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Der spontane Gedenk-Gottesdienst, der auf Initiative der katholischen Gemeinde für Margot Kramer am Dienstag um 18 Uhr stattfand, war deutlich besser besucht als jeder Sonntagsgottesdienst in leichenfreien Wochen. Auch einige Evangelische aus dem nahen Wilhelmsdorf saßen zur Freude des jungen afrikanischen ›Ausleihpfarrers‹ Deodonatus Ngumbu in den engen Holzbänken. Ebenfalls anwesend war die Polizei, Hauptkommissar Härmle saß unauffällig in der letzten Reihe neben seiner blonden Komplizin, die heute das kleine Schwarze trug. Ich zwinkerte ihr, als ihr neugieriger Blick mich festhielt, aus meiner privilegierten und übersichtlichen Sitzposition kurz zu. Sie schaute mich mit kurzem Erstaunen an, richtete ihren Blick auf meine Stiefel aus Reptilienleder und tippte sich dann dreimal ganz kurz und unauffällig mit ihrem rechten Zeigefinger an die Stirn.
Dumme Bullenkuh.
Ansonsten war heute alles in der Kirche, was Rang und Namen in der Gemeinde hatte. Nur der alte Pfarrer fehlte. Vielleicht ging es ihm zu nahe, dass sein jahrzehntelanger keifender Schatten nun dort war, wo er immer hingepredigt hatte.
Da schau ich nach dem Gottesdienst kurz vorbei – der Alte mit seinem schwachen Herz … von der vielen Sauferei … nur den besten Messwein, Bodensee-Qualität … nicht dass der noch unterm Tisch liegt.
Dieser Gottesdienst war für mich Pflicht. Nicht weil ich die alte Margot Kramer mochte, war ich heute hier, sie war die einfältigste alte bigotte Kuh, die ich je kennengelernt hatte und die sich in alles einmischte, was sie nichts anging. Auch die Neugierde war nicht Motivation meiner gedenkgottesdienstlichen Anwesenheit. Es war der Dienst im Namen des Herrn.
Der Gemeinde-Mesner Herr Kalner war zwar körperlich noch fit, wurde aber in den letzten Jahren seines Amtes immer verschrobener und konnte sich mit seinen 69 Jahren kaum mehr etwas merken. Und so war ich vor sechs Monaten, als der Aushilfspfarrer mich bat, zum Job des Ersatzmesners gekommen, und das auch noch für ein gutes Taschengeld. Die Katholische hat immer noch genug Kohle.
Die eigenartige Stimmung im heißen Gotteshaus machte mich schläfrig und so schwelgte ich bald in Erinnerungen an den gestrigen zweiten Teil des Sonntagmorgens. Cäci war nach einem Schlückchen Sekt recht locker geworden und hatte gemeint, ich könne ja ›Susi‹ löschen und einen Ordner ›Cäci‹ anlegen. Das waren keine schlechten Aussichten.
Einer der liturgischen Höhepunkte des Trauergottesdienstes, das Vaterunser, wurde mal wieder zum Ereignis, das Mikrofon am Ambo verrichtete seinen Dienst unzulänglich und gab bei jedem gesprochenen Vokal ein nervenzersetzendes, hochfrequentes Pfeifen an die miserablen Lautsprecher weiter.
»Vater unsa, der du bist in Himmäl …«
Ich mag ihn sehr, unseren freundlichen Pfarrer aus Kenia, manchmal kommt er sogar zum MIKEBOSS-Stammtisch in den Bohnenstengel. Butzi hatte ihm eine 1,7 PS starke NSU Quickly S, Baujahr 1957 in perlgrau und jadegrün als Missionsfahrzeug hergerichtet, mit der er nun im Namen des Herrn unterwegs war.
Da stand er vorn im Altarraum und füllte ihn mit einer unglaublichen Präsenz aus. Er war schon ein ganz besonderer Mensch, unser neuer Pfarrer Deodonatus, der von Gott geschenkte, der jahrelang in den Slums von Nairobi seine seelsorgerische Tätigkeit verrichtet hatte. Taufen ließ er sich mit 15 Jahren, gegen den Willen seines mächtigen Vaters. Wie ein Musterathlet stand er mit seinen breiten Schultern und seiner kräftigen Gestalt im Altarraum. Seine Hautfarbe war von tiefem Schwarz, die kurzen schwarzen Locken lagen eng an seinem ovalen Kopf. Die Lippen standen voll unter seiner langen und geraden Nase. Für den heutigen Gottesdienst trug er das passende Messgewand, ansonsten war er nie ohne seine Soutane mit den 33 Knöpfen, die dem Alter Jesu entsprachen, zu sehen. Mit seiner freundlichen und humorvollen Art hatte er schnell die Herzen der Riedhagener Bevölkerung gewonnen. Er schien immer bester Laune zu sein und hatte für jeden in der Gemeinde, ob katholisch, evangelisch, atheistisch oder zu der einzigen muslimischen Familie des Ortes zugehörig, ein offenes Ohr. Obwohl sein Einstand in die kleine oberschwäbische Gemeinde nicht ganz leicht war – von den Jungbauern hatte er sofort den Spitznamen ›Buschpfarrer‹ bekommen – gewann er durch seine sympathische und menschenfreundliche Art bald die Herzen der Einwohner Riedhagens. Neben seiner Stammgemeinde, in deren Pfarrhaus er wohnte, betreute er noch drei Nachbargemeinden.
