wird. Es reicht, den Mann zu verlieren, aber nicht auch noch meine kleine Cäci. Die hat nie jemanden was zuleide getan. Dann hab ich ja gar niemanden mehr.«

Ihr Wimmern ging in unkontrolliertes Schluchzen über. Ich ging zu ihr, um sie zu trösten. Tränen liefen mir bis zum Kinn, tropften auf den Boden.

Wer tröstete mich?

Härmle war aufgestanden und durchlief den Raum mit langen Schritten.

»Nach ihren Aussagen muss sie sich hier im Dorf befinden, sie kann die Glocken identifizieren. Sie wird vermutlich in einem Keller gefangen gehalten, der wahrscheinlich sechs Treppenstufen unter dem Boden ist. Der Täter ist männlich, hat eine behaarte Hand und hat sich die Haare wohl gerade frisch mit Himbeer-Shampoo gewaschen. Ganz schön clever, Ihre Freundin.«

»Woher hat sie die Informationen?«, fragte ich aufgeregt und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln.

Ich drehte mich so, dass die Blonde es nicht sehen konnte.

»Der Akku des Handys ist wohl sehr schwach, ich wollte vorerst nicht weiter fragen. Wenn der Akku ausfällt, wird es schwieriger, sie zu orten.«

Die Blonde recherchierte in ihrem Notizer. Doch keinem der beiden schien etwas einzufallen, was zum Täter führen könnte.

»Bleiben Sie hier!«

Härmle deutete auf seine Kollegin.

»Für den Fall, dass sie vorher noch einmal aus ihrem Versteck anruft, bleiben Sie hier. Ich muss nach Bad Saulgau, ich habe da eine Idee. Das ist aber alles noch sehr vage. Ich nehme Ihren Wagen und schicke Ihnen sofort zwei Kollegen vorbei. Die Leute von der Technik müssten auch bald hier sein.«

Mit auf dem heißen Asphalt quietschenden Reifen schoss der Hauptkommissar im Wägelchen der Blonden aus dem Ort hinaus. Die schaute besorgt aus dem Fenster, wie der Kollege mit ihrem Auto viel zu schnell die Riedallee entlang raste und schließlich hinter einer Kurve verschwand.

Deo hatte einen Rosenkranz aus der Tasche seiner Soutane geholt und bewegte seine Lippen zu einem stummen Ave Maria.

Die Kommissarin kam rasch auf mich zu, ihr schien ein Gedanke gekommen zu sein. Mit dem Zeigefinger zielte sie auf meine Brust.

»Welchen Weg geht Ihre Freundin von der Kirche aus, wenn Sie zu Ihnen nach Hause will?«

Die Kommissarin nickte mit dem Kopf Richtung Ausgang. Deodonatus, Frieda und ich folgten.

Die Hitze legte sich wie ein heißes Tuch über uns. Die Sonne stach gleißend hell. Wir gingen den offiziellen Weg entlang der Straße, den Cäci vom Gasthaus aus genommen hätte, um zu meinem Haus zu gelangen. Von da aus gingen wir Richtung Kirche. Die ganze Strecke über waren die Augen der Blonden keine Sekunde untätig, jede Kleinigkeit wurde registriert. Als wir an der Kirche angekommen waren, zeigte ich der verschwitzen Ermittlerin die Stelle, an der ich mich von Cäci auf dem Friedhof verabschiedet hatte.

»An dieser Stelle haben wir uns getrennt, und sie hat sich auf den Weg zu mir gemacht – in diese Richtung. Vorher habe ich ihr mein Handy gegeben.«

Frieda zeigte in die Hecken unterhalb der Mauer und meinte: »Hier vom Gott’sacker aus ist sie wahrscheinlich durch die Büsche runtergelaufen.«

Frieda deutete in die hohen Hecken unterhalb der Friedhofsmauer.

»Wie bitte, von wo aus?«, fragte die Kommissarin verständnislos in Friedas Richtung.

»Vom Gott’sacker, vom Friedhof eben.«

Der Begriff ›Gottesacker‹ für Friedhof schien der sonst so gewandten Kommissarin fremd.

»Ein schöner Begriff. ›Gottesacker‹, das habe ich noch nie gehört. Aber Sie haben hier in die Büsche gezeigt. Gibt es denn noch einen anderen Weg als den, den wir hochgekommen sind?«

»Ja klar, die Abkürzung durch die Hecken. Den nimmt man aber nur abwärts und dann auch nur, wenn es trocken ist.«

»Welchen Weg wäre sie gegangen?«

»Die Abkürzung«, kam es aus drei Mündern gleichzeitig.

