13

Das Frühstück mit Cäci auf der Terrasse verlief bestens. Ich hatte zwei Fünfeinhalb-Minuten-Eier gekocht, am Vortag einen Hefezopf gebacken, Erdbeermarmelade aus neuer Ernte auf den Tisch gestellt und die gute Bodenseebutter aus der Folie gepellt. Cäci hatte Sekt mitgebracht.

Die Laune war weit über dem normalen Level, bis das Telefon klingelte. Cäci ging ran: »Hallo.«

»Warum?«

»Nein, wir frühstücken gerade!«

»Warum?«

»Okay, worum geht’s?«

»Was für Bilder?«

»Das müssen Sie ihn schon persönlich fragen!«

 

Cäci knallte den Hörer auf die Docking-Station und fauchte mich an: »Rate mal, wer das war?«

Ich ahnte es, zuckte aber nur mit den Schultern.

»Das war die Kuh mit dem Geweih auf dem Arsch, deine Susi, die rothaarige Motorradschlampe! Die wagt es, hier wegen der Bilder anzurufen! ›Sind sie toll geworden? Dann komme ich halt irgendwann mal kurz vorbei. Dani freut sich bestimmt … ‹«, äffte sie Susis Quietschestimme nach.»Ach, das mit den Bildern ist doch Schnee von gestern.«

Ich wollte das Thema einfach nicht mehr aufgreifen, es war mir lästig. Ich hatte genug andere Dinge um die Ohren. Außerdem konnte eine Vertiefung des Themas meiner momentan zufriedenstellenden Beziehung zu Cäci abträglich sein.

Eifrig lenkte ich ab, indem ich das Thema orangefarbenes Feuerzeug aufgriff und Cäci erzählte, dass es in Deos Kellerbibliothek gefunden worden war. Aber Cäci konnte sich nicht erinnern, so ein Feuerzeug jemals gesehen zu haben und wollte schon wieder mit dem leidigen Thema Susi anfangen.

Die Rettung kam dieses Mal von nachbarschaftlicher Seite. Herr Müller war mit dem Hundewinzling in seinen Garten gekommen: »Der muss mal scheißen.«

Müller hatte die Hände in seiner schicken blauen Trainingshose mit den weißen Streifen vergraben und schaute dem Treiben seines Hundes zu.

»Haben Sie nachher mal kurz Zeit, Herr Bönle? Der Stein senkt sich ein bisschen zur Seite. Da haben die Arbeiter gepfuscht.«

Er zog die Rechte aus der Hosentasche und deutete auf den Gedenkstein für den verblichenen Waldemar.

Eigentlich sage ich zu so etwas immer Nein, die angespannte Frühstückssituation erforderte jedoch eine kreative Lösung: »Klar, können wir gleich?«

Müller war erfreut und Cäci kümmerte sich um Racko, während wir den Stein mit Stangen anhoben und unter Lebensgefahr Sand in die Mulde unter dem Stein schütteten.

»Sie, Herr Bönle, das mit dem Zettel, das war gelogen.«

»Was für ein Zettel?«

»Na der, den Sie mir nachgetragen haben, als wir den toten Pfarrer gefunden haben.«

»Ach so, der Zettel.«

»Das war nämlich folgendermaßen. Der Alte hat ja immer einen Riesenaufstand gemacht, wenn der Hund auch nur in die Nähe seines Grundstücks gekommen ist, und die Alte war noch viel schlimmer.«

Er erzählte mir die Geschichte des Nachbarschaftsstreites mit dem alten Pfarrer und seiner Haushälterin, deren Auslöser der Entdeckerdrang seines ehemaligen Schäferhundes Waldemars war.

»… Und da habe ich ihm halt quasi einen anonymen Brief, halt einen Zettel, in den Briefkasten gesteckt, das war ungefähr eine Woche vor seinem Tod. Ich habe ihm geschrieben, dass er nicht mehr auf den Hund schießen soll. Das hätten Sie doch bestimmt auch gemacht? Der Hund kann doch nichts dafür, der braucht auch seine Freiheit.«

Ich erzählte Müller besser nicht, dass ich mir bei Waffen-Schmied eine teure Schleuder gekauft hatte, um seinem Ex-Köter eins auf den Pelz brennen zu können, wenn er wieder mal in meine Erdbeeren geschissen haben würde.

Die Nachricht vom Einbruch ins Pfarrhaus hatte im Dorf schon längst die Runde gemacht, und Müller versuchte mir noch ein paar Neuigkeiten zu entlocken.

Der Gedenkstein stand wieder gerade, und Müller hatte leider keine Arbeit mehr für mich. Für den versengten Rasen stand schon der grüne Viertakt-Rasenmäher bereit, den bediente Müller aber immer selbst.

Cäci spielte, mich missachtend, lange mit Racko, und als Müller ihr die rote Leine anbot, strahlte sie.

 

Zum Mittagessen an diesem Sonntag waren wir bei Frieda eingeladen. Pünktlich um 12.30 Uhr erschienen wir in idyllischer Formation mit Hündchen an der Leine in der Gastwirtschaft. Frieda war ganz gerührt: »Das ist auch mal schön, ohne die Helme und die Ledersachen, mit dem Hündchen. Nur die Kunstlederstiefel, die passen nicht.«

Wir bekamen den schönsten Platz im Garten. Frieda nahm das ›Reserviert‹-Schild weg und fuhr mit ihrer blauen Schürze kurz über den Tisch, um ihn zu säubern. Hier am Rande des Biergartens hatte man den schönsten Blick in die Weite des Rieds. Die Mittagssonne stand nahezu senkrecht über dieser göttlichen Landschaft und in der Ferne spiegelten sich Luftbilder. Unterhalb unseres Sitzplatzes, nur durch eine Ligusterhecke getrennt, lagerten im Schatten eines baufälligen Holzverschlages schwarz-weiße Kühe. Daneben, in einem kleineren Gehege, stand Hildegards Lamapaar dumm herum.

Die Fliegen waren unerträglich, sie pendelten fleißig zwischen Kuhfladen und Sonntagsessen.

Als Frieda den Sauerbraten, Spätzle und das obligate Rüben-Erbsengemüse heranbalancierte, wurde auch Cäci wieder etwas bekömmlicher.

Während des Essens konnten wir beobachten, wie sich eine Radfahrerin durch die Mittagshitze des Rieds quälte, um Riedhagen zu erreichen. Beim Näherkommen stellte sich heraus, dass es Hilde mit Mountainbike und Rucksack war. Bei den Lamas hielt sie an, zog irgendwelche Gräser aus dem Rucksack und streckte sie den nicht sonderlich interessierten Tieren hin: »Das lieben Romeo und Julia ganz besonders«, rief sie zu uns hoch.