Der Anblick des tiefschwarzen Geistlichen und die Entwicklung der Dinge an und für sich in unserem Dorf brachten mich wieder einmal in eine sentimental-philosophische Sakral-Stimmung, vielleicht war der unbewusste Auslöser auch das meditative Orgelspiel des Dorfhippies Philipp aus der Frauen-Psychogruppe, denn verstärkt flossen nun meine Gedanken: Früher sind die Weißen in den Busch, haben wie die Berserker herummissioniert, haben ewig gebraucht, um den Schwarzen ihren Voodookram auszureden. Und heute, heute kommen die Missionierten aus dem Busch zu uns, um uns die Religion, die wir ihnen gebracht haben, wieder neu beizubringen. Weil kein 16-jähriger Disko-Trottel mehr weiß, was eine Monstranz ist und keine 16-jährige Ich-fühl-mich-wie-eine-Popstar-Schlampe mehr weiß, was Kommunion bedeutet. Die halten das für ein Medikament. So weit ist es gekommen. Gott sei Dank gibt es Kerle wie Deodonatus Ngumbu, die kein Risiko scheuen, im Dschungel des undifferenzierten Atheismus den Kampf gegen die Gottlosen anzutreten. Deshalb hat der MIKEBOSS-Stammtisch ihm auch die NSU Quickly geschenkt – um nun mobil an allen Stellen des aufflackernden Atheismus schnellstmöglich missionarisch tätig sein zu können.
Das war immer so, die Gedanken taten, was sie wollten, und so war ich ganz froh, als unerwartet Herr Kalner, der Alt-Mesner, durch die Sakristei in die Kirche stapfte und meine Gedanken unterbrach. Vorgestern zum Sonntagsgottesdienst hatte er sich kein einziges Mal blicken lassen. Er verbeugte sich kurz vor dem Altar, ging zum Seitenaltar und zündete dort die Kerzen an. Wahrscheinlich war er gedanklich schon bei Weihnachten. Er kam wieder zurück, verbeugte sich im Mittelgang wieder kurz zum Altar hin und verschwand in der Sakristei. Immer wieder brauchte er solche Auftritte, er wollte noch nicht zum alten Eisen gehören.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ein weiteres liturgisches Highlight: Deodonatus spendete den Schlusssegen durch die rebellierenden Lautsprecher: »In Namä von Vatte, Sohn und die heilige Geistaa.«
Das darauf folgende, unerwartet aktuelle Schlusswort von Deodonatus Ngumbu kam mir länger vor als seine Predigt. Einige, die schon zur Kirche hinaus wollten, hielten noch einmal kurz inne: »Lieba Gemeinde, war schrecklicha Woche für Doaf. War de Tod von lieba Frau Maagot Krama in da Kapelle von da Wendelinus. Lieba Frau Maagot hatta meina Vorgänga gedient. Wenn wieda zurückkommt von Obduktion von Tübingen, dann richtige Beädigung mit Kirchakor … Dann war auch noch da tote Hund ina Garten vona Gemeindemitglied. Für Gemeinde ista des alles seah schlimm, es ist wischtig zusammahalte und bruderlisch Solidarität. Einanda Unterschtützung in da schwära Zeit, wischtisch, aba schlechta wenn falsche reda, wenn zu schnell Urteil üba andera fälla.« Er hatte recht, unser Pfarrer!
Die Leute zog es nun förmlich zur Kirche hinaus, die Ministranten waren schon zur Sakristei geeilt, als der schwarze Pfarrer noch einmal anhob: »Unsere lieba Herr Maiser Philipp spielta uns noch für Gemeinde und de Frieda in Gemeinde noch eina Bachkorall. Scheene Tag noch.«
Ich schaute kurz zu Frieda, sie war aus ihrer schläfrig-meditativen Stimmung hochgeschreckt, als sie ihren Namen hörte, hatte Deodonatus jedoch sofort richtig interpretiert. Sie wusste, dass ihr kein Abschlussständchen gespielt wurde, und rutschte wieder in eine bequemere Sitzposition. Alle warteten auf Philipps erbärmliche Intonation des angekündigten Bachchorals. Außer warmer Stille war jedoch nichts zu hören. Meiner Aufgabe als Mesner bewusst, schritt ich zur Orgelempore die Treppen hinauf.
Philipps Platz war leer.
