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Kurz vor Mittag verließ ich das Altersheim. Ich kurvte durch das Gewirr der Einbahnstraßen im Zentrum der Stadt und holperte schließlich auf einen McDonald-Parkplatz. Gregor Patzig holperte in seinem BMW hinterher und parkte ein paar Reihen vor mir.

Ich holte mir einen Coffee to go extra large, saß im Auto und starrte auf Peter Bartels Diktiergerät, das ich in Robertas Keller gefunden hatte und das nun auf dem Beifahrersitz lag.

Es war ein schwarzes Diktiergerät mit stabilem Gehäuse, wie es früher Reporter benutzt hatten. Ein Band befand sich darin, datiert vom 20. April 1989. Neugierig hatte ich in dem Keller die Play-Taste gedrückt und mir vorgestellt, vielleicht eine damals angesagte Band zu hören oder ein Interview mit einem längst vergessenen Politiker.

Auf dem Band jedoch flehte eine verzweifelte, weinende Stimme ihren Peiniger an aufzuhören, und ich glaubte im ersten Moment, ich lauschte einem Hörspiel.

Als ich begriff, dass ich einer Vergewaltigung zuhörte, war mein erster Reflex Flucht. Ich sprang instinktiv auf, besann mich dann aber und lehnte mich an die raue Kellerwand, als könnte sie mir Halt geben gegen das, was mir entgegenschlug wie ein riesiger Feldstein, den mir jemand gegen den Kopf donnerte.

Fast eine Viertelstunde lauschte ich dem inständigen Flehen des Mädchens, seinem tränenerstickten Bitten, seinem Versprechen, niemandem etwas zu sagen, wenn er sie nur endlich in Ruhe ließe. Dazwischen hörte ich das Lachen des Mannes, sein Stöhnen und Keuchen. Er solle damit aufhören, bat sie: »Bitte, Daddy, ich kann nicht mehr.«

An dieser Stelle brach die Aufzeichnung ab, und ich stand immer noch wie angewurzelt da.

Ich kannte die Stimme. Ich kannte eine ähnliche Verzweiflung darin, als das Mädchen mir am Abend des Abschlussballs erzählt hatte, sie sei schwanger und dürfe das Kind nicht behalten.

Es war Lauren auf dem Band, und ich war Zeugin ihrer Vergewaltigung.

Lauren und Hinner hatten ihren Stiefvater Paul Heinecken Papa genannt. Hier nannte Lauren jemanden »Daddy«. Der Mann sprach nicht, sondern lachte – die Stimme klang anders als Paul Heineckens. Aber die Aufzeichnung war alt, und auch Stimmen veränderten sich im Laufe der Zeit.

Einen Moment überlegte ich, ob Koslowski Lauren vergewaltigt hatte. Doch das passte nicht, denn von seinen Missbrauchsopfern hatte keines überlebt.

Aber Paul Heinecken? Unser Nachbar, dem wir fast täglich begegnet waren? Auf seine Frau Christa hatte er herabgesehen und sie wie eine Putzfrau behandelt. Seine Kinder hatte er mit cholerischen Anfällen gepeinigt, und wir Nachbarskinder waren ihm ängstlich aus dem Weg gegangen. Bedeutete das aber, dass er Lauren vergewaltigt hatte?

Als ich älter wurde, hatte Paul manchmal bei uns am Küchentisch gesessen und mit meiner Mutter Kaffee getrunken, nachdem er irgendetwas repariert hatte. Die tropfende Dachrinne, den lecken Warmwasserboiler, die Heckenschere. Reparieren konnte er wie kein Zweiter, sagte meine Mutter. Das war seine andere, seine hilfsbereite Seite, und die eine schloss die andere nicht aus. Trotzdem sträubte sich alles in mir gegen die Vorstellung, dass er Lauren so etwas angetan hatte.

Und Leo? Nicht eine Sekunde glaubte ich, dass ich meinen Bruder gehört hatte. Leos Lachen war heller, unbeschwerter und mit einem eingesprenkelten, heiseren Grundton, der von einer Fehlstellung seines Stimmdreiecks herrührte.

Nur wer hatte Lauren das angetan? Wer hatte das Band aufgezeichnet? Von wem hatte Peter Bartels es bekommen, und wessen Stimme lachte über Laurens Pein?

Es waren zu viele Fragen. Sie krochen auf mich zu wie dunkle Geister, die ihre Widerhaken auswarfen und mich an die Leine nahmen. Es waren Fragen ohne Antworten.

