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Als ich wieder hinunterkam, konnte ich mein Glück kaum fassen. Leo und Cornelius saßen am Küchentisch mit einem Glas Wein in der Hand, als sei es das Normalste der Welt.

Leo war wie wir alle älter geworden. Im Küchenlicht leuchteten die ersten grauen Strähnen in seinen Haaren. In den Schultern war er breiter geworden, doch er war immer noch schlank. Und er besaß noch immer dieses jungenhafte Lächeln, das dem von Max so ähnelte.

Cornelius zeigte auf den Wein. Ich schüttelte den Kopf, und er kochte mir einen Kakao.

»Wo bleibt Adam?«, fragte ich. »Er müsste doch langsam hier sein.«

Cornelius warf Leo einen Blick zu.

»Was?«, fragte ich.

»Das brauchst du nicht zu wissen«, sagte Leo.

»Jungskram, was?«, fragte ich und lachte glücklich. Das Glück hielt einen Lidschlag lang.

Cornelius wand sich auf seinem Stuhl.

»Nein«, sagte ich. »Das tut er nicht.« Ich sprang von meinem Stuhl auf.

»Doch«, sagte Leo. »Genau das tut er.«

Ich ging auf ihn zu. »Das kannst du nicht zulassen«, sagte ich, und er lachte.

»Setz dich wieder hin. Sie wollen ein Geständnis. Sie haben nicht genügend Beweise gegen Hinner. Sie nehmen ihn nur ein bisschen in die Mangel.«

Cornelius nickte. »Es ist nicht demokratisch und auch nicht legal. Aber ich glaube, es ist richtig.«

»Wo sind sie?«, fragte ich.

»Julie.«

»Wo sind sie, verdammt noch mal?«

»In den alten Wehrmachtsbunkern«, sagte Leo widerwillig.

»Ich muss da hin.«

»Nein«, sagte Leo und packte meine Hand. »Hinner wird ein vollständiges Geständnis ablegen, und dann bringen sie ihn aufs Revier.«

»Und Konrad? Was ist mit dem? Seine Frau ist hochschwanger. Es geht ihr nicht gut.«

»Oh«, sagte mein Bruder. »Seiner Frau geht es hervorragend. Sie hat heute Morgen ein Mädchen zur Welt gebracht.«

Ich lächelte nicht. Konrad hatte es mir nicht gesagt. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete.

»Weshalb hat Kortner Konrad verhaftet?«

»Das hat er nicht«, sagte Leo.

Ich verstand nichts mehr.

»Erzähl es ihr«, sagte Cornelius. »Erzähl ihr alles.«

Leo trank einen Schluck Wein.

»Es wird dich verletzen. Aber Eddie wusste immer, wo ich war.« Er sah mich an, und ich nickte. Natürlich.

»Sie schrieb mir eine Mail, nachdem Vera vor vier Monaten ermordet worden war. Sie schrieb, jemand müsste das Töten endlich beenden. Wir wussten, dass es Hinner war. Wir wussten, Koslowski war es nicht. Wir konnten es nur nicht beweisen, und so flog ich damals dann wieder nach Hause.«

»Woher wusstest du es?«, fragte ich. »Wieso wart ihr euch so sicher?«

»Weil an dem Tag, als Eddie Charles erschoss, noch jemand dabei war.«

»Claudia?«, fragte ich, und er nickte.

»Sie war durch die Gärten zurückgekommen. Ich hatte ihr gesagt, sie sollte verschwinden, Charles und ich müssten etwas erledigen, und es könnte gefährlich werden. Sie stand hinten im Hof am Garagenfenster und hat uns belauscht. Du weißt ja, dass es den ganzen Sommer aufstand, weil Adams Auto leckte und Benzin verlor und Eddie den Gestank nicht ertrug.«

»Ja«, sagte ich.

»Wir waren alle furchtbar durcheinander. Deshalb bekam keiner von uns mit, dass Claudia reinkam. Sie hatte gehört, dass Lauren schwanger von mir war und dass ich zu Paul gesagt hatte, ich wollte Lauren heiraten. Claudia schrie, das wäre das Allerletzte und sie würde es Hinner erzählen. Der würde ausrasten, wenn er hörte, dass Lauren kaum die Schule fertig hatte und schon schwanger war. Er würde sich schon darum kümmern, dass sie mich nie wiedersieht.«

»Ihr hättet sie aufhalten müssen«, sagte ich.

Leo nickte. »Das stimmt, aber wir hatten ein ganz anderes Problem. Eddie war inzwischen völlig durchgedreht. Sie schlug mit dem Wagenheber auf Charles’ Gesicht ein. Sie wollte es unkenntlich machen und die Leiche im Wald ablegen.«

»Nein«, sagte ich, und ein Zementbrocken saß da, wo mein Magen war. Cornelius griff über den Tisch nach meiner Hand. Ich ließ es zu, und er drückte sie, während mir zum Weinen war und ich dagegen anschluckte.

»Paul rief dann Kortner an. Kortner hat zuerst mit Paul im Haus unter vier Augen geredet. Paul kam nicht zurück in die Garage, und wir dachten alle nicht mehr an das Band. Charles lag tot am Boden, meine Mutter hatte ihn erschossen, und ich hatte genug damit zu tun, dass sie wieder halbwegs zur Besinnung kam. Kortner sprach dann auch mit uns. Er bot uns einen Deal an. Er würde Eddie gehen lassen. Paul wollte es so. Doch er brauchte einen Täter. Der war ich. Ich sollte verschwinden. Für immer. Er konnte nicht für meine und nicht für Eddies Sicherheit garantieren, wenn wir uns nicht darauf einließen.«

»Und du bist gegangen, obwohl du Lauren geliebt hast?«

Was musste Lauren gelitten haben, dachte ich. Endlich hatte sie jemanden getroffen, der sie liebte und sie aus dieser Hölle befreien wollte. Dann verschwand er von einem Tag auf den anderen, und sie war schwanger und durfte nicht einmal seine Kinder behalten.

»Wusste Kortner nicht, worum es ging?«

Leo zuckte mit den Achseln. »Doch, er wusste, dass Hinner Lauren missbraucht und vergewaltigt hatte. Aber Paul sagte, das sei eine Familienangelegenheit und er würde sich darum kümmern.«

»Und Claudia lief eifersüchtig zu Hinner und erzählte ihm die ganze Geschichte, und er brachte sie um.«

»Ja«, sagte Leo.

»Woher wusste Hinner, wie Koslowski seine Opfer zugerichtet hatte?«

»Das«, sagte Cornelius, »wollen sie gerade herausbekommen.«

Ich sah auf die Uhr. Es war vier Uhr morgens. Ich war todmüde. Aber ich wollte auf meinen Vater warten.