Von der Kirche wie fast von jedem Ort des Dorfes hatte ich nur knappe fünf Minuten nach Hause. Bei Nachbar Müller erwartete mich die nächste Überraschung. Ich wähnte den Frührentner bei einer unnötigen abendlichen Gartenarbeit zu selbsttherapeutischem Zwecke. Die nachbarliche Situation stellte sich jedoch gänzlich anders dar.
Während des Gedenkgottesdienstes für seine Nachbarin Margot war bei Herrn Müller ein Steinmetz mit seinem Kleinlaster angereist und hievte gerade mit einem Kleinkran einen Großstein mit Inschrift in Müllers Garten.
Ich warte seit vier Monaten auf eine Ersatzstufe an meiner Treppe und der bekommt seinen albernen Köter-Gedenk-Brocken noch nach Feierabend!
Der runde Aufkleber ›Schäferhundverein e. V.‹ am Kleinlaster erklärte alles. Müller selbst stand breitbeinig und zufrieden in einem kleidsamen blauen Arbeitsanzug auf seinem Rasen und betrachtete die Arbeit. In seinen Armen hielt er einen winzigen Schäferhund, der ihm eifrig das Gesicht leckte.
Wo kann man so schnell Schäferhunde kaufen? Kauft man Hunde – als beste Freunde des Menschen – überhaupt? In welchen Läden kauft man Hunde? Ich habe in einer Zoohandlung noch nie Regale mit Hunden gesehen. Kinder kauft man ja auch nicht in Läden, die sind ja mitunter auch Freunde des Menschen, die bekommt man. Hat Müller einen Hund bekommen?
»Wollen Sie ihn auch mal halten? Der beißt nicht. Eins-a-Zucht«, lachte Müller sein sympathisches Frührentner-Lachen und hielt mir das Tierchen hin. »Na, wie finden Sie den Stein?«
»Was steht denn da drauf?«
»Sie haben doch studiert und können lesen?«
Müllers WalderBräu-naturtrüb-hell-Wampe hüpfte im Takt seines Lachens.
Der am Kran pendelnde Stein senkte sich in die vorgesehene Mulde, zwei türkische Arbeiter, Vater und Sohn Özgül, die der einzigen muslimischen Familie im Dorf angehörten und im einzigen dreistöckigen Hochhaus wohnten, drückten ihn unter Stöhnen und Genörgel mit Stangen und Pickel in die richtige Position:
Waldemar 2001 bis 2008
Des Menschen bester Freund
vom Menschen hingemeuchelt
doch jenseits kommt die Stund
da sehen wir uns wieder
Unter die bedeutungsschwangere Inschrift waren noch zwei Löcher in den chinesischen Sandstein gebohrt.
Als ob Müller meine Frage geahnt hätte, sagte er stolz: »Da kommt noch ein Messingtäfelchen mit seinem Bild hin.«
»Kommen denn Hunde überhaupt in den Himmel?«
Entsetzt schaute mich mein Nachbar an.
»Aber Herr Bönle, Sie haben doch Theologie studiert. Das müssen Sie doch wissen, der Herr liebt alle Geschöpfe, und der Noah hatte alle in seinem Boot.«
Ich wollte den verunsicherten Müller mit seiner Grundschultheologie nicht enttäuschen – außerdem war ich mir nicht mehr sicher, ob in Noahs Arche auch ein deutscher Schäferhund war – und nickte: »Ja, stimmt schon, der Noah. Was ist denn übrigens mit dem schönen Vesper hier?«, fragte ich hungrig.
Auf einem großen Brett lagen leckerer Hinterschinken vom Schwein, eine Leberwurst, daneben eine harte Schwarzwurst. Zwei ungeöffnete Flaschen Bier ruhten daneben.
»Oh, die können Sie gern haben. Die Türken sind wohl was Besseres gewöhnt.«
Abfällig nickte er zu den schwitzenden Özgüls.
Ich enthielt mich jeglichen Kommentars im Hinblick auf eine ungestörte Nachbarschaft.
»Hallo, ihr Süßen«, rief es nervend von der Straße her.
Oh nein, nicht schon wieder Hildegard.
»Aaaah, das wird ja toll. Das ist bestimmt für Waldemar. Der würde sich sicher freuen, wenn er das sehen könnte«, bemerkte sie mit schrägem Haupt, um die Inschrift zu entziffern.
Dumme Kuh, wenn er sich freuen würde, würde er noch leben, wenn er noch leben würde, bekäme er kein Denkmal, wenn er kein Denkmal hätte, über das er sich freuen könnte, würde er sich nicht freuen. Außerdem können Hunde nicht lesen!
Nachdem sie unaufgefordert in den Garten meines Nachbarn stolziert war, bemerkte sie den winzigen Köter mit seinen großen Kuschelaugen auf meinem Arm.
»Gott, ist der süüüß! Darf ich mal? Als meine Lamas noch klein waren, hatten sie auch so ein Stupsnäschen.«
Sie fuhr unaufgefordert mit dem Daumen über die Nase des Hundes und rubbelte kräftig daran.
