52

Vor der Krankenhausmauer baute Konrad eine Räuberleiter. Ich stützte mich auf seinen Schultern ab und stellte einen Fuß hinein. Er stemmte mich hoch, ich griff nach dem Mauersims und zog mich hinauf, während Konrad mich von unten schob.

Ich hing mehr als ich lag bäuchlings auf dem Sims und beobachtete, wie er ein paar Schritte zurücktrat. Er nahm einen kurzen Anlauf, stemmte einen Fuß auf halber Höhe der Mauer gegen sie und landete neben mir. Wir lagen einen Moment bäuchlings nebeneinander, und er schnappte nach Luft. Dann machte ich mich im matten Schein der Straßenlaterne von gegenüber schweigend an den Abstieg. Konrad folgte mir.

Unter mir in der Hecke bewegte sich etwas. Mein Fuß verhakte sich zwischen den Zweigen. Ich zerrte nervös.

»Er wird aus seinem Loch kommen, um dich zu retten«, flüsterte es unter mir, bevor ich begriff, was geschah.

Jemand packte mich an den Hüften. Ich zog den Fuß zwischen den Zweigen hervor und wurde auf der Erde abgesetzt.

Mich traf ein Schlag. Mein Kopf explodierte, und dann explodierte die Welt vor meinen Augen, während ich dem Boden entgegenfiel.

Ich bin bei Bewusstsein, war mein erster Gedanke, nachdem ich mich durch den Schmerz zurückgekämpft hatte. Sofort wollte ich aufstehen, stützte die Hände ab und schaffte es auf die Knie.

Eine Hand streckte sich mir entgegen. Ich griff nach ihr und rappelte mich auf. Hinner Heinecken stand vor mir. Seine Hand umklammerte meine wie ein Schraubstock. Ich drehte mich um. Konrad stand hinter mir.

Ich wusste nicht, was ich sagen oder denken sollte.

»Was …?«, fragte ich.

»Oh«, sagte Hinner. »Eine gute Frage.« Er zuckte lächelnd die Achseln, beugte sich ein wenig nach vorn, spannte die Schultern nach hinten und sah mich mit Augen an, die selbst in der Dunkelheit starrten, als blickte er in die äußersten Winkel meiner Seele.

»Wo ist Leo?«, fragte Hinner.

»Keine Ahnung.«

»Also, noch einmal. Wo ist Leo?« Er knackte ungeduldig mit den Fingern.

»Ich weiß es nicht.«

»Hör auf, uns zu verarschen.«

Ich starrte ihn an. Hinner lächelte. Ich dachte an Flucht. Ich drehte mich um. Konrad zuckte mit den Achseln. Flucht war keine Option.

»Meine Güte noch mal«, sagte ich. »Was wollt ihr?«

»Deinen Bruder«, sagten beide wie aus einem Mund.

Ich putzte mir die Nase, während ich angestrengt nachdachte.

Auch das war eine Option: Hinner steckte seinem Kumpel Konrad die Ausschreibungsdetails zu, und Konrad besserte das Angebot nach. Konrad musste nirgendwo einsteigen. Was hatte Max gesagt? Die Blutsbrüder waren die Feinde. Konrad und Hinner waren Blutsbrüder. Immer noch. Bis in den Tod. Leo war der Verräter, der einen ihrer Blutsbrüder getötet hatte.

»Wir haben deinen Sohn«, sagte Hinner und wies auf einen dunklen Van, der etwas weiter weg stand.

»Wie bitte?«

»Wir werden ihm scheußliche Dinge antun.«

Ich sprang auf ihn zu und kratzte und biss alles, was ich erreichen konnte. Konrad umklammerte mich von hinten, legte die Hand auf meinen Mund und hob mich einfach in die Höhe. Meine Tritte gingen ins Leere, doch ich biss mit der ganzen Kraft meines Kiefers zu. Konrad stöhnte, hielt mich aber fest, während ich weiter wild um mich trat, obwohl ich keine Chance hatte. Ich hatte nämlich etwas bemerkt, was den beiden entgangen war.

Auf der anderen Straßenseite waren zwei Männer hinter einem Auto hervorgekommen. Der eine hielt ein Gewehr und stützte die andere Hand ins Kreuz. Es war mein Vater. Die beiden liefen über die Straße, während ich Konrad und Hinner weiter in diesen für mich aussichtslosen Kampf verwickelte.

Ganz plötzlich ließen Hinners Hände von mir ab, und er hob sie hoch über seinen Kopf. Auch Konrad hob die Hände.

»Das nennt man Pattsituation.« Mein Vater hielt Hinner mit einem von Eddies Gewehren in Schach.

»Nein«, sagte Felix Kortner. »Das nennt man Gewinnersituation. Also die Herren. Da drüben steht mein Dienstwagen. Neuestes Modell mit Sitzheizung, Klimaanlage, Allradantrieb. Ich hasse den Wagen. Aber nun ja. Ich werde Ihnen jetzt Handschellen anlegen, und dann werden Sie schön brav in den Wagen einsteigen.«

»Der Schlüssel«, sagte ich. »Ich will den Autoschlüssel und meinen Sohn.«

Hinner lachte. »Max ist nicht im Van, auch wenn wir’s gerade behauptet haben. Oder hältst du uns für so dämlich?«

»Nein«, sagte da eine Stimme hinter uns, und ich drehte mich ruckartig um.

Es war Leo. Mein Bruder und mein großer Held.

In der Hand hielt er ein Gewehr, wohl auch aus dem Gewehrschrank meiner Mutter.

»Du wolltest mich?«, fragte er Hinner. »Da bin ich.«

Ich wollte auf ihn zustürzen, ihn umarmen, an mich drücken und festhalten.

»Siggi Meier liegt bei uns im Haus unten im Keller, Hinner. Mit einem Kabel an die Heizung gefesselt. Meinem Neffen Max geht es hervorragend. Er schläft mit seinem Freund in meinem alten Bett.«

Er drehte den Kopf zu mir und lächelte mich an.

Das Adrenalin stürzte durch meinen Körper wie eine Lawine von einem Achttausender. Der Himmel begann zu kreisen, die Hecke tanzte Cancan. Mein Bewusstsein tanzte rein und tanzte raus aus meinem Körper. Die Männer verschwammen vor meinen Augen zu Klumpen.

Eine Hand griff nach meinem Unterarm.

Ich drehte mich weg und erbrach mich in die Büsche.