»Ich komme nachher auch zum Essen vorbei, ich muss zuerst noch nach dem Wassertank schauen.«

Und die tierliebe Hilde kam tatsächlich zum Essen.

Sie erzählte uns, dass sie baden gewesen und richtig ausgehungert sei. Frieda eilte an unseren Tisch und fragte: »Haben Sie schon was ausgesucht?«

»Einen großen Salat. Da ist ja kein Speck oder Fleischbrühe oder Ei dran? Und ein Glas Mineralwasser ohne Gaz dazu.«

»Wir haben kein Gaz«, meinte Frieda.

»Ja, umso besser«, freute sich die frankophile Hilde aufrichtig.

Als das Essen kam, reklamierte sie: »Da ist ja doch Kohlensäure im Wasser drin! Sie haben doch gesagt, Sie hätten kein Gaz!«

»Gaz keins, Kohlensäure schon«, bemerkte Frieda leicht irritiert. Kopfschüttelnd ging sie zur Betreuung weiterer Sonntagsgäste über.

»Weiß man schon, wer beim Pfarrer eingebrochen hat?« Hilde stocherte neugierig in ihrem Salat herum, fand aber keine Pestizide oder andere giftige Rückstände.

»Mit dem Pfarrer stimmt doch was nicht, der wurde ja auch schon verhört«, kaute sie.

»Wie meinst du das?«

»Das weiß doch jeder im Dorf, dass der dem alten Pfarrer am liebsten Gift gegeben hätte. Der Schwarze sympathisiert mit der Befreiungstheologie und der Alte war Lefebvre-Anhänger. Krasser kann das ja gar nicht auseinanderstehen.«

»Aber deswegen bringt doch Deo nicht die Haushälterin, den Pfarrer und Müllers Hund um, nur weil er eine andere Theologie vertritt! Der Hund war mit Sicherheit kein Vertreter der Heiligen Messe in lateinischer Form.«

Cäci tippte sich zweimal gegen die Stirn.

Hilde steckte ein Blättchen Kopfsalat, von dem sie Friedas Sahne-Dressing sorgfältig abschüttelte, in den Mund und meinte: »Lasst es euch einfach mal durch den Kopf gehen, irgendetwas stimmt mit dem Ngumbu nicht, er wirkt sehr verunsichert. Die sollten lieber Philipp in Ruhe lassen, der hat mit der Sache garantiert nichts zu tun. Deiner Mama kannst du den Tipp geben, kein Sahnedressing an den Kopfsalat, das Erdige des Salats kommt mit einem normalen Öl-Essig-Dressing viel besser zur Geltung. Und selbst deine Mutter sollte langsam begreifen, dass Sahne von Tieren stammt, nämlich von Kühen und somit an einem vegetarischen Salat nichts zu suchen hat!«

»Dann müsstest du ja auch Sahne geben«, bemerkte Cäcilia spitz.

 

Hilde ignorierte Cäcis verbale Sahne-Attacke, bezahlte, verabschiedete sich mit einem steifen Nicken von Cäci und mit einem albernen Kusshändchen von mir. Sportiv schwang sie sich auf ihr Fahrrad und rief mir noch über die Hecke zu: »Der letzte Kurs war spitze, auch Philipp war begeistert!«

Und schon war sie verschwunden.

Frieda baute sich am Tisch auf: »Diese dumme Kuh, die soll sich zu ihren Lamas auf die Weide stellen. Was will die denn immer von dir, Danile?«

Ich zuckte mit den Schultern. Cäci legte mir eine Hand wohlwollend auf den Schenkel, schaute mich herausfordernd an und meinte: »Aber eine tolle Figur hat sie schon …«

»Du weißt ja, ich stehe mehr auf innere Werte und nicht auf Schönheit.«

»Du bist einfach ein Depp. Ich glaube, es kommt ein Gewitter, man hört es schon donnern.«

»Ich glaube eher, dass die MIKEBOSSler anrücken.«

 

Und so war es auch. Mit ihren vier Harleys belegten sie sechs Parkplätze vor dem Goldenen Ochsen und freuten sich darüber. Ich kramte in meinen grauen Zellen herum, weil irgendetwas Gedankliches im Hinterkopf festsaß, als ich sie auf unseren Tisch zukommen sah.

»Hallo, Dani, hast du den Grill schon angeschmissen? Wir nehmen vorher noch ein Bier.«

Und schon war’s mir wieder eingefallen. Grillen mit den Jungs und dem Anhang. Ich hatte die Gang auf drei Uhr zum Marathon-Grillen eingeladen. Fleisch mitbringen – Getränke gehen aufs Haus, war das übliche Motto.

»Ich muss mal aufs Klo.«

Schnell ging ich zu Frieda in die Küche und erklärte ihr die Situation.

»Frieda, ich bin in Not. Kann Watzlav mir sofort ein 30-Liter-Fässchen WalderBräu naturtrüb hell und eine Kiste Walder dunkel, die mit dem Bügelverschluss, in den Garten stellen, am besten hinten ins Bächlein? Ich zahl’s auch gleich.«

»Kein Problem«, zwinkerte sie mir zu.

Schon wenige Minuten später rumpelte Watzlav, die neue tschechische Saison-Bedienung, mit dem hauseigenen Leiterwägelchen, einem 30-Liter-Fass und einer Bierkiste die Straße hinauf. Ein gelber Sonnenschirm lag ebenfalls dabei. Frieda führte irgendetwas im Schilde, sie erfüllte mir seit Tagen jeden meiner Wünsche.

Die wilden Jungs hatten ihr helles Bier in den schlanken Gläsern, an denen appetitliche Kondensperlen in der Sonne glitzerten, vor sich stehen und unterhielten sich lautstark über ihre Motorräder, als ob es zurzeit kein anderes Gesprächsthema gäbe. Die Katze mit der schwarz-weißen Schwanzspitze kam in Zeitlupe angeschlichen, fauchte Racko an, legte sich unter den Tisch zu den schwarzen Lederstiefeln und schloss die Augen. Alles an ihr schien einzuschlafen, nur ihre Schwanzspitze nicht. Racko, den Cäci an der kurzen Leine hielt, legte den Kopf schief, stellte die Ohren auf und betrachtete das Säugetier mit vorsichtigem Interesse.

Das Wochenende meiner Freunde gehört größtenteils ihren Metallbräuten. Unter der Woche steht Butzi im Anzug an seinem Bankschalter, Joe geht seinem Hausmannsleben mit drei Kindern und einer Lehrerin nach, Flaschen-Gordon unterrichtet am Gymnasium Latein und Sport und Gesicht kümmert sich um sein Fitnessstudio mit drei Angestellten und drei ›S‹ in der Leuchtreklame.

An ihren Arbeitsplätzen wirkten sie eher harmlos. Aber hier und in ihrer Ledermontur ernteten sie viele schüchterne Blicke, vor allem vom reiferen weiblichen Publikum.

