34

Draußen war es dunkel.

Sie hatten mich in ein Einzelzimmer gelegt und das Licht gedimmt.

Ich hätte Glück gehabt, hatte der Gynäkologe gesagt. Ich hätte einen Abortus imminens, eine drohende Fehlgeburt gehabt. Die Blutung wäre auf ein Hämatom an der Plazenta zurückzuführen, das mitunter in der Schwangerschaft auftreten und in der Regel von allein ausheilen würde. Sonst wäre alles in Ordnung. Und ich sollte mich freuen. Auf dem Ultraschallbild könnte man ein Mädchen erkennen.

Ein Mädchen? Max wird außer sich vor Freude sein.

Es könnte durchaus zu späteren Blutungen und Unterleibsschmerzen kommen, hatte er außerdem gesagt, und dass das Kind und ich noch nicht über den Berg wären. Ich sollte die nächste Woche im Bett bleiben, mich verwöhnen lassen und mein Leben etwas relaxter angehen.

Relaxter?

Ich hatte ihm nur noch mit halbem Ohr zugehört, denn ein Teil von mir wollte aus dem Bett springen, nach Hause laufen und Max in die Arme nehmen, um seine Wärme, seinen Geruch, seine Haut zu spüren. Und um ihm zu sagen, dass er eine Schwester bekommen würde.

Doch ich war zu erschöpft und müde. Ich brauchte eine Auszeit, nur ein wenig ausruhen, loslassen, wegtauchen. Neben dem Bett auf dem Nachttisch stand ein kleines Radio. Ich stellte es an und kurbelte an dem schwarzen Rädchen, bis ich einen Sender fand. Cher sang »Walking in Memphis«. Das Original von Marc Cohn gefiel mir besser, aber Cher war auch in Ordnung.

Meine Gedanken wanderten zu Max. Er wünschte sich so sehr eine richtige Familie mit einem Vater und Geschwistern. Er sprach nie darüber. Doch es gab Momente, in denen er versunken Väter beobachtete, die ihre Kinder von der Schule abholten, beim Herumturnen auf dem Klettergerüst auf sie aufpassten, am Ostseestrand Softball mit ihnen spielten oder mit ihnen bei Planten un Bloomen Schlittschuh liefen. In diesen Momenten, in denen er ganz in sich versunken war, sah ich ihm bis auf den Grund der Seele, wo er seine Sehnsucht nach Geschwistern, nach einem Vater, nach einer richtigen Familie vor mir versteckt hielt.

Als er noch in den Kindergarten ging, fragte er manchmal, wer sein Papa sei, wo er denn wohne, warum er nicht bei uns sei. Ob er mich und ihn nicht genug liebe, ob wir ihm etwas getan hätten. Es waren Fragen, die mein Herz zerrissen, denn sie offenbarten eine Trauer, die ich nicht trösten, nicht wegpusten, nicht wegküssen und nicht weglieben konnte.

Nur deshalb hatte ich ihn belogen und ihm erzählt, sein Vater sei als Bundeswehrangehöriger seit 1999 im Kosovo-Einsatz gewesen und dort vor seiner Geburt gestorben.

Eines Tages, so hatte ich mir vorgenommen, würde ich ihm die Wahrheit sagen. Eines Tages, wenn er meine Beweggründe verstehen würde. Ich hatte mich vor diesem Tag gefürchtet, wann immer ich daran dachte. Doch dieser Tag war nun, nachdem ich mit Konrad gesprochen hatte, in eine viel zu nahe Zukunft gerückt.

Vielleicht hatte meine Mutter anfangs auch erwogen, mir und Adam eines Tages die Wahrheit zu erzählen. Vielleicht hatte sie diesen Tag wieder und wieder hinausgeschoben. Wahrscheinlich hatte sie sich davor gefürchtet, wie ich mich fürchtete, und eines Tages war es zu spät gewesen, das Lügengebäude einzureißen. Nun war sie mit einer Lüge gestorben.

Das aber sollte niemand.

Cornelius hatte mich gewarnt, dass ich bei meiner Suche nach der Wahrheit Dinge herausfinden könnte, die mir nicht gefielen. Aber bei der Wahrheit ging es nicht darum, ob sie einem gefiel oder nicht. Wenn Leo schuldig war, gehörte er ins Gefängnis. Wenn er unschuldig war, dann war er es wert, dass ich ihm half.

Ich dachte darüber nach, was ich inzwischen erfahren hatte:

Leo hatte sich von Claudia getrennt. Am folgenden Tag sprach sie mit ihm und verschwand danach spurlos. Zwei Tage später tauchte sie als Leiche wieder auf. Koslowski gestand den Mord. Er hatte einen Deal mit Kortner und erhielt im Gegenzug bessere Haftbedingungen. Claudias Mörder aber war bis heute unbekannt.

Nach Kortners offizieller Version erschoss Leo angeblich am Tag von Claudias Verschwinden Charles in unserer Garage. Nach Kortners inoffizieller Version erschoss ihn Eddie. Nach Eddies Aussagen hatten Leo und Charles am frühen Nachmittag in der Garage einen Streit. Für den Streit gab es keinen anderen Zeugen als meine Mutter. Er konnte stattgefunden haben – oder auch nicht.

