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Während ich zu meinem Vater zurückfuhr, versuchte ich aufs Neue, Klarheit in meine Gedanken zu bringen.

Nach dem, was ich wusste, tauchte Leo das erste Mal am Tag von Eddies Beerdigung bei meinem Vater auf. Möglicherweise war er schon länger in der Stadt. Jemand hatte also seinen Aufenthaltsort gekannt und ihn über Eddies dritten Schlaganfall informiert. Mein Vater leugnete, es gewesen zu sein, Konrad ebenso. Wer aber war es dann?

Und wer war Carsten Unruh? Zweifellos war er ein Vernehmungsprofi und – wenn er wollte – ein Muster an Undurchschaubarkeit und Selbstbeherrschung. Darin glich er einem Pokerspieler, und das machte ihn gefährlich. Nicht zuletzt auch deshalb hatte ich ihn nicht über Peter Bartels und das Tonband informiert. Ebenso wenig wie über das, was Kortner mir auf dem Friedhof erzählt hatte. Denn auch Kortner war gefährlich, und wie mir schien, versuchte hier gerade einer den anderen auszutricksen. Carsten Unruh hatte ohne Kortners Wissen mit mir gesprochen. Er glaubte bislang nicht, dass Leo etwas mit den Morden an den Schnitter-Zwillingen und Margo zu tun hatte. Doch was würde es für seine Ermittlungen bedeuten, wenn er eines Tages herausfände, dass Claudia Langhoff keines von Koslowskis Opfern war? Und was bezweckte Kortner damit, mir zu sagen, dass meine Mutter Charles umgebracht hatte? Was bezweckte Koslowski mit seiner Beichte, dass er Claudia nicht ermordet hatte?

Je länger ich nachdachte, desto klarer wurde mir, um was es jedem der drei Männer ging: Jeder wollte, dass Leo aus seinem Versteck kam, und ich war nur ihr Köder. Sie gingen davon aus, dass ich wusste, wo Leo war, und dass ich es die ganze Zeit über gewusst hatte.

Es war ein unangenehmer Gedanke. Denn falls Kortner oder Unruh meinem Bruder nur einen Mord nachweisen konnten, dann würde auch ich schwer belastet wegen Vertuschung einer Straftat und vielleicht sogar wegen Beihilfe zum Mord sein.

Kortner wusste, dass Koslowski nicht Claudias Mörder war. Ihm war bekannt, dass ihr Mörder Koslowskis Vorgehensweise nur kopiert hatte. Die war aber außer dem Täter nur den damals ermittelnden Beamten bekannt, weil es nie veröffentlicht wurde. Kortner suchte folglich nach einem Nachahmungstäter, denn Vera Schnitter und Claudia Langhoff waren auf dieselbe Weise getötet und zugerichtet worden wie Koslowskis Opfer.

Kortner suchte Leo, weil er davon ausging, dass er der Nachahmungstäter war. Aus welchen Gründen Kortner damals auch meine Mutter gedeckt und Leo den Mord untergeschoben hatte, Claudia hatte da noch gelebt. Es musste für ihn ein Schlag gewesen sein, als man Claudias Leiche fand und alles auf Leo hinwies, dem er, so wurde mir jetzt klar, mit zur Flucht verholfen hatte.

Für den Mord an Charles sollte niemand ins Gefängnis gehen, so hatten es Kortner und meine Mutter wohl geplant. Und es musste Kortner so scheinen, als hätte Leo das als Freibrief verstanden und Claudia in dem Wissen umgebracht, dass er das Land ohnehin verlassen würde. Doch wenn das stimmte, dann kannte Leo Koslowskis Vorgehen und dann gab es zwischen den beiden irgendeine vielleicht sogar persönliche Verbindung – und diese Vorstellung war ein Alptraum.

Koslowski hatte die Situation richtig eingeschätzt: Leo würde seine Verhaftung durch Kortner nicht überleben, weil er der Beweis dafür war, dass Kortner einen Mordfall manipuliert hatte.

Koslowski aber, in seiner Eitelkeit und Arroganz, hatte nicht ertragen, dass derjenige, der seine Methode nachahmte, nie geschnappt worden war. Koslowski hatte sich umgebracht, aber er hatte mir seine Informationen zugespielt, damit ich dafür sorgte, dass der Nachahmungstäter geschnappt wurde. Und auch Koslowski hielt meinen Bruder für den Täter.

Kortner war hinter Leo her, und Carsten Unruh wollte Kortner wegen Amtsmissbrauchs überführen und den Fall ohne ihn lösen.

Plötzlich begriff ich, warum Cornelius und ich in Koslowskis Aktenordner bis auf Peter Bartels nichts gefunden hatten.

Seine Unterlagen waren Kopien von Kortners Ermittlungsakte – und die war manipuliert. Ich musste also zunächst irgendwie an Kortners tatsächliche Ermittlungsergebnisse kommen – wenn er die nicht längst vernichtet hatte.

Mir dröhnte der Kopf.