Plötzlich hatten wir es sehr eilig. Deo steckte seinen Rosenkranz in die Tasche, blickte nach oben und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Bitte, lieba Gott, hilf uns, de Cäci heile zu finda.«

 

Ich ging den steilen, engen Weg voraus und fragte mich, was Cäci hier erlebt hatte, wer sie mitgenommen hatte und ob sie vielleicht doch schwerer verletzt war, als sie im kurzen Telefonat angedeutet hatte. Mit großer Besorgnis dachte ich an die Kreuze, die in den Toten gesteckt hatten. Ich hatte schreckliche Angst um Cäci. Krampfartig zog sich mein Magen zusammen, mir wurde übel, ich würgte, schluckte, beinahe hätte ich mich übergeben müssen.

»Wenn sie hier gekidnappt wurde, konnte das von der Kirche oder von der Straße aus niemand erkennen. Die Hecken sind viel zu dicht und zu hoch«, bemerkte die Kommissarin.

Frieda keuchte hinter uns her. Immer wieder schaute sie suchend in die Hecken und auf die Erde.

»Sie hatte ja nichts dabei. Was soll man denn hier finden, nicht einmal das Gesangbuch wollte sie mitnehmen. Heute kriegt man ja selbst in der Kirche immer eine ganze Zettelwirtschaft mit«, jammerte sie.

Plötzlich ging die Kommissarin zielstrebig auf einen der Büsche zu.

»Das zum Beispiel.«

Sie zeigte auf die Ohrhörer, die im Geäst hell in der Sonne leuchteten.

»Kennen Sie diese Ohrhörer?«

Ich nickte und hatte das Gefühl, ein geschältes gekochtes Hühnerei stecke in meinem Hals. Ich wollte es hinunterschlucken, es ging nicht. Nur mühsam konnte ich antworten: »Ja, die sind von Cäcis iPod.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich, damit sie sich nicht ständig in ihren Haaren verwursteln, habe ich hier das blaue Klebeband hingemacht.«

»Nicht anfassen.«

Sie zog meine ausgestreckte Hand sachte zur Seite und nahm den Stift ihres digitalen Notizblockes aus der Tasche, angelte damit die Ohrhörer an ihren Kabeln aus dem Busch heraus und ließ sie in ein kleines Plastiktütchen, das sie aus der Innentasche ihres gelben Blazers zauberte, fallen.

»Der Stift lässt sich tatsächlich positiv nutzen«, sagte ich in ihre Richtung.

»Vielleicht finden wir verwertbare DNA-Spuren vom Täter.«

Meine Bemerkung ignorierte sei einfach, sie war schon eine verdammt gute Psychologin.

»Und zum Stift: Sie wären wahrscheinlich zu doof, ein Notizpad zu bedienen. Sie würden es vermutlich mit der Mistgabel versuchen. Ich möchte das Thema aber heute nicht vertiefen. Ich habe das Gefühl, Sie brauchen noch etwas Schonung.«

Das saß.

Sie bewegte sich von uns weg in die Wiese hinein und führte, mit dem Rücken zu uns gedreht, zwei Telefonate.

Deodonatus war die ganze Zeit schweigsam mitgegangen. Er ließ seinen Rosenkranz wieder zwischen Daumen und Zeigefinger wandern und murmelte ein Vaterunser.

»Du, Dani, mich lässt die Sache mit da Bücha nicht in Ruhe, wir sollten uns des mal anschaua.«

Die fesche Kommissarin fuchtelte mit dem Handy und signalisierte uns über die Wiese hinweg: »Hallo, ich muss dringend weg, ein Kollege holt mich ab. Ich bin«, sie schaute auf ihre Armbanduhr, »in zirka 45 Minuten wieder im Gasthaus. Wir dürfen den Anruf von Cäcilia nicht verpassen.«

Sie winkte uns zu und rannte über die Wiese zur Straße hin.

Wir liefen zur Gastwirtschaft und setzten uns an einen Tisch mit Fenster. Frieda brachte drei WalderBräu naturtrüb hell. Noch nie schmeckte es so schlecht, aber es löschte den Durst und glich den Flüssigkeitsverlust aus.

Eigentlich neige ich ja nicht zu Depressionen, sie sind mir eher fremd. Männer bleiben, so meine Beobachtungen, eher von diesen befremdlichen Gemütsschüben verschont. Der richtige Artikel heißt ja auch nicht ›der‹, sondern ›die‹ Depression. Es heißt ja auch nicht ›der Frau‹, sondern ›die Frau‹ Trotzdem hätte ich auf der Stelle losheulen können.