Ich warf einen Blick aus dem Wagenfenster nach Gregor Patzig. Er saß zurückgelehnt in seinem Autositz, rhythmisch und entspannt mit dem Kopf wippend.

Ich griff nach dem Handy, rief im Krankenhaus an und verlangte Bea Rudolf. Ich fragte sie, ob ich Charles’ und Claudia Langhoffs Obduktionsberichte lesen könnte. Sie sagte Nein, dazu bräuchte ich eine offizielle Genehmigung. Leider, sagte sie.

Paula Wenners Telefonnummer hatte ich am Morgen nach dem Gespräch mit Heiner Mundt gespeichert. Ich suchte sie heraus, ließ das Handy die Verbindung herstellen, lauschte dem Freizeichen, wartete und sah über den Parkplatz. Einen Augenblick lang war ich im Begriff, wieder aufzulegen, um nicht auch noch ihre Wunden aufzureißen. Doch dann ließ ich es weiterläuten.

Sie hob ab und nannte ihren Namen, ich nannte meinen.

Ich erzählte, für welche Zeitung ich arbeitete und dass ich Fragen zu Peter Bartels Tod hätte. Ihr totes Kind erwähnte ich nicht. Das brauchte ich auch nicht. Paula Wenner stöhnte auf.

»Kann ich Sie besuchen?«, fragte ich.

Ihr Atem ging hastig. »Nein«, sagte sie und legte auf.

Ich drückte die Wahlwiederholung.

»Bitte«, sagte ich, als sie erneut abnahm. »Es ist sehr wichtig für mich.«

»Sie sind Leos Schwester?« Ihre Stimme klang jetzt ruhiger, und ihr Atem ging gleichmäßiger.

»Ja.«

»Ich las die Todesanzeige von Ihrer Mutter«, sagte sie. »Es tut mir leid.«

Ich konnte es nicht mehr hören. Allen tat es leid, aber niemand war zu ihrer Beerdigung gekommen. Als sei sie eine Aussätzige gewesen. Als wären wir, mein Vater und ich, Aussätzige.

Ich sagte dennoch höflich »Danke«.

»Es ändert nichts daran, dass ich Ihnen nichts zu sagen habe.«

»Bitte«, wiederholte ich. »Roberta Bartels hat mir den Schuhkarton mit Peters Bürosachen überlassen.«

Sie lachte abwehrend auf. »So? Den Schuhkarton?«

»Ja«, sagte ich.

Sie zögerte. »Sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen.«

»Erklären Sie es mir. Bitte.«

Sie schwieg.

Ich lauschte dem Rauschen im Handy. Manche Menschen verlangten sehr viel Geduld und Einfühlung, bis sie bereit waren zu reden.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte ich.

Keine Reaktion.

Ich wartete. Ich kannte das aus Interviews.

»Frau Wenner?«

»Gut«, sagte sie dann. »Aber nicht hier in der Stadt. Kennen Sie den Bismarckturm?«

Ich kannte ihn und wandte ein, dass die Zufahrt eine Katastrophe sein würde, doch sie ignorierte meine Bedenken.

»Können Sie morgen gegen 13 Uhr dort sein?«

»Ich …«

»… Können Sie?«, unterbrach sie mich.

»Ja.«

»Also bis dann«, sagte sie und legte auf.

Ich trank den letzten Schluck Kaffee, zerknüllte den Becher, öffnete die Wagentür und zielte auf den Mülleimer, der mit herabhängendem Deckel knapp drei Meter entfernt stand. Ich warf daneben, stieg stirnrunzelnd aus und ging hinüber, um den Becher aufzuheben. Ich klappte den Deckel zu und besorgte mir noch einen Kaffee. Es war nicht einmal Mittag, doch ich war schon so erschöpft wie nach einem 16-Stunden-Tag.

Als ich zum Auto zurückkam, steckte ein Zettel an der Windschutzscheibe.

»Hören Sie auf, Dreck aufzurühren. Es könnte jemand Schaden nehmen.«

Die Sätze sprangen mich an, nahmen mir den Atem, würgten mich. Ich lenkte mich ab und konzentrierte mich auf die Details. Times New Roman, die gebräuchlichste PC-Schrift. Normales 80-Gramm-Druckerpapier. Kein Absender.

Ich sah mich um. Der Parkplatz war nicht sonderlich belebt, ich zählte ein halbes Dutzend Autos. Drei Plätze weiter weg aßen in einem Van ein älteres Ehepaar und zwei Jungen im Vorschulalter Burger. Aus dem McDonalds kam ein schlanker Mann mit einer Tüte in der Hand, ging direkt zu einem grauen Ford Fiesta, musterte mich, als er seinen Wagen öffnete, stieg ein und fuhr davon.