Für den kleinen deutschen Schäferhund auf meinem Arm schien die Verzückung und Entrückung der einfältigen Hildegard zu viel zu sein. Ich spürte warme Nässe am Unterarm. Entsetzt drückte ich das verdutzte Jungtier Hildegard an die knackige Brust, die die Inkontinenz des verwirrten deutschen Schäferbabys zu spät bemerkte und es auf Müllers Rasen plumpsen ließ. Und schon war es in Richtung der hohen Tannen durch die Hecken auf das Grundstück des Alt-Pfarrers verschwunden. In diesem Augenblick fiel mir wieder ein, dass ich mir sowieso vorgenommen hatte, nach dem Alt-Pfarrer zu schauen, da er beim Gedenkgottesdienst gefehlt hatte. Aber seit unser neuer Pfarrer das Sagen in der Kirche hatte, war der Alt-Pfarrer nicht mehr in der Kirche gesehen worden. Er hatte sich mehr und mehr aus dem Dorfleben zurückgezogen.
Ich rannte dem Hund hinterher. Hildegard rannte mir hinterher. Müller lachte und vergrub die Hände in den Taschen seines attraktiven Arbeitsanzuges in blau.
»Sie wissen ja, wie der Alte Hunde liebt, der holt sein Luftgewehr. Bringen Sie ihn mir ja heil wieder!«
Nicht nur einmal hatte der alte Pfarrer seinem Nachbarn Müller die Hundescheiße von seinem Grundstück auf die Haustreppe gelegt.
Als ich durch die Hecken stürmte, sah ich gerade noch, wie der deutsche Mini-Schäferhund zur offenen Verandatür des Alt-Pfarrer-Domizils hineinstürmte. Hinter mir hörte ich einen Schmerzensschrei. Hildegard bekam die zurückwippenden Zweige meiner Heckendurchquerung ins Gesicht.
»Pass doch auf!«
Und dann standen wir beide, ich etwas atemloser, jedoch im Gesicht streifenloser als Hildegard, auf der Veranda.
»Hallöööchen, Herr Pfarrer, der tut nichts. Herzliches Beileid noch …, der will nur spielen.«
Ich wusste schon immer, dass Hildegard beim Verteilen der Intelligenz nicht drangekommen war. Ich wusste auch, dass der Alte mit keinem Hund spielen würde, ich war mir sicher, dass er gerade sein Luftgewehr holte, mit dem er die Katzen, die unberechtigt sein Grundstück betraten, anschoss.
»Hallo, Herr Pfarrer, Entschuldigung … Müllers Hund …«
Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an das Düstere, als ich durch die Verandatür ins Studierzimmer trat. Mir wäre es allerdings lieber gewesen, meine Augen hätten sich überhaupt nicht an den düsteren Raum angepasst und ich hätte dieses Bild nie gesehen.
Auf dem Boden, neben dem Sessel, lag der ehemalige Pfarrer von Riedhagen. Nicht eine Spur Leben war noch in seinem Körper. Das hätte allein schon das große gusseiserne Kreuz verhindert, das aus der Mitte seiner Brust herausstand. Die Augen waren geschlossen und sein Gesicht sah, die eigene Situation missverstehend, friedlich aus. Was hell aus dem Mund herausragte, war nicht die Zunge, sondern eine kleine herausgeschnittene Seite eines Buches mit winzigen Schriftzeichen. Die bleichen Hände waren auf der Brust nachlässig gefaltet, wobei zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand das Eisen des Kreuzes emporstieg. Unter dem bleichen Kinn des Pfarrers lag wie zur Entschuldigung ein welkes Sträußlein Gänseblümchen.
Die Schmerzen in meinem linken Oberarm wurden stärker. Hildegard drückte immer heftiger zu.
»Was ist denn hier passiert? Wo ist der Kleine bloß hin? Ruf doch den Krankenwagen, Dani!«
Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von einer Woche zwei Leichen zu finden, ist in Friedenszeiten relativ gering.
»Ruf doch schon an. Vielleicht kann man da noch reanimieren. Tu doch endlich was und steh nicht so blöd rum! Ich glaube, der atmet noch.«
Jetzt erst konnte ich mich von diesem grotesken Bild losreißen, kniete mich neben den Alten und versuchte, den Puls zu fühlen. Die Hände waren schon kalt und steif. Selbst Jesus hätte ihn nicht mehr wiederbeleben können.
»Tu doch was, reanimier ihn«, schluchzte Hildegard.
Ich drückte ihr mein Handy in die Hand: »Ruf bei der Polizei an.«
Voller Grauen schaute ich mir den Zettel im Mund des Toten genauer an. Als ich mich zögerlich überwindend ganz nahe über das wächserne Gesicht beugte, meinte ich, schon einen leichten Geruch des Todes zu verspüren.