Cäci und ich ließen, nachdem wir die Soße aus dem Teller noch mit Brot aufgetunkt hatten, die vier Wilden noch beim kühlen Biere verweilen. Wir holten ihr Grillfleisch aus den Satteltaschen, es waren gefühlte 30 Kilogramm, und schleppten uns in der Hitze zu meinem Erbheim, um die vergessene Grillparty vorzubereiten. Der kleine Hund sprang immer wieder kläffend an der Plastiktüte mit dem Grillfleisch hoch, er schien sich ebenfalls auf das Fest zu freuen.

 

Schon bald standen Biertische und Bänke unterm Baum. Jede noch so kleine Anstrengung ließ ein kleines Bächlein Schweiß von meiner Stirn rinnen. Hell leuchtete der aufgespannte Sonnenschirm mit dem Wappen der Brauerei und schnell saßen Tausende von dunklen Käfern auf ihm, hielten ihn für eine riesige Blüte. Das Fässchen lag schon im Bach, der an der hinteren Grundstücksgrenze müde gurgelte. Die Grillkohle rauchte noch unanständig im Kugelgrill. Ich besah zufrieden das Stillleben. Müller ebenfalls.

»Gibt’s eine Party?«, rief er über die Hecke.

»Ja, wollen Sie nachher auch auf ein Bier rüberkommen?«

»Gern, ich muss aber erst noch den Rasen fertig mähen und dann wässern. War Racko anständig?«

Cäci hatte den kleinen Scheißer auf dem Arm.

»Den behalte ich«, kokettierte sie.

»Na, dann bis nachher, zuerst geht’s an den Rasen, dann mach ich mich noch schick für die Party.«

»Es herrscht aber kein Krawattenzwang, Herr Müller.«

Müller ging in seiner Trainingshose und dem ärmellosen Schiesser-Feinrippunterhemd weiter seiner Arbeit nach. Das monotone Viertakt-Gebrumme des unterforderten Rasenmähers wurde vom Gedonnere der vier Harleys kurzfristig übertönt, als die MIKEBOSSler anrückten. Sie stellten die schweren Geräte brav nebeneinander in die Hofeinfahrt. Die vier hatten in handlichen Rollen ihre Schlafsäcke auf dem hinteren soziusfreien Bereich ihrer Maschinen platziert. Butzis, Joes und Flaschen-Gordons Partnerinnen und die Kinder wollten gegen später mit dem Auto anrücken. Gesicht war mal wieder Zwangs-Single.

Müller beendete nach einem kurzen Blick über die Hecke rasch seine Rasenpflege, stellte seinen Rasensprenger auf Automatik und verschwand für kurze Zeit in Sachen Körperpflege in seinem Heim. Herausgeputzt, nach Himbeer-Shampoo duftend, erschien er zur Party. Er trug eine braune Breitcordhose, ein grünes kurzärmeliges Hemd mit Hawaii-Blumenmuster, dazu eine karierte selbst gebundene Krawatte. Sandalen mit weißen Söckchen und ein rotweißes VFB-Hütchen gegen die Sonne rundeten den positiven Gesamteindruck ab.

Das Fässchen war schon aus dem kühlen Nass geborgen und auf einen Hocker gehievt. Gesicht übernahm den Fassanstich, da er vor Kurzem im Rahmen seiner Fitnessstudio-Renovierung erfolgreich eines angestochen hatte. Der Single musste sich zum gelungenen Unterfangen etliche Männer-Kommentare anhören.

»Auch mal schön, wieder einzulochen.«

»Dein Hammer hat weniger zu tun.«

»Der Hahn tropft … wie sieht’s mit deinem aus?«

»Nicht so tief rein.«

»Wie wär’s, wenn du dir für die Zukunft ein Fässchen statt einer Freundin zulegst, da bist du erfolgreicher.«

Gesicht verzog keine Miene und ich schämte mich fremd für meine Freunde. Die Weichen für ein schönes Grillfest waren gestellt.

Das Kreischen eines überdrehten Zweitaktmotors übertönte das Gelächter im Garten und das metallische Gezirpe der Grillen.

»Deodonatus«, lachte Butzi in die Runde.

Und tatsächlich, mit halsbrecherischem Tempo kam der hünenhafte Pfarrer auf seiner schmalen Quickly vom Oberdorf her um die Kurve herumgeschlingert und bremste mit blockierendem Hinterrad ab, als er das Treiben im Garten sah. Er lehnte die Maschine an den Gartenzaun.

»Hallo, alle zusammaa, ista Fest?«, lachte er sein dunkles Lachen.

»Grüß dich, Deo, noch nie was von Helmpflicht ge-
hört?«

Vor allem die MIKEBOSSler lachten verlegen über diesen Scherz. Denn sie trugen immer ihre Helme und bewunderten Deos anarchischen Einstellung zur Helmpflicht.

»Ach was, hiea kontrolliert doch niemand. Machta was aus, wenn ich eina Bier mittrink?«

»Nein, komm herein, du bist wie immer eingeladen.«

Cäci brachte unserem Geistlichen ein Bier vom Fass, das er dankbar nickend annahm.

»Wollte gerade auf Bieachen zu Goldena Ochsen. Die Predigt für Morga ist okay und Doppalbeedigung haba ich mit alte Mesner vorbareitat. Endlich Feiaabad.«

So gefielen mir die Feste am besten, wenn immer mehr Gäste dazukamen, als man eingeladen hatte – da geht’s gegen später meistens richtig ab.

Leider waren meine Gedanken wieder schneller als mein Verstand. Um die Ecke kam vom Unterdorf her Hilde gejoggt, im Schlepptau schnaubte transpirierend der vergammelte Sozialpädagoge und Kirchenorganist Philipp.

»Wow, hallöchen, große Fete?«

Sie hüpfte auf der Stelle, um ihren Rhythmus nicht zu unterbrechen. Das Gleiche taten ihre fantastischen Glocken, die unter dem schwarzen Bustier nicht weiter gebändigt waren. Philipp war langsam weitergejoggt, Schweiß verklebte seine langen Haare.

Gesicht war schneller als ich: »Hi, willst du nicht auf ein, zwei Bierchen hereinkommen?«

»Au ja, super gern! Joggen können wir immer noch, ist eh viel zu heiß. Da muss man brutal aufpassen, da bist du ruckzuck dehydriert. So heiß hatten wir es schon lange nicht mehr. Das sind garantiert schon die ersten Auswirkungen des Klimawandels.«

Vorwurfsvoll schaute sie beim Wort ›Klimawandel‹ zu Deodonatus, er und sein alleroberster Chef waren ja von Berufs wegen verantwortlich für die Schöpfung. Ich selbst hatte gegen einen Klimawandel, der Frauen dazu zwang, sich etwas luftiger und freier anzuziehen, momentan nicht sonderlich viel einzuwenden.