Was wusste ich noch?

Nach Charles’ Tod hatte jemand hasserfüllt auf ihn eingeschlagen. Wer hatte ihn so sehr gehasst und warum?

Leo verschwand und tauchte nie wieder auf. Noch ein Warum. Weil er Claudia getötet hatte? Weil Leo die Schuld meiner Mutter auf sich genommen hatte?

Die ganzen Jahre hatte ich mich gefragt, worüber sich Charles und Leo gestritten hatten. Nun fragte ich mich, ob sie sich überhaupt gestritten hatten oder ob auch das eine von Eddies Lügen war.

An jenem Tag – so lautete ihre Version – sei sie früher aus der Bibliothek heimgekommen, weil sie seit dem frühen Morgen heftige Kopfschmerzen quälten. Sie habe im Haus niemanden angetroffen, im Wohnzimmer die Jalousien heruntergelassen und sich aufs Sofa gelegt, statt wie sonst nach oben ins Schlafzimmer zu gehen. Sie sei sofort eingeschlafen und erst gegen halb zwei wieder aufgewacht, weil sie Stimmen hörte. Im ersten Moment wusste sie nicht, woher die Stimmen kamen, doch dann ging sie durchs Atelier in die Garage. Als sie die Tür öffnete, stand Leo mit einem ihrer Gewehre vor Charles. Leo fuhr zu ihr herum und brüllte sie an, sie solle abhauen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und ging auf ihn zu, während sie auf ihn einredete, er sollte ihr das Gewehr geben. Sie streckte gerade ihre Hand aus, um es ihm abzunehmen, als Charles sich umdrehte und auf das Garagentor zustürzte. Leo riss das Gewehr herum und kam aus Versehen an den Abzug. Eine Kugel löste sich und traf Charles, der zu Boden stürzte und sich nicht mehr rührte. Eddie riss ihrem Sohn das Gewehr aus der Hand, während er schrie, sie sei schuld, dass er geschossen habe. Ohne sie wäre das alles nicht passiert. Leo versuchte dann, Charles’ Blutung zu stoppen, und sie lief ins Haus und rief den Notarzt und die Polizei an. Als sie zurückkam, war Charles tot und Leo verschwunden. Wider besseres Wissen habe sie versucht, Charles wiederzubeleben, bis der Krankenwagen endlich gekommen sei.

Schon in dieser Version meiner Mutter gab es Lücken. Eine war, dass Leo Charles im Affekt getötet hätte, das Gewehr meiner Mutter jedoch vorher geistesgegenwärtig aus dem Gewehrschrank im Keller geholt hatte. Eine andere war, dass jemand die Fingerabdrücke auf dem Gewehr weggewischt hatte. Das aber ergab keinen Sinn, wenn Leo Charles vor Eddies Augen getötet hatte. Außerdem behauptete meine Mutter, sie wüsste nicht, worüber Leo und Charles sich gestritten hätten, obwohl sie die streitenden Stimmen schon im Wohnzimmer gehört hatte. Ich schrieb diese Lücken immer dem Stress zu und dem Schock, in dem sich meine Mutter befunden hatte, als ihr Sohn seinen Freund vor ihren Augen niederschoss. Sprach man sie darauf an, behauptete sie, an mehr könnte sie sich nicht erinnern.

Jetzt aber klaffte in der Version meiner Mutter ein riesiges Loch, denn wie hatte sie versucht, Charles wiederzubeleben, wenn sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert war?

An Charles’ Fall gab es jedoch noch andere Merkwürdigkeiten: Kortner wusste, dass Eddie geschossen hatte, trotzdem schützte er sie und lastete meinem Bruder den Mord an. Aber warum nahm Leo die Schuld auf sich? Und wer hatte Charles postletal so grauenhaft zugerichtet?

Ich bezweifelte, dass Kortner und meine Mutter irgendjemanden in ihre Absprache, Leo hätte geschossen, eingeweiht hatten. Ich bezweifelte auch, dass mein Vater es wusste. All die Jahre glaubte ich, meine Eltern würden eine gute Ehe führen. Doch inzwischen schien es mir durchaus möglich, dass Eddie ein Verhältnis mit Kortner gehabt hatte und er sie deshalb schützte.

Die Version meiner Mutter war herzergreifend. Vor allem wenn sie erzählte, wie Leo sie angebrüllt habe, sie sei schuld, dass er geschossen habe. Niemand mochte ihr sagen, wie Recht er hatte. Sie war für uns die tragische Gestalt, die mit der schrecklichen Wahrheit weiterlebte, dass vielleicht, vielleicht, ohne ihr Eingreifen ihr Sohn seinen besten Freund niemals getötet hätte.

Die Sache hatte nur einen Haken: Die ganze Geschichte war gelogen.

Zweifellos litt meine Mutter, weil sie Charles erschossen hatte und Leo nicht mehr bei ihr war. Aber zweifellos war sie mit den Jahren auch zu einer egozentrischen Frau geworden, die sich aus Schmerz in den Schmerz geflüchtet hatte.

Ich weiß nicht, wie lange ich reglos