Es war eine kleine Seite, wahrscheinlich eine Textstelle aus der Bibel, mit rotem Stift waren Verse eingekreist, nervös versuchte ich die Worte zu lesen, konnte aber in Anbetracht der makabren Situation und meines vor Aufregung zitternden Kopfes lediglich ein paar Begriffe der winzigen Schrift entziffern:
›… erfüllte sich, … Propheten Jeremia …
… Geschrei … Rama … lautes Weinen … Klagen
Rahel weinte … Kinder … trösten … sie waren dahin.‹
Zur Sicherheit holte ich meine Kamera heraus und hielt alles, was mir wichtig erschien, in digitaler Qualität mit sieben Millionen Pixel fest. Vollautomatisch wurden Blende und Zeit berechnet, auch der Blitz benötigte kein Eingreifen meinerseits. Nichts im Raum ließ ich aus, vor allem den kleinen Zettel im Mund des Getöteten versuchte ich mit der Makro-Funktion der Kamera bestmöglich abzulichten.
»Lass doch den Blödsinn mit dem doofen Fotoapparat. Tu lieber was!«
Inzwischen war der Zwergenköter wieder aufgetaucht, somit hatte die nervende Hilde ein ihrem Intelligenzquotienten angemessenes Betätigungsfeld gefunden und ich endlich meine Ruhe, die jedoch nicht lange währte.
Die verstörte Hildegard rannte mit dem Hündchen auf dem Arm sofort zu Müller und erzählte, was sie im Nachbarhaus vorgefunden hatte. Müller ging durch die Hecke wie ein Raddampfer, in seinem Strudel der Steinmetzmeister und seine beiden türkischen Arbeiter. Gerade als ich meine intensive Fotoarbeit erledigt hatte, kamen die vier mit ihren schmutzigen Gummistiefeln hereingestürmt. Als sich der erste Schock gelegt hatte, trampelten sie durch das Studierzimmer des Toten und beäugten diesen aus jeglichem Winkel.
»Nichts anrühren, verdammt noch mal! Geht raus, ihr macht doch für die Spurensicherung alles kaputt«, rief ausgerechnet Müller, der nervös wandernd keinen Winkel des Raumes ausließ.
Zuerst verließen der Steinmetz und seine Arbeiter den grausamen Ort. Als ich zur Verandatür hinaustreten wollte, spiegelte sich das Innere des Raumes in der Scheibe der Tür und ich bemerkte gerade noch, wie Müller in einer raschen Bewegung einen Zettel vom Grundig-Röhrenradio des Pfarrers nahm. Ich drehte mich schnell um: »Ich mache noch ein paar Fotos.«
»Mensch, schnell raus, bevor die Polizei unsere Sauerei sieht.«
Der Zettel schien schon irgendwo verschwunden. In der Verandatür drückte sich Müller an mir vorbei und versuchte den rasch gefalteten Zettel in der Tasche seines neuen blauen Anton verschwinden zu lassen. Der Zettel rutschte jedoch neben die Tasche und landete, von dem auf die Grenzhecke zu eilenden Müller unbemerkt, direkt vor meinen Füßen auf dem Dielenboden der Veranda.
Sofort hob ich ihn auf.
›Wenn Sie noch einmal auf einen Hund schießen, werden Sie es bereuen!!
Einer, wo es gut mit Ihnen meint‹
Sprachlich war mit diesem Schreiben kein Literaturpreis zu gewinnen, aber die Aussage war interessant. Die Kamera hatte ich noch in der Hand – und schon war das Beweisstück digitalisiert.
»Herr Müller, das haben Sie verloren.«
Noch vor der Hecke gab ich ihm den wieder zusammengefalteten Zettel in die Hand.
»Ah, danke, da habe ich die Stunden der Arbeiter notiert.«
Diesmal landete das Stück Papier in der weiten Hosentasche seines Arbeitsanzuges.
Die rasch eingetroffenen Polizeibeamten und die mit ihrem Privatfahrzeug angereiste Beamtin höheren Dienstranges staunten über den unglaublichen Schmutz auf dem Boden des Studierzimmers. Als sie den Grund dafür vom plötzlich sehr redseligen Müller erfuhren, mussten sich die Arbeiter und ihr Meister eine Gardinenpredigt der Beamten anhören, wie man sich an einem Tatort zu verhalten habe. Müller nickte nur, er hatte inzwischen Turnschuhe an seinen Füßen.
»Haben Sie mal wieder die Leiche gefunden?«, kam die blondeste aller Beamtinnen auf mich zu.
Ich nickte und zeigte mit meiner Rechten auf die Einfältige.
