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Nachdem ich am Samstagmorgen noch nach Bad Saulgau gefahren war, von Kommissar Härmle befragt wurde und meine Aussagen dann schließlich bei einem freundlichen Polizisten zu Protokoll gegeben hatte, war der Weg für ein erholsames Wochenende im Kreise der Lieben eigentlich geebnet.
Der Milwaukee-Iron-Kings-Eagle-Boys-Only-Street-Stammtisch traf sich vor dem Ochsen zu einer Ausfahrt. Alle hatten ihre Sonntagsmaschinchen an diesem Samstag dabei. Es donnerte ordentlich, als wir in Richtung Bodensee starteten. Über den nahen Höchsten wollten wir die erste Station in Friedrichshafen machen. Uferpromenade. Eis essen. Der zweite Stopp sollte dann in Ravensburg sein, in der Eichelstraße. Der Irish Pub. Dunkles Bier. Von dort sollte es nach Bad Schussenried gehen. Bierkrugmuseum, mit anschließendem Vesper im Biergarten. Maschinen nach Hause und harmonischer Ausklang in Saulgau bei Hans im Franziskaner. Letztendlicher Absacker bei Andrea im Sternen. Frauen anrufen – Shuttleservice ins Bettchen. Gesicht würde versuchen, in der Mausefalle sein Single-Dasein zu einem erotischen Ende zu bringen. So hatte es sich Butzi, unser Routenplaner als Touren-Beauftragter vorgestellt. Wir waren noch nicht einmal über dem Höchsten, dem höchsten Berg der näheren Region, als Flaschen-Gordons Shovelhead ihren Geist aufgab.
Die Kette war gerissen, hatte sich um die hintere Achse gewickelt und dazu noch ein paar Speichen verbogen. Wir transportierten die havarierte Maschine mithilfe von Joes Frau, ihrem VW-Bus und einem MIKEBOSS-Motorrad-Anhänger nach Bad Saulgau. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihrem Mann helfen musste, dessen antiquarische Harley zu bergen. Sie trug ihr Frauenschicksal mit stoischer Gelassenheit. Ihre drei Kinder hatten den unfreiwilligen Ausflug als spannende Unterbrechung eines langweiligen Spielplatz-Samstagnachmittags am Illmensee sichtlich genossen. Nur Joe war nicht heiter, er fluchte ununterbrochen.
Zwei Stunden später saßen wir in Bad Saulgau im Bohnenstengel an unserem Stammtisch. Im Dunkel der Kneipe war die Hitze erträglicher als im kleinen Biergärtchen. Die Diskussion wurde hart, aber fair und vor allem laut geführt. Auf den Nenner gebracht war es die Diskussion: Riemen oder Kette an einer Harley.
Als moderner Mensch vertrat ich die Devise: »Revolution ist Evolution und der Riemenantrieb ist die Zukunft in der Kraftübertragung ans Hinterrad bei hubraumstarken Motorrädern.«
Ich hatte schon drei WalderBräu naturtrüb hell. Joe hatte sich bereit erklärt, mit dem VW-Bus die Fahrgeschäfte zu übernehmen.
Flaschen-Gordon nippte an seinem Bierfläschchen und schaute traurig. Er hatte den Verlust seiner Antriebskette und dreier verchromter Speichen noch nicht verkraftet.
»Komm, Gordon, Kopf hoch, vier Stunden schrauben, eine fahren ist für eine alte Shovelhead doch ein prima Verhältnis.«
Wir hatten sehr viel Freude an diesem sommerlichen Samstagnachmittag mit Flaschen-Gordon und seinem Missgeschick, bis die Tür zum Bohnenstengel aufging und ein Engel mit finsterem Gesicht hereinstürmte. Immer wenn ich sie sah, vollführte mein Sonnengeflecht ein kurzes Freudentänzchen. Sie sah auch wieder klasse aus. Die Jeans hauteng um die schmalen Hüften und die langen Beine geschmiegt, das untere Ende steckte in hellbraunen Cowboystiefeln. Die ansehnliche Mitte war in eine weiße, in der Jeans geschoppte, weite Bluse gehüllt, deren Holzknöpfe im oberen Bereich einen vielversprechenden Einblick in ein makelloses Dekolleté gaben. Der obere Teil bestand im Augenblick aus riedwasserbraunen großen Augen, die vor allem mich vorwurfsvoll anfunkelten. Mit einer schnellen, trotz alledem eleganten Geste strich sie sich eine Strähne ihres langen, brünetten Haares aus dem ovalen Gesicht mit den vollen Lippen.