Ich ging mit dem Zettel in der Hand zu dem Van und klopfte an die Scheibe.

Der Fahrer ließ sie herunter und steckte seinen Kopf heraus. »Was ist?«, fragte er unwirsch.

Ich fragte, ob sie zufällig jemanden an meinem Auto bemerkt hätten.

»Klar!«, krähte der kleinere Junge von hinten.

»Ein Mann war da!«, kreischte der größere.

Ihr Großvater lächelte und nickte. »Er hat hinter alle Scheibenwischer Visitenkarten gesteckt. Haben Sie das nicht mitbekommen?«

Ich schüttelte den Kopf und fragte, ob ihn jemand beschreiben könnte.

»Groß«, sagte der kleinere Junge und zappelte aufgeregt auf dem Sitz herum, so dass ich um den Burger und die Bezüge fürchtete.

»Mit einem Anorak«, ergänzte der Großvater. »Ich glaube, der war blau.«

»Nein, ich glaub, der war braun«, widersprach der größere Junge.

»War er nicht doch blau?«, fragte die Großmutter. »Ich glaub, Vatti hat Recht.«

Vatti? Da hatte ich mich aber gehörig verschätzt. Sie diskutierten weiter. Jeder hatte etwas anderes gesehen. Einig waren sie sich darin, dass es ein junger, schlanker, mittelgroßer Mann gewesen war und dass sie nichts über die Haarfarbe wussten, weil er ein Kapuzenshirt tief in die Stirn gezogen hatte.

»Kein Wunder bei dem Wetter«, sagte der Vater, und alle nickten.

»Da ist er doch!«, krähte der kleinere Junge aufgeregt und fuchtelte mit dem Arm vor der Nase seines älteren Bruders herum, während sich sein Körper vor Begeisterung über die eigene Wichtigkeit in die Höhe schraubte und Mayonnaise auf den Sitz tropfte.

»Wo?«, riefen alle durcheinander, und die Köpfe fuhren in die Richtung, in die der Arm zeigte. Der Mann trug einen blauen Hoody, darüber eine braune Daunenweste, schwarze Bikerboots, Röhrenjeans, Silberkette an der Jeanstasche. Er beugte sich zu einem Mountainbike, das an der Wand neben der Herrentoilette lehnte, und entfernte ein schwarzes Bügelschloss.

Ich stürmte auf ihn zu. Mit dem Rad bei den Straßenverhältnissen? Ich hatte eine Chance, ihn zu erreichen, bevor er losfuhr, und rannte noch eine Spur schneller.

Er sah mich kommen, warf sich das Schloss um den Hals, sprang aufs Rad und trat in die Pedale. Ich fluchte in mich hinein. Ich war 42, er wahrscheinlich halb so alt. Ich war zu Fuß, er saß auf einem Rad mit Geländereifen und raste über den freigeräumten Parkplatz zum Ausgang. An der Straße bremste er, schwenkte den Lenker scharf rechts ein, und ich sah ihn schon stürzen.

Doch er riss den Lenker in die Höhe, drehte sich zu mir um, reckte den Arm empor und zeigte mir den Mittelfinger, während ihn ein Lachen schüttelte. Das Vorderrad knallte zurück auf den Asphalt, er trat in die Pedale und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich lief bis zur Straße, als würde mich ein unsichtbares Band hinter ihm herziehen, und blieb dann keuchend stehen, die Hände in die Seiten gestützt.

»Was war das denn?«, fragte Gregor Patzig auf einmal neben mir, ebenfalls etwas außer Atem.

»Haben Sie geschlafen oder was?«, fuhr ich ihn an.

»Der hat doch nur Visitenkarten verteilt.«

»Er hat mir einen Zettel mit einer Drohung hinter den Scheibenwischer geklemmt«, sagte ich und hielt ihm den Zettel unter die Nase, »und am besten ist, Sie bringen ihn sofort aufs Revier.«

»Ich hab meine Anweisung. Und die lautet, ich soll Ihnen folgen, egal was passiert.«

Er zog ein Paar Einmalhandschuhe aus einer Ärmeltasche, eine Tüte aus einer anderen und steckte den Zettel hinein. Ich traute meinen Augen nicht. Gregor Patzig war auf alles vorbereitet.

»Jemand will Ihnen Angst machen«, sagte er dann. »Ich rufe die Kollegen an. Jemand holt den Zettel ab, und ich passe weiter auf Sie auf.«

Er wandte sich um und ging zu seinem Auto zurück.