»Sie waren auch dabei?«
»Ja, aber es war schon zu spät. Wir konnten ihn nicht mehr retten.«
Hildegard bekam feuchte Augen. Mitleidig schaute die Polizistin zu mir: »Ich bin jetzt seit 15 Jahren bei der Polizei …«
»So alt sind Sie doch noch gar nicht!«
»… aber ich habe noch nie zwei Leichen gefunden – und lassen Sie einfach Ihre dummen Bemerkungen. Ich kann Sie auch aufs Revier einladen, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Entschuldigung, dass ich zwei Leichen gefunden habe. Lieber würde ich meinen Frieden finden, das können Sie mir glauben.«
Lange und ausführlich mussten Hildegard und ich der geduldigen Frau Polizistin den Hergang unserer Entdeckung des getöteten Alt-Pfarrers schildern. Wir saßen idyllisch im Schatten der Tannen am Müller’schen Gartentisch, vor uns ragte drohend das neu gesetzte Mahnmal für den zu früh verstorbenen Hund empor. Die Staatsdienerin fummelte wieder an ihrem elektronischen Notizblock mit ihrem Plastikstocher herum und jeden Satz mussten wir zehnmal wiederholen, bis er gespeichert war. Die Hitze war immer noch unerträglich, doch Herr Müller hatte vom eigenen Most einen Fünf-Liter-Plastikkanister hergestellt, somit wurde die Vernehmung nach und nach heiterer. Zuerst hatte die Blonde die Annahme eines Glases Most verweigert, doch bald trank sie tapfer eine Mischung mit Mineralwasser im Verhältnis 1:1.
Vielleicht lag es am Mischungsverhältnis, dass sie am Ende der langatmigen Vernehmung ihren elektronischen Notizblock zwischen all den Flaschen und Gläsern auf dem Tisch vergaß, vielleicht lag es aber auch daran, dass das Ding so winzig und so grau war oder eventuell daran, dass die Hitze selbst abends das Innere des Kopfes dämpfte. Auch ich hätte es beinahe übersehen, als ich mich vom Tisch durch die Macht des Mostes leicht schwankend aufmachte, um über den Zaun in mein geerbtes Reich zu kommen. Aber da fühlte ich das winzige Informationszentrum schon in meiner klebrigen Hand. Hildegard blieb noch mit Müller sitzen, Lehrer und Frührentner haben eben immer Zeit. Er erzählte ihr wild gestikulierend eine Geschichte, wie Waldemar ihm beinahe einmal das Leben gerettet hätte.
Die Sonne ging rot unter, als ich völlig erschöpft und verschwitzt zum Ochsen lief. Zu Hause hatte ich es nicht ausgehalten, nachdem ich den Inhalt des polizeilichen Notizblockes und die Bilder meiner Kamera auf meine Festplatte kopiert hatte, denn in den Räumen stand die Hitze. Kurz vor dem Ochsen hörte ich Schritte hinter mir – Frauenschritte – es war die festbrüstige Nervensäge namens Hildegard: »Hallo. Gehst du auch noch in den Ochsen zur Versammlung? Das ist ja der Wahnsinn, was in diesem Kaff abgeht, und voll gruselig. Wenn ich das in der Gruppe erzähle, das glaubt mir niemand. Der Müller ist eigentlich supernett, ich denke, dem fehlt halt als Frührentner ein bisschen der Ausgleich. Ich hatte den immer für so einen Chauvi gehalten. Er kann mir auch so ein Hundebaby besorgen.«
Das Einzige, was du brauchst, ist ein Menschenbaby, dann zettelst du keine Gedenkdemos für Köter an und brauchst keine Psycho-Gruppen, dachte ich, sagte aber: »So ein Hündchen ist wirklich was Nettes. Und die aus der Gruppe wissen das doch schon längst, so was geht in Sekunden durchs Dorf.«
»Ich meine die andere Gruppe, die in Ravensburg.«
Ich fragte lieber nicht nach.
Im Biergarten herrschte Dorf-Krisen-Stimmung. Am Laternenpfahl hing ein Schild ›Geschlossene Gesellschaft‹. Der Bürgermeister Hubert Hallinger stand auf einer kleinen unnatürlichen Erhebung, einer umgedrehten hölzernen Bierkiste direkt unter dem größten Kastanienbaum, an dem schon die bunten 25-Watt-Glühbirnen mediterrane Stimmung verbreiteten. Er fuchtelte aufgeregt mit dem rechten Arm und hielt seinen Mitbürgern eine Ansprache. In der Linken hielt er einen frisch gefüllten Maßkrug. Wortfetzen drangen zu uns, ich stand mit Hildegard am geöffneten Fenster des gastwirtschaftlichen Nebenzimmers und versuchte, das Gehörte aus dieser sicheren Distanz in einen logischen Zusammenhang zu bringen.
»Unser schönes Dorf. Mord und Totschlag … von außerhalb … Zusammenhalt. Schwere Stunden … alle zusammen … das glaubt ja wohl niemand … Polizei … schlecht für den Tourismus … im Schweiße unseres Angesichtes … früher der Kommunismus, heute Mord und Totschlag … Auswirkungen der Russenmafia … selbst ein deutscher Schäferhund … auf das Grausamste … Zeichen der Überfremdung …«
So einen Schwachsinn hatte ich im Dorf zuletzt vor der anstehenden Bürgermeisterwahl gehört und als ich mich angewidert vom Fenster wegdrehte, hatte ich drei Frauen vor mir, eine doofe und zwei schöne. Das wohlgeformte, aber etwas nervös wirkende Fräulein Kommissarin, eine eifersüchtig dreinschauende Cäcilia und eine immer noch gedankenlose Hildegard. Zu meiner Beruhigung sagte Hilde: »Der redet mal wieder braune Scheiße!«
Mit einem koketten Augenaufschlag beantwortete sie meinen anerkennenden Blick.