Philipp kehrte um und trottete mit seiner kurzen grünen Batikhose treu hinter der sportiven Hilde her.

»Wir wollten doch joggen und dann noch baden«, maulte er mit gesenktem Kopf.

Cäci verdrehte kurz die Augen, als die beiden Stimmungskanonen den Garten betraten und sie Hildes spärliches Jogging-Outfit musterte. Sie zog ihren schwarzen Minirock noch etwas höher. Deodonatus grüßte die überpowerte Hilde und seinen schwitzenden Organisten Philipp freundlich. Gesicht setzte sich schnell neben Hilde an die Biertischgarnitur.

 

Gesprächsthema im Garten waren nicht nur die Morde. Dieses Thema wurde regional an jedem Essenstisch, an jedem Gartenzaun und in jeder Gaststätte mehrmals täglich diskutiert. Viele wollten auf die Verbrechen gar nicht mehr angesprochen werden. Man hielt sich selbst für einen distanzierten, aber freundlichen Menschenschlag. Dem Neuen und Fremden gegenüber skeptisch, aber keinesfalls zu Gewaltausbrüchen neigend. Leicht grantelig im Beziehungsbereich, aber herzhaft beim Feiern. Die Menschen ums Ried herum waren ratlos im Angesicht des Geschehenen und erste Verdrängungsmechanismen begannen zu greifen. Verdächtigungen wurden selten konkret ausgesprochen. Jeder kontrollierte zwar jeden, man wusste, was der andere dachte, was er wählte, was er aß, ob das Auto geleast oder bar bezahlt war, ob es eine Scheinschwangerschaft oder leider gar keine war und warum der Bürgermeister zurzeit so viel soff. Trotzdem redete man über solche Dinge nicht offen, dafür gab es die vorgehaltene Hand.

Aber die Polizei schien nach wie vor im Dunkeln zu tappen, was die Morde in Riedhagen betraf.

 

Um Licht ins Dunkel zu bringen, rückte zur Essenszeit, als der Duft von gegrilltem Schwein in der Luft lag, ein grüner VW-Beetle an. Im Grünen die Blonde, die bald mit am Tisch saß, der nur noch wenig Platz für weitere Gäste bot.

»Da habe ich ja mal alle zusammen.«

»Alle was? … Alle Verdächtigen?«, fragte Philipp und lächelte nervös.

»Das haben Sie gesagt.«

Die maisblonde Kommissarin hatte von Cäci dankbar eine rote Wurst mit Curry-Ketchup und Wecken angenommen, dazu trank sie ein Mineralwasser mit Eiswürfeln.

Sie stellte mal wieder ihre Standardfrage, ob sie uns ›ganz locker‹ befragen könne, damit sie uns eine Fahrt nach Bad Saulgau erspare.

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Haben Sie eigentlich noch kein Wochenende?«

Ich prostete ihr freundlich zu.

Sie griff sich zielsicher meine selbst gemachte Chili-Paste vom Tisch – aus eigenem Chili-Anbau.

»Wir sind immer im Dienst … Ist das scharf?«

»Schärfer als Sie … sich vorstellen können.«

Cäci schlug mir gegen das Schienbein.

»Haben Sie das etwa selbst gemacht?«

Ich nickte: »Aber mit Vorsicht genießen, Sie sehen ja, was drauf steht.«

»›Männer-Paste‹«, schüttelte sie den hübschen Kopf, »das muss ja von Ihnen stammen«, nahm eine herzhafte Messerspitze von der feuerroten Paste und strich sie auf das Ende ihrer roten Wurst.

An und für sich bin ich ja ein eher moderner Mensch und stehe der weiblichen Emanzipation recht offen gegenüber. Trotzdem mag ich es nicht sonderlich, wenn Frauen den Männern ihr letztes Refugium streitig machen. Es löst in mir immer wieder ganz großes Unbehagen aus, wenn Frauen ein Steak medium oder gar blutig bestellen. Ich kann es letztendlich nicht erklären, warum ich gerade in diesem Bereich so sensibel reagiere, ich denke, es ist keine rationale Angelegenheit.

Hingegen finde ich es außerordentlich wichtig, dass sich Frauen auch der kulinarischen Schärfe öffnen. Immer wieder hatte ich versucht, Cäci sanft an meine Chili-Paste hinzuführen. Vergeblich. Sie bekäme Ausschlag, Hitzewallungen, ihre Geschmacksknospen auf der Zunge würden absterben und ähnlichen Blödsinn musste ich mir wiederholt anhören.

 

Gespannt und innerlich grinsend wartete ich die wahrscheinlichste Reaktion ab. Mit allem hätte ich gerechnet, nur mit dem nicht: Die Frau Kommissarin Petra Krieger führte noch einmal ihr Messer zum Marmeladengläschen mit der kecken Aufschrift ›Männer-Paste‹, unter dessen handgeschriebene warnende Letter ich noch ein kleines schwarzes Totenkopfsymbol gezeichnet hatte, quasi zur Bekräftigung. Sie holte sich aus dem Marmeladenglas eine etwas größere Portion als die vorherige auf die Messerspitze.

»Seeehr gut, haben Sie das wirklich selbst gemacht?«

Ich nickte noch einmal und hatte plötzlich ein ganz anderes Bild von der Kommissarin. Sie erschien mir auf einmal reifer, fruchtiger, weniger kommissarisch und etwas schärfer.

»Wie haben Sie den fruchtigen Geschmack hinbekommen?«

Ich erzählte ihr dankbar, wie ich die Chilis ganz klein gewürfelt, sie mit Gelier-Zucker und wenig Salz angesetzt hatte. Wie ich für den fruchtigen Geschmack Paprika klein geschnitten und zuletzt unter Beigabe von etwas Zitronensaft und einem Hauch von Knoblauch das Ganze wie eine Marmelade gekocht hatte.

Sie nickte anerkennend und hatte das Rezept schon in ihren digitalen Helfer eingegeben.

»Das muss ich unbedingt nachmachen.«

»Ich kann Ihnen gern ein Gläschen mitgeben – ich habe noch 14, das reicht über den Winter.«

»Ja, gern.«

War das vielleicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

»So, wenn wir schon beim Austauschen von Nettigkeiten sind, in Ihren Angaben, den Brand bei Herrn Ngumbu betreffend, gibt es ein paar kleine Unstimmigkeiten, Sie sollten mir helfen, diese zu korrigieren.«

 

Inzwischen waren Joes Frau, die Lehrerin mit den drei Kindern, mit Butzis und Flaschen-Gordons Freundinnen im überladenen VW-Bus eingetroffen. Cäci hatte mit ihrer Mutter telefoniert und Watzlav, der tschechische Aushilfskellner, rumpelte schon bald mit einer weiteren Biertisch-Garnitur und einem Ersatzfässchen an.