»Cäci, was machst du hier? – Du wolltest doch erst nächste Woche kommen, hat deine Mama gesagt.«
»Hallo … Daniel, kannst du mir erklären, was da los ist?«
Cäci baute sich vor mir auf, zog die Ohrstöpsel ihres iPods heraus und stemmte energisch ihre Fäuste in die Hüften, was wiederum die silberne Gürtelschnalle mit dem Indianerkopf trefflich betonte.
»Mama musste auf die Polizeiwache. Ich bin extra von Tübingen hergefahren. Aber ich darf da nicht mit rein. Sie wird verhört. Ich habe nur mitbekommen, als die Polizisten sich unterhalten haben, sie hätte Insiderwissen oder Täterwissen. Sie hatte nur gemeint, ich soll mich mit dir in Verbindung setzen. Du wüsstest Bescheid, ich soll nur sagen – ›das arme Mädchen‹.«
Fragend schaute sie mich an und zog dabei ihre dunklen Augenbrauen finster zusammen, sodass sie über der Nase beinahe zusammenstießen. Mein Kopf verfärbte sich rötlich, mir dämmerte es allmählich. Die Bilder. Frieda hatte sie alle gesehen und wahrscheinlich bei etlichen Gästen damit geprahlt. Und ich hatte der Polizei nichts von meinen fotografischen Tätigkeiten gesagt.
»Jetzt erzähl mal, was es mit dem armen Mädchen wirklich auf sich hat.«
»Das ist nur eine Eselsbrücke von deiner Mama. Sie will mich … ja, wie soll ich sagen … ein bisschen schützen.«
Cäcis düsterer Blick wurde nicht freundlicher: »Warum soll sie dich schützen? Meine Mama hat doch mit dem Toten in der Kapelle nichts zu tun, was hast du ihr da eingebrockt?«
»Ich denke, das erkläre ich besser, wenn deine Mama mit dabei ist, dann weiß ich auch, was sie den Polizisten gesagt hat.«
Die MIKEBOSS-Stammtischler schauten recht ratlos und Cäci zuckte mit den Schultern: »Wie du meinst. Ich habe aber nicht die geringste Lust, meine Semesterferien wegen irgendeinem Blödsinn, den du mal wieder verbockt …«
Ich verschloss meine Ohren mental und hatte dabei das Gefühl, dass meine Werte auf Cäcis Beliebtheitsskala gerade rapide am Sinken waren.
Zusammen versuchten wir dann Cäci zu beruhigen und überredeten sie zu einem Kristallweizen. Kaum hatte sie sich zu uns gesetzt und gerade zum ersten Schluck ihres Bieres angesetzt, klingelte ihr winziges Handy den Radetzkymarsch. Es war ihre Mutter, sie wollte vom Polizeirevier abgeholt werden.
Sie nahm noch einen großen Schluck, wischte sich das weiße Schaumbärtchen von der Oberlippe, bedrohte mich mit ihrem hübschen Zeigefinger, an dem sie immer noch den silbernen Schlangenring mit den Türkisaugen trug, den ich ihr zum ersten Kuss geschenkt hatte, und zischte mich an: »Wir sehen uns gleich im Ochsen, und dann wird Deutsch geredet!«
Ich sparte mir einen billigen Scherz, den sie in dieser Stimmung sicherlich missverstanden hätte. Jedes Wort konnte zu viel sein, ich nickte nur in ihre Richtung.
Energisch klopften die Cowboystiefel auf den Holzboden, als sie aufrecht und schlank zur Tür schritt. Ihr langes dunkles Haar fiel fast bis zum Gürtel. Sie wusste, dass ich ihr nachschaute, und drehte sich deshalb nicht mehr um.
Im Ochsen angekommen, versuchte ich mich darauf vorzubereiten, der verstimmten Cäci in Anwesenheit ihrer grummelnden Mutter und unter Beobachtung sichtlich irritierter MIKEBOSS-Stammtischler die Sache mit der Kamera zu erklären, und vor allem, warum ich der Polizei nichts von den Bildern gesagt hatte. Um Neugierige auszuschließen, hatten wir uns Holzstühle aus dem Gastraum geholt und uns um den monströsen altmodischen Gasherd versammelt, an dem Frieda und Cäci mit ihren Küchenhilfen gerade klodeckelgroße, panierte Schnitzel in wagenradgroßen Pfannen goldbraun anbrieten. Wenn die Bedienungen hereinkamen, um zentnerweise Schnitzel mit Pommes, Soße und kleine Salate in den Biergarten zu tragen, unterbrachen wir unser Gespräch oder flüsterten.
Um wenigstens ein paar Bonuspunkte bei Cäci zu sammeln, hatte ich mir die Katze mit dem schwarz-weißen Schwanzende, die auch Motorradfahrer mochte, in die Küche mitgenommen und auf meinen Schoß gelegt. Um meine nervösen Finger zu beruhigen, kraulte ich sie unterm Kinn. Das gab mir etwas Sicherheit und der Katze bestimmt auch irgendetwas.