»Wollen wir uns nicht alle an einen Tisch setzen?«, fragte die schlanke Blonde mit einer einladenden, fast meditativ weiten Handbewegung, die sie wahrscheinlich in einem Kommunikationskurs gelernt hatte.
»Au ja, und dann spielen wir Abendmahl und Sie bekommen die gute Jesus-Rolle. Ich bin der böse Judas.«
»Ist der immer so? Wie halten Sie das mit ihm aus?«, fragte die blonde Schöne gereizt in Richtung Cäci.
Cäci nickte und strafte mich mit einem wackelnden Zeigefinger. Die Situation gefiel mir langsam immer besser.
»Wo sind denn heute Ihre Mopedfreunde?«
»Die dürfen noch nicht so lange aufbleiben. Es wird ja schon dunkel, da kommt die Nachtfrau.«
»Daniii!«, warnte Cäci.
Das blonde Drei-Sterne-Eisfach-Fräulein nickte dankbar in Richtung Cäcilia.
Frieda war als Pendlerin zwischen Zapfhahn und Biergarten auf kurzem Umweg zu uns gekommen und hatte unaufgefordert vier WalderBräu naturtrüb hell auf den Tisch geknallt. Etwas Schaum spritzte auf den lackierten Holztisch des winzigen eigenwillig eingerichteten Nebenzimmers. Es war das Jagdzimmer. Cäcis Vater hatte in diesem seltsam geschmückten Raum mit seinen Jägerfreunden den wöchentlichen Stammtisch zelebriert. Überall hingen bleiche längliche Schädel mit mehr oder weniger großen Geweihen und Hörnern. Auf einigen größeren Geweihen saßen ausgestopfte Vögel: Eichelhäher, Elstern, Fasane, aber auch Bussarde und Sperber. Zentral drohte der grimmige Kopf eines Ebers, dessen gelbe, säbelartige Hauer furchterregend seitlich aus dem Maul ragten. Fast schon verspielt wirkten die präparierten Fische, Karpfen, Hechte und Forellen, die das düstere Gesamtbild mit ihren hochglanzlackierten Körpern auflockerten.
»Geht aufs Haus. Ich muss wieder raus, das Geschäft läuft. Wenn ihr noch was braucht, Cäci weiß Bescheid.« Kurzatmig und mit rotem Kopf, aber offensichtlich glücklich stürzte sie sich wieder in den tumultigen Außenbereich.
»Ganz schön was los«, sagte die Polizistin mit dem blonden Haar in meine Richtung. »Was haben Sie gestern Abend gemacht?«
»Gestern, Montagabend. Da war ich zu Hause. Cäcilia kann das bezeugen! Wollen Sie das nicht gleich wieder notieren?«
Cäcilia nickte schnell und bekam einen roten Kopf. Die Polizistin trank zu rasch auf meine kecke Frage hin einen kleinen Schluck und ihre braunen Augen blinkten hektisch: »Lassen Sie doch einfach mal Ihr dummes Geschwätz, mir ist heute nicht nach Späßchen Ihrer Couleur!«, fauchte sie schnippisch.
»Fehlt Ihnen etwas?«
»Ja, aber das geht Sie nichts an!«
»Vielleicht das?«
Ich zog ihren elektronischen Freund aus meiner Hosentasche und reichte ihn der Verdutzten über den Tisch.
»Wo haben Sie den gefunden? Ich habe schon das ganze Auto durchsucht.«
»Das kann ja nicht lange gedauert haben.«
Diesmal lächelte sie – verkrampft: »Danke, nicht auszudenken. Sie haben nicht reingeschaut? Fehlt ja erst seit eben. So was können Sie bestimmt nicht bedienen? Ihr technisches Verständnis geht ja nicht über das Betätigen einer Automatikkamera oder eines Gasdrehgriffes an einem Motorrad hinaus.«
»Danke, ich mag ehrliche Frauen.«
Das erleichterte Fräulein von der Polizei nahm ihr elektronisches Elend glücklich in die Hand und stach mit dem Plastikstift sofort darauf ein. Zufrieden bemerkte sie nach wenigen Kontrollblicken, dass alles Geheime und Vertrauliche aus ihren Ermittlungsarbeiten noch da war. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie sie die arme Maschine nötigte, Informationen zu speichern und abzugeben, und ging zum Tresen. Dort holte ich einen WalderBräu-Kugelschreiber und fünf WalderBräu-Bestellblöckchen. Kommentarlos legte ich die praktischen und nützlichen Schreibutensilien neben den grauen wieder heimgekehrten verlorenen Sohn der Kommissarin aus Kunststoff. Ärgerlich blitzte sie mich an und sagte in Richtung Cäci: »Habe ich Ihnen schon gesagt, dass er manchmal wirklich nervig ist?«
Beim Wörtchen ›er‹ funkelte sie in meine Richtung und Hilde, die einfältige, kicherte.