Immer wieder bat die Kommissarin Personen zur Befragung in den Schatten der Garage. So wurden Philipp, Deodonatus, Müller, Cäci und ich durch die Befragungsrhetorik der Blonden geprüft.

 

Nach diesem Verhör-Marathon war die Kommissarin sichtlich erschöpft und verlangte nach einem WalderBräu vom Fass. Gern erfüllte ich ihren Getränkewunsch.

Cäci unterhielt sich angeregt mit ihr. Gesicht baggerte an Hilde herum und machte ihr ständig Komplimente wegen ihrer tollen Figur und ihren Lamas und erzählte, dass er schon lange überlegt habe, sich Lamas anzuschaffen, aber im Fitnessstudio könne er sie schlecht halten, das wäre nicht artgerecht. Philipp war eifersüchtig auf Gesicht und hatte Müllers Hund auf dem Schoß. Müller wiederum suchte die Nähe von Joes Frau, ob sie mit ihren Kindern nicht mal das tolle Denkmal für den Wauwau sehen wolle. Die Kinder wollten das Wauwau-Denkmal nicht sehen, sie waren mit einer Bratwurst beschäftigt.

Philipp tat interessiert: »Oh, das hätte ich gern mal gesehen, Hilde hat mir davon erzählt, das muss ja ganz einzigartig geworden sein. Am Tag, als Sie es aufstellten und Hilde ähm … den toten Pfarrer gefunden hat … Wie hieß Ihr Schäfer?«

»Kommen Sie mit – Waldemar, ja ja, der Waldemar, das war ein ganz ein treuer …«

Müllers Augen füllten sich mit Feuchtigkeit und das kam nicht nur vom Schnaps, den er mit jedem Bier kippte. Leicht wankend stand er auf, hakte sich bei Philipp unter und schlingerte neben ihm durch die Hecke zum Hunde-Denkmal. Joes Kinder sprangen mit ihren Würsten in der Hand und verschmierten Gesichtern hinterher und riefen: »Wauwau auch sehen!«

Deodonatus schüttelte langsam und streng seinen Kopf: »Das ista Gottalasterung, man machta eine tota Hund keina Denkmal.«

Es entbrannte eine hitzige Diskussion zwischen der leicht beschürzten Hildegard und dem schwarzen Pfarrer in seinem schwarzen Talar.

»Das sehe ich nicht so, auch ein Hund hat ein Recht auf Würde!«

»Aba nicht auf da Menschawürde.«

»Eigentlich schon, denn ein Hund kann nichts dafür, dass er nicht als Mensch auf die Welt gekommen ist, daraus darf ihm ja kein Nachteil erwachsen.«

»Das ista absurde Argumentation. Gott hatta bei Genesis Schöpfung die Mensch nach seina Ebabild geschaffa und nicht die Hund.«

»Wenn euch Pfarrern eine Diskussion zu heiß wird, dann beruft ihr euch immer auf Gott, das ist das Einfachste. Gott ist aber kein Argument. Gott ist Glaubenssache.«

»Richtig, und ich glauba, die Gott machta doch Untaschied zwischa Mensch und Hund, sonst hätta nur Hund oder nur Mensch geschaffa.«

»Ach, das ist doch zu einfach. Ich denke, Tiere sind dem Menschen gleichgestellt, deshalb sollte der Mensch sie nicht essen! Ich finde es aber ganz toll, dass Sie ›die Gott‹ sagen.«

»Was ista mit Regawurm?«

»Wie … mit dem Regenwurm?«

»Ista Regawurm mit Ihnen gleichgestellt?«

»Blödsinn, ein Regenwurm mir gleichgestellt. Es ist ja wohl ein Riesenunterschied zwischen einem Regenwurm und einem Hund. Und vor allem zwischen einem Regenwurm und mir.«

»Würda Sie Regawurm essen?«

»Igitt, natürlich nicht, was soll die Frage? Ich esse überhaupt kein Fleisch.«

»Warum?«

»Das ist Steinzeit, schauen Sie sich doch die Tiere hier am Tisch an!«

Sie deutete auf die MIKEBOSSler, die an ihren Steaks herumnagten.

»Was denken Sie, wie die Kreaturen leiden mussten, die gerade verspeist werden?«

»Schmeckta aber gut und die Mensch mussa auch leba, nicht nur de Tier.«

»Aber nicht auf Kosten der Tiere.«

»Wenn jeda Mensch auf der Welt isst nur Grünezeug, dann gibta keina Futter mehr für die Tiere, dann mussa die Kuh und alle Vegetarier verhungern, auch Sie.«

Hilde überlegte lange und schüttelte mit bitterer Miene ihren Kopf.

 

Vom Nachbargrundstück hörte man das energische Anstoßen von Flaschen. Philipp, der Alt-Hippie, und Herr Müller, der Jungrentner, tranken Brüderschaft und unterhielten sich prächtig. Zwei von Joes Kindern hatten die Hundegedenkstätte erklommen und hüpften zur Freude Rackos auf den Rasen. Der kleinste von Joes Nachwuchs stand in Windeln weinend vor dem Denkmal und hob die kleinen Hände fordernd zum Himmel empor.

Obwohl die Sonne schon in den Dämmerungsmodus übergegangen war, hing die Hitze noch wie eine Glocke über dem Dorf. Die Stimmung war wieder deutlich gestiegen, als die Diskussion zwischen Pfarrer und Hilde beendet war, und erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem überraschenden Eintreffen von Susi. Susi sprang wie ein Grashüpfer von ihrem papageienbunten Motorroller, riss sich den Halbschalenhelm vom Kopf, schüttelte ihr Feuerwehr-Haar aus und quietschte von Weitem: »Au, voll geil, eine Party, ich wollte eigentlich nur die Bilder angucken, Dani.«

Schon saß Susi neben mir auf der Bierbank. Ihre Abendgarderobe bestand aus einer Art kurzärmeligem Rollkragenpullover, der am Rücken gänzlich frei war und demonstrierte, dass ihre beachtliche Oberweite auch ohne Büstenstütze der Schwerkraft erfolgreich trotzte. Um ihr Gesäß hatte sie eine Art Seidenkopftuch in Blitzgelb gewickelt. Ihre Füße waren bar. Keine Sekunde war ihr üppiger, ansehnlicher Hintern in Ruhe, sie rutschte hin und her, quietschte und kicherte, erzählte von der Ausfahrt mit mir ohne Sitzbank und den Gudvaibraischens. Cäci hatte sich Gott sei Lob und Dank in eine intensive Diskussion mit Deodonatus versenkt. Psychologie und Theologie in hitzigem Diskurs. Unbemerkt signalisierte ich Gesicht mit Blickkontakt, sich von Hilde abzuwenden und sich um Susi zu kümmern. Hocherfreut ging er auf den Deal ein. Bald schon schwallte er Susi zu, die ihrerseits seinen Fitnessstudio-Oberkörper bewunderte. Seine Salzstangenbeinchen waren unter der schwarzen Lederhose verborgen.

Und Hilde stürzte sich auf mich.

»Ich mache mir Sorgen um Philipp, er trinkt.«

»Das muss jeder Mensch, sonst kann man nicht leben, der Körper trocknet sonst …«

»Ich meine, seit der Mordsache trinkt er mehr Alkohol«, unterbrach sie mich und verdrehte ihre Augen unwillig im Uhrzeigersinn.

»Hm … das muss nichts mit dem Mord zu tun haben.«

»Das denke ich auch, Philipp ist einfach zu sensibel für diese Welt. Manchmal wünsche ich mir, er wäre ein bisschen männlicher.«

Ich spürte ihre Hand kurz auf meinem Schenkel. Schnell nahm sie einen Schluck von ihrer Bierschorle sauer.

»Ich mag ja Machos überhaupt nicht, so das ganze frauenfeindliche Gehabe. Schau dir doch deine Kumpels an. Das ist ja nicht zu glauben, die springen wohl auf jede an.«

Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Gesicht, der näher als notwendig an Susi herangerutscht war und dessen Kopf vor Freude glühte. Susi redete ununterbrochen auf ihn ein, fasste ihn immer wieder bewundernd an den linken Oberarm und schüttelte auffällig ihr schönes Haar.

»Gesicht sieht mir im Moment nicht gerade wie ein Macho aus. Ich denke, die Susi …«, versuchte ich meinen Freund zu verteidigen.

»Ach, das sagt ja der Richtige, du und die Susi, da war doch bestimmt mehr als …«

»Mein Gott, in so einem Kaff wird doch nur getratscht …«

»Ich denke, ein Kerl von deinem Format steht doch eher auf Frauen, die nicht nur gut aussehen, sondern auch was im Kopf haben?«

Sie straffte ihr Kreuz, hob ihren Kopf und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

»Das stimmt, drum stehe ich immer noch auf Cäci.«

Sie rückte ein Stückchen von mir weg und fragte: »Was glaubst du eigentlich, wer’s war … der Mörder?«

»Ich würde Cäci und mich ausschließen.«

»Sei doch mal ernst, denkst du, dass es jemand ist, den wir kennen?«

»Ich vermute schon, wir haben auch die Opfer gekannt. Außerirdische haben bestimmt kein Interesse, ausgerechnet die beiden und noch einen Hund zu töten.«

Hilde lenkte ihren Blick unauffällig zu meinem Nachbarn Müller und flüsterte mir ins Ohr: »Bei dem könnt’ ich’s mir vorstellen, der tickt doch nicht richtig. Schau dir doch mal die Klamotten an. Ich denke, der ist schwul. Und das blonde Polizistenpüppchen hat ihn vorher noch mal extra zur Seite genommen und ihn lange befragt. Als Frührentner hat er auch die Zeit, sich das alles auszudenken.«

»Und deshalb bringt er den Alt-Pfarrer, davor seine Haushälterin und dazwischen noch seinen eigenen Hund um? Außerdem ist nicht jeder, der eine karierte Krawatte trägt, schwul, da erwarte ich von einer Lehrerin schon etwas mehr an Toleranz.«

»Nein … ja … bei so Pfarrern weiß man ja nie, da liest man auch einiges. Vielleicht hatten die was miteinander, als Nachbar hätte er es nicht weit gehabt, und die alte Hexe Margot hat dann was gemerkt. Er hat zuerst sie, dann ihn umgebracht.«

»Und den Hund?«

»Das arme Tier musste er opfern, um den Verdacht von sich zu lenken.«

»Hmmm.«

»Ich finde, das ist die erste plausible Theorie in diesem Fall.«

»Hmmm … nicht ganz schlecht, aber ich glaube eher, dass der Müller asexuell ist.«

»Quatsch, du hättest mal sehen sollen, wie der mir vorhin auf die Brüste geschaut hat.«

»Du widersprichst gerade deiner eigenen Theorie vom Schwulen … und außerdem, wer bei dem Aufzug nicht hinschaut … mich wundert’s, dass Philipp dich bis hierher nicht angefallen hat.«

»Na ja, der ist einfach etwas zurückhaltend und sanft, ich mag das eigentlich bei Männern, wenn sie nicht sofort angreifen und lossabbern.«

Sie rückte wieder etwas näher an mich heran und gurrte: »Aber siehst du, meine Theorie vom Mörder war nicht so schlecht und ich habe immer noch den Müller im Verdacht, es gibt genug Menschen, die auf Frauen und auf Männer stehen. Ich hab’ auch was im Köpfchen, nicht nur deine Psycho-Studentin.«

Sachte fand ihre Hand wieder meinen Oberschenkel.

 

Mir wurde die Sache eindeutig zu heiß, und ich kann es einfach nicht leiden, zum reinen Sexobjekt degradiert zu werden. Ich setzte mich zu meinen Stammtischlern, die mittlerweile ein prächtiges Lagerfeuer entfacht hatten und wie Steinzeitmenschen mit Stecken in der Glut herumstocherten oder Steine hineinwarfen. Gesicht war sogar einige Male über das Feuer gesprungen. Susi fand das ›voll geil‹ und bewunderte ihn ununterbrochen. Hier fühlte ich mich sofort wieder wohler. Philipp hatte sich mit seinem neuen Duz-Freund Müller zu uns gesellt, in seiner Hand hielt er eine alte rot lackierte Framus-Gitarre von Müller.

»Franz hat früher in einer Rock ’n’ Roll Band gespielt. Bei den Red Damned Sputniks«, sagte Philipp.

Herr Müller winkte bescheiden ab: »Das ist schon lange her. Über 40 Jahre.«

Philipp stimmte die Gitarre am Lagerfeuer und gab ein paar Lieder zum Besten, die gut zu seinen strähnigen langen Haaren, seinem indischen Stickhemd und seiner grünen kurzen Batikhose passten: »Yeah … Puff, the magic dragon, lived by the sea and frolicked in the autumn mist in a land called Honah Lee … And Jesus was a sailor when he walked upon the water and he spent a long time watching from his lonely wooden tower …«

Franz Müller war mit Donovan und Leonhard Cohen offensichtlich überfordert. Er schwankte ungeduldig auf Philipp zu und forderte seine rot lackierte Framus.

Er stellte sich vor den Schein des Lagerfeuers, hob stolz den Kopf und schob die schweren Hüften in seiner Breitcordhose nach vorn. Mit emporgestrecktem rechten Arm war er bereit zum ersten Akkord. Legte den Kopf ganz weit nach hinten. Ließ die Rechte nach unten sausen und die Hüften kreisen: »Well, it’s one for the money, two for the show, three to get ready, now go, cat, go. But don’t you step on my blue suede shoes … blue, blue, blue suede shoes …«

Ich war mehr als überrascht und dachte: So einer kann doch keinen anderen Menschen umbringen?

 

Der Morgen danach war weniger angenehm. Überall in meinem Garten lagen Menschen in oder außerhalb von Schlafsäcken. Aus den Ascheresten des nächtlichen Lagerfeuers qualmte es kläglich. Hüpfende Amseln und emsige Eichhörnchen suchten den Rasen erfolgreich nach Essensresten ab. Zu spät begriff ich die Dramatik der Situation. Deodonatus saß leblos auf der Bank, sein Kopf lag auf seinen Armen auf dem Biertisch. Ich stürzte zu ihm hin, schüttelte ihn an der Schulter. Er reagierte nicht, ich zog ihn unter den Schultern von der Bank. Taumelnd kam er zum Stehen.

»Was ista los?«

»Die Glocken, es läutet zur Messe.«

Deodonatus war sofort in einem unkoordinierten Wachzustand.

»Oh mein Gott, warum hasta mich verlassa?«

Er stürmte auf seine Quickly zu, stürzte über seine lange Soutane und fiel mit dem Gesicht gegen den hölzernen Gartenzaun. Augenblicklich schwoll sein Auge an. Die Holzlatte des Zaunes war gebrochen.

»Du mussta auch komma, irgendjemand muss Fürbitta lesa, das wollt ich gestern noch fraga, vielleicht kann ja de Cäci … und du guck nach de Mesnerdienst«, rief er mir noch zu.

Dann startete er, eine beachtliche Zweitakt-Rauchfahne hinter sich lassend, Richtung Kirche, deren Glocken bedrohlich läuteten.

Cäci blickte mich aus roten Augen an. Ich erklärte ihr die Situation. Es war keine Zeit mehr, sich umzuziehen.

»Mach du die Fürbitten, das sind wir Deo schuldig, Kalner hat bestimmt wieder nichts für den Gottesdienst vorbereitet. Das erledige ich.«

»So kann ich doch nicht gehen, schau mich mal an! Ich muss mich umziehen.«

»Quatsch, das reicht nicht mehr.«

Cäci sah eigentlich in jedem Aggregatszustand wunderbar aus. An diesem Morgen jedoch wirkte sie leicht zerknittert. Ihr gelbes Nichts von Top hatte dunkle Ketchup-Flecken, das knappe Röckchen war zerknautscht.

»Du siehst wie immer spitze aus.«

Ich gab ihr einen Kuss, sie schien wenig überzeugt.

 

Der Gottesdienst war übervoll, die Schäfchen saßen brav in ihren Bänken. Die männlichen Böcke und einige wenige Geißen rechts. Die Geißen und keine Böcke links. Die Gottesdienstbesucher hielten die siebenminütige Verspätung in Bezug auf die dramatische Dorfsituation für angemessen. Man war sogar ein bisschen stolz, dass so viele Auswärtige und Fremde am Gottesdienst teilnahmen. Auch neugierige Wüstgläubige, wie man die Evangelischen aus Wilhelmsdorf nannte, befanden sich unter den Gottesdienstbesuchern. Und dass die dörfliche Gesamtausnahmesituation wegen der integrierten Spontanausnahmesituation durch das ausgeuferte Fest zusätzlich gesteigert wurde, machte den Gottesdienst nochmals attraktiver. Aus meiner privilegierten Mesner-Sitzposition vom Chorraum heraus hatte ich den Überblick über die Versammelten. Ganz hinten entdeckte ich einen blonden Schopf. Das Gesicht wirkte durch die nächtliche Sause leicht derangiert. Sie hatte wahrscheinlich in ihrem engen, grünen Damen-Fahrzeug übernachtet. Immer wieder zog sie die Schultern hoch und ließ den Kopf über den Nacken rollen. Die Medien waren auch vertreten, wie würde das erst morgen bei den Beerdigungen werden?

Ich wollte gerade aufstehen und das Glöckchen ausgangs der Sakristei zum Klingen bringen, um die weltlichen Hauptakteure des Gottesdienstes anzukündigen. Doch Kalner, der Unberechenbare, stand schon im Durchgang und bimmelte angemessen.

Als die zwei Ministrantinnen, angeführt von Deodonatus, den Sakralraum betraten, ging ein Raunen durch die Kirche. Des Pfarrers linkes Auge war zu einem Schlitz angeschwollen und von kräftig purpurner Farbe, was seinem schwarzen Gesicht einen kriegerischen Ausdruck verlieh.

Cäci saß als unfreiwillige Aktivistin in der ersten Reihe der Frauenseite und signalisierte mir mit beiden Zeigefingern ein Rechteck in der Luft. Ihrem Lippenspiel entnahm ich die verzweifelten Buchstaben ›Fürbittenzettel‹.

Ich konnte nur unauffällig mit den Schultern zucken.

Dann schaute Deodonatus, der sich hinter dem Altar positioniert hatte, einäugig hoch zur Orgel. Und noch einmal blickte er hinauf. Aus meiner Position hatte ich schon längst bemerkt, dass Philipp nicht an seinem Platz an der Orgel saß. Deodonatus schaute zu mir, dann zu Kalner, der immer noch im Durchgang zur Sakristei versteckt stand. Ich zuckte wiederum mit den Schultern. Kalner deutete seinem Pfarrer mit Zeichensprache an, dass er die Sache in die Hand nehmen werde. Er schritt würdig aus dem Dunkel des Gewölbes heraus und begab sich zum Mittelgang, machte einen Knicks in Richtung Altar hin, bekreuzigte sich andächtig und schritt pietätvoll zum Hauptportal hinaus.

»So, wia üben noch die neue Kanon ›Du verwandelst meine Trauaa in Freude‹.«

Die Gemeinde war heute besonders geduldig und Deodonatus übte, bis der Kanon vierstimmig perfekt ertönte. Gerade als die Schlusszeile im schönsten Akkord verklungen war, ging das Portal auf und Kalner erschien mit dem lädierten Philipp an der Hand. Philipp wirkte trotz wochenlanger intensiver Sonneneinstrahlung bleich. Das indische Stickhemd steckte nachlässig in der kurzen grünen Batikhose, die ansonsten schulterlangen Haare standen in alle Richtungen ab. Die hagere Gestalt schwankte leicht und hatte die Augen weit aufgerissen, um sich an die geänderten Lichtverhältnisse im Gottesraum zu gewöhnen. Offensichtlich wusste er nicht genau, wo er sich gerade befand. In der Rechten hielt er Müllers Framus-Gitarre. Unsicheren Schrittes bewegte er sich zur Orgel hoch.

Ein Raunen und Getuschel ging durch die Kirche.

Jäh eröffnete Philipp, vom Konzept abweichend, mit der geistlichen Kantate von Johann Sebastian Bach ›Wo soll ich fliehen hin‹.

Ansonsten lief der Gottesdienst doch noch in einigermaßen geordneten Bahnen ab. Bis auf die Fürbitten.

»Unsara liebe Gemeindamitglied Cäcilia Maier spricht nun da Fürbitta.«

Cäci schaute mich verzweifelt an, als sie mit ihrem knappen Rock und ihrem aufreizenden gelben Top zum Ambo schritt. Vor die Ketchup-Flecken hielt sie ein rot eingebundenes Gotteslob. Den Minirock hatte sie schon weitestmöglich nach unten gezerrt, trotzdem war nervöses Gehüstele auf der Männerseite hörbar. Auf der Frauenseite wurde vermehrt im Gotteslob geblättert.

»Heute haben wir im Hinblick auf die Situation der Gemeinde eine neue Form der Fürbitte gefunden. Herr Bönle und ich werden im Wechsel Fürbitten auf Stichwort-Zuruf aus der Gemeinde frei formulieren. Das Stichwort muss in der Fürbitte eingebettet sein. Herr Pfarrer Ngumbu wird mir das erste Stichwort als Beispiel geben.«

Ngumbu machte ein erstauntes großes Auge. Ich bewegte mich nach einem strengen und auffordernden Blick Cäcis wie in Zeitlupe zum Ambo hin. Cäcilia blickte dreist in die Gemeinde.

Deodonatus schaute immer noch unsicher zu Cäci, sie nickte ihm auffordernd und freundlich lächelnd zu: »Bitte, Herr Pfarrer.«

Deodonatus faltete die großen Hände, senkte den einäugigen Blick, straffte seine breiten Schultern und erhob dann wieder demütig sein lockiges Haupt.

»Leba schätza«, formulierte Deodonatus, der sich von Cäcilia überrumpelt fühlte, in den überfüllten Kirchenraum hinein.

Nur den Bruchteil einer Sekunde stutzte Cäci, die Deodonatus nicht richtig verstanden hatte: »Oh Herr, gib uns unser tägliches Brot, denk an die, die nichts zu essen haben. Sie können nicht aus der Fülle unserer Speiseangebote schöpfen. Hunger und Elend prägen deren Alltag. Wir dagegen tun uns regional gütlich an Leberspätzle und anderen Spezialitäten. Herr, gib uns die Kraft, andere mitzuspeisen, sie an unserem üppigen Mahl teilhaben zu lassen. Wir bitten dich, erhöre uns.« Zögerlich stimmte die Gemeinde in den liturgisch bekannten Sprechrefrain ein.

Cäci war stolz, den absurden Begriff ›Leberspätzle‹ eingebracht zu haben und fragte sich wohl im Stillen, ob Deodonatus durch den Sturz gegen den Lattenzaun ernstere Schäden davongetragen hatte.

Fünf ewige Sekunden war es mucksmäuschenstill in der Kirche, nur die Hitze lärmte. Cäcilia nickte auffordernd in den lichtdurchfluteten Kirchenraum hinein. Dann kam der Stichwort-Zuruf aus der ersten Reihe: »Sünde.«

Der fünfjährige Paul-Josef Hallinger, verhaltensauffälliger Nachzügler in der bürgermeisterlichen Familie, freute sich sichtlich über seinen Beitrag. Cäci nickte andächtig in meine Richtung. Ich befürchtete berechtigterweise das Schlimmste für mich, weil mein freies Reden oft unkontrollierbare Wege wählte, die ich schlecht wieder verlassen konnte.

»Ähm … Sünde. Schon Jesus hat gesagt, wer frei von Sünde ist, möge den ersten Stein erheben und ihn auf die Ehebrecherin werfen. Also ähm … Ehebruch ist ja heute bei vielen Frauen so richtig in Mode gekommen. Sie sehen im Fernsehen nichts anderes als Geschlechtsgenossinnen, die vor lauter Langeweile die Ehe brechen. Selbst Frauen um die 50 scheinen einer Affäre nicht abgeneigt. Diese medialen … ähm, Beispiele werden nun von vielen auch schon reiferen Frauen von 30 Jahren oder mehr nachgeahmt. Frauen, die Familie und ein Zuhause haben, einen Mann, der hart arbeitet … und ähm …, die Kinder sind in der Schule, der Mann ist bei der Arbeit. Die Wäsche macht die Maschine. Tiefkühlessen ist in Minuten servierfertig, und dann weiß eine junge Mutter heute eben den ganzen Tag nicht, was tun und gibt sich aus Langeweile dem Ehebruch hin …«

Ich bemerkte einen Stoß gegen mein Schienbein, Cäci lächelte ihr hellstes Lächeln in die irritierte Gemeinde. Ich fuhr fort: »… Herr, gib diesen fehlgeleiteten Frauen die Kraft, ihren Kindern ein selbst gekochtes Mittagessen, es müssen ja nicht fünf Gänge sein, auf den Tisch zu stellen. Herr, gib diesen Frauen auch die Kraft, den Verlockungen des männlichen Fleisches zu widerstehen. Herr, gib uns Männern aber auch die Kraft, den Frauen zu sagen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Ein Leben auf dem Land ohne Ferrari und Silikonimplantate kann auch ein erfülltes Leben sein.«

»Wir bitten dich, erhöre uns«, klang es sonor von der Männerseite her.

Ich wusste sofort selbst, dass meine Fürbitte kein rhetorisches und gedankliches Highlight war, aber besser als nichts zu sagen, war es allemal. Außerdem hatte mir Cäci den Schlamassel eingebrockt. Meine Aufgabe hier ist mesnern und nicht predigen.

»Täter«, klang es blond aus den hinteren Reihen.

Aus der Orgelempore war das Rumpeln und atonale Musizieren einer umfallenden Gitarre zu hören. Deodonatus richtete sein Auge strafend nach oben.

»Herr, wir wissen, dass jemand auf fürchterliche Weise schuldig wurde. Der Täter ist vom Feuer des Hasses erfüllt, er hat Unschuldige getötet. Möge er vor dir Gnade wie ein Kind finden. Hier auf Erden soll er seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Wir bitten dich, erhöre uns.«

Cäci hatte es eindeutig besser gemacht als ich, eigentlich schade, dass katholische Frauen nicht Pfarrerin werden dürfen, Cäci hätte eine sehr gute abgegeben. Es kamen keine weiteren Zurufe mehr aus der sonntäglich gekleideten Gemeinde. Deodonatus schien erleichtert und spulte routiniert den restlichen Gottesdienst herunter. Lediglich Missklänge des Organisten ließen einige Köpfe um 180 Grad drehen.

Zum Abschluss lud Deodonatus mit einer weit ausladenden Geste zum morgigen Doppelbegräbnis ein.