»Nimm nachher das Vieh wieder mit raus, die Katze hat hier drinnen nichts verloren«, schimpfte Frieda.
Frieda war wohl auch etwas verschnupft, der Besuch bei der Polizei war ihrem ansonsten heiteren Naturell offensichtlich abträglich gewesen. Die Sache mit dem armen Mädchen entwickelte sich langsam zu einem kleinen, aber lästigen Problem, da Cäci auf keinen Fall von dem armen Mädchen erfahren sollte. Und das wusste Frieda. Auch die anderen ging es im Grunde genommen nichts an. Und wenn das Susi erfuhr, dass Frieda die Bilder gesehen hatte. Irgendwie musste ich aus der Sache herauskommen. Die Hitze in der Küche schien schlagartig um einige Gradzahlen zu steigen.
»Mein Gott, das ist ja sauheiß hier.«
Aber vorerst ließ mir Frieda noch Bedenkzeit, sie begann zu schimpfen: »Das war die Blonde von der Polizei«, meinte Frieda und war sofort wieder im roten Drehzahlbereich, »die ist immer hinter mir her geschlichen und hat gelauscht, was ich meinen Gästen erzählt habe. Aber nur so bekommt man Kundschaft, Leute – Sex und Crime. Und Crime haben wir jetzt, und zwar ordentlich. Eine Leiche in der Kapelle und Hundeschändung in der Nachbarschaft. Näher geht’s ja gar nicht. Das muss man doch gastronomisch nutzen! Ich bin doch von den Gästen abhängig, was glaubt ihr, wie der Laden hier läuft, seit ich jeden Tag ein bisschen mehr erzähle. Ich brauche jeden Abend Aushilfen. Die Gäste kommen sogar aus Sigmaringen, Ravensburg und Saulgau. Und ich hab ja die Bilder vom Danile genau gesehen, ich hab doch nicht die Unwahrheit gesagt. Und jetzt behaupten die von der Polizei, ich könnte das nur gesehen haben, wenn ich selbst dort gewesen sei und in der Kapelle gewesen wäre. Oder von dir könnte ich’s wissen, aber du behauptest ja, dass du nicht in der Kapelle warst und die Tür nicht aufgemacht hast. Wie die Spurensicherung sagt, seist du wohl bewiesenermaßen nicht in der Kapelle gewesen. Keine nachweisbaren Spuren von dir. Und ich wüsste als Einzige, wie’s innen aussieht. Na, da habe ich mich ganz schön rausreden müssen. Ich hab schon gedacht, die behalten mich.« Sie wollte gar nicht mehr aufhören, so echauffiert war Frieda. Ich stellte die Frage aller Fragen: »Hast du’s ihnen nun erzählt oder nicht, die Sache mit der Kamera, und dem … ähm, armen Mädchen?«
»Nein!«
Sie schaute mich vorwurfsvoll an. Cäci schaute mich neugierig an, sie ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Ich hab dir doch mein Ehrenwort gegeben.«
Unauffällig versuchte sie zu ihrer Tochter Cäci zu schauen und nickte mir dann wissend zu. Dann wurden ihre Augen feucht, sie kam auf mich zu, drückte mich an ihr großes Herz und flüsterte kaum hörbar: »Die Cäci braucht doch das von der Rothaarigen nicht wissen.«
Ich drückte ihr dankbar kurz die Hand und sagte dann laut in Richtung Frieda, die wieder zum dampfenden und zischenden Herd ging: »Du hättest das mit den Fotos von der Leiche den Polizisten gern erzählen können. Ich sage denen dann, ich hätte das vergessen zu erwähnen, oder dass ich die Bilder der Presse verkaufen wollte und deshalb nichts gesagt hätte … oder irgendetwas, was sich noch besser anhört.«
»Das klärt aber immer noch nicht die Sache mit dem armen Mädchen, Daniel«, funkelte mich Cäci aus der Tiefe ihrer riedwasserfarbenen Augen an.
Für ihren Kücheneinsatz hatte sie die weiße Bluse durch ein rotes T-Shirt mit der weißen Aufschrift ›Bedienung‹ ersetzt. Auch das stand ihr auffallend gut.
Die restlichen MIKEBOSS-Stammtischler nickten wie der Geldmohr mit dem Turban an Weihnachten in der Kirche, wenn man ein Geldstück einwirft. Auch sie waren äußerst neugierig auf die Enthüllung. Sie erwarteten eine Sensation.
Resigniert ließ ich die Schultern sinken, auch die Katze wurde mir lästig, es war viel zu warm für eine Katze auf dem Schoß.
»Ja, das war sooo. Als ich deiner Mama die Bilder vom Toten gezeigt habe, hat sie da halt noch weitergezappt … als eben die Leichenbilder … und da waren halt noch andere Bilder … eins halt mit drauf von einem Mädchen …«
»Und, wo gibt’s da ein Problem?«
Bei dem Wort ›Problem‹ hob Cäci ihren hübschen Kopf, strich gekonnt die widerspenstige Strähne aus dem Gesicht und zog die Nase eigenartig nach oben und ich wusste genau, jetzt wird es eng für mich.
»Eigentlich keins, das Mädchen hatte halt nichts an.«
»Waaas …? Und mir ins Telefon sülzen: ›Ach, komm doch wenigstens an den Wochenenden. Wir können’s ja noch mal versuchen.‹«
»Nur einen ganz knappen Bikini …«
»Ach was, lüg mich nicht an.«
»Nur oben ohne.«
»Jetzt reicht’s, sag mir, kenne ich sie?«
»Susi.«
»Lauter!«
»Suuusi!«
»Waaas? Aber nicht die fette, rothaarige Biker-Schlampe, die mit dem albernen Arschgeweih. Ich habe bis jetzt gedacht, du stehst auf schlanke, große Frauen.«
Demonstrativ schaute Cäci auf ihre Beine.
»Und Intelligenz war bis jetzt für dich auch immer ein Kriterium.«
Sie hob den Kopf leicht an und zog ihre Nase schnippisch nach oben.
»Und Rothaarige waren bis dato auch nicht in deinem Beuteschema, oder täusche ich mich etwa?«
Sie streichelte kurz über ihr brünettes Seidenhaar, ihre Riedwasser-Augen blitzten gefährlich.
»Aber wahrscheinlich sind es ja die üppigen Primärreize, da kann ich nicht mithalten. Wenn die um die Ecke kommt, sieht man ja erst mal fünf Minuten nur Titten.«
Sie hob ihre schlanken, braunen Hände andeutungsweise in Richtung ihrer Brüste. Die MIKEBOSSler wurden immer nervöser auf ihren Stühlen und lenkten abwechselnd ihre Blicke zu Cäci und mir. Sie hatten ihre Sensation.
Ich wollte aufstehen und gehen, das war nicht mein Niveau. Doch Cäci war ordentlich in Fahrt, sie stand jetzt direkt vor mir, sodass die Aufschrift ›Bedienung‹ direkt vor meinen Augen wippte. Sie drückte mich unsanft zurück auf den Küchenstuhl.
»Ich möchte da jetzt nicht … ähm, vergleichen … das ist nicht mein Niveau. Du verstehst das völlig falsch. «
»Niveau, Niveau, ausgerechnet du redest von Niveau. Gibst dich mit dieser drittklassigen rothaarigen Regional-Schlampe ab. Und was war außer Fotografieren?«
Ich zog meine Schultern nach oben.
»Nur Fotos am Baggersee, … ehrlich, mehr war nicht … halt ein bisschen oben ohne, mein Gott, wir sind doch moderne Menschen … mit ähm … modernen Beziehungen.«
»Ha! Gerade du und modern! Die hat dir bestimmt nicht nur ihre Möpse gezeigt!«
Cäci sprang auf, steckte sich demonstrativ die Ohrstöpsel ihres kultigen Mini-Musik-Players in die Ohren und marschierte energischen Schrittes Richtung Gastraum.
»Ich gehe jetzt bedienen, die Gäste warten! Die behandeln einen wenigstens anständig!«
Auf ihren langen Beinen stampfte sie verärgert zur Küchentür hinaus.
Die gefühlte Küchentemperatur betrug circa 52 Grad Celsius.
»Doch, ich kann’s beweisen, dass da sonst nichts war. Die Bilder sind auf meiner Festplatte«, rief ich der schönen Stürmenden hinterher.
Und kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, merkte ich, wie dumm sie waren.
Die MIKEBOSSler stürmten auf mich ein: »Wahnsinn. Die rote Susi? Ist das die von der Bank? Die mit den riesigen …?«
Butzi formte seine Pranken zu Halbschalen und führte Auf-und-ab-Bewegungen vor seinem Brustkasten durch.
»Die Bilder. Zeig sie uns! Auf, komm, wir fahren sofort zu dir.«
Ich schämte mich für meine Geschlechtsgenossen. Nichts Niedriges schien ihnen fremd.
In meinen Gedanken war ich jedoch schon Meilen weiter als meine notgeilen Bikerfreunde: Morgen sofort einen Termin mit Susi abmachen … am Baggersee … Kamera mitnehmen … Cäci dann die harmlose Variante präsentieren … Beruhigung der angespannten Situation … Probleme sind dazu da, sie zu lösen.