Die doofe Hildegard kam eindeutig zu kurz bei dieser unwichtigen Kommunikation und so fing ihr Mund einfach ohne ihr mentales Zutun an, in Richtung Kommissarin zu plätschern: »Das war ja äußerst brutal mit dem Hund, aber das Schlimmste fand ich ja, dass niemand zum Gedenkmarsch gekommen ist, außer Philipp. Ein Tier ist ja auch ein Lebewesen, auch wenn es tot ist und man darf ihm die Würde nicht absprechen. Tiere werden in unserer Gesellschaft zu wenig geachtet und unterschätzt. Man verspeist sie nur. Da sind wir halt zu zweit durchs Dorf gegangen und haben gesungen, dafür muss man sich ja nicht schämen. Und beim Pfarrer, da konnte ich nichts mehr machen, mit Reanimation und so, und wenn die anderen mehr nachdenken würden, dann würden sie auch kein Fleisch von Tieren essen.«
Gott sei Lob und Dank habe ich keine Kinder. Nicht auszudenken, wenn sie von der in der Grundschule unterrichtet würden.
Schnell, viel zu schnell trank ich aus Verzweiflung einen Schluck aus dem Glas und da war wieder das Gefühl, als hätte mir jemand ein Loch in die Schädeldecke gebohrt und mit einem Trichter flüssigen Stickstoff eingefüllt.
»Ich vergaß – Sie stoßen ja mit Frauen nur im Bett an!«
Mit einem Engelslächeln prostete mir die unverschämte Blondine zu. Cäci schaute mich fragend an, ich deutete auf meinen schmerzenden Kopf und ging auf die verbale Unverschämtheit nicht ein.
»Trink doch nicht so gierig«, fauchte Cäci, die mein Problem kannte. »Männer sind einfach nicht lernfähig!«
Die demente Hildegard lachte laut heraus: »Das sehe ich auch so. Geistig noch immer in der Steinzeit und immer aggressiv durch Fleischgenuss.«
»Lieber aggressiv durch Fleischgenuss als doof durch Vegetarismus.«
»Wie meinst du das? Hast du ein Problem mit Vegetariern?«
»Nein, ausschließlich mit Vegetarierinnen.«
Der Abend gefiel mir mit einem Mal immer weniger.
Nachdem ich mein Alibi für den Montagabend dem elektronischen Notizblock der feschen Kommissarin anvertraut hatte, begab diese sich in den immer noch vollen Biergarten und versuchte, so viel wie möglich Datenfutter in ihren digitalen Begleiter einzugeben. Mittlerweile ersetzte betrunkenes Gelächter das dramatische Gebell des aufgebrachten Bürgermeisters.
Über all dem schwebten die Geister zweier Ermordeter, sie schienen sich in zart mäandernden Nebelfetzen über dem dunkelnden Ried zu manifestieren. Das Dorf war im Ausnahmezustand: drei Tote in kurzer Zeit, zwei Menschen, die bei wenigen beliebt waren, und ein Tier, das brevis post mortem viel Ehre erfuhr und retrospektiv das treueste im Dorfe war.
Im Biergarten, dem neuen Kommunikationszentrum Riedhagens, wusste es mittlerweile jeder, da Bürgermeister Hallinger und Hauptkommissar Härmle zusammen Tennis spielten. Und nach dem fünften Bier konnten die drallen und rotwangigen, aber auch die bleichen und magersüchtigen Jung-Bäuerinnen aus Bürgermeister Hallinger die letzten Geheimnisse über die Toten herauskitzeln: Margot, die Haushälterin, berichtete er mit gedämpfter Stimme, sei ebenso wenig eines natürlichen Todes gestorben wie Pfarrer Sütterle. Auch die Haushälterin sei den Kreuzestod gestorben, der Mörder habe ihr ein Kruzifix aus Gusseisen durch das linke Auge und den hinteren Schädelknochen geschlagen. Jedoch – man dürfe es aber ja nicht weiter erzählen – sei der Fundort nicht der Tatort. Margot sei aller Wahrscheinlichkeit nach auf ihren eigenen Trolley gebunden vermutlich vom Dorf her in die Kapelle transportiert worden, so die Erkenntnisse der Spurensicherung. Der eigentliche Reiseinhalt des Fahrkoffers sei jedoch immer noch nicht gefunden. All das nicht zu erzählen, hatte Bürgermeister Hallinger seinem Freund Härmle bei einem Tennis-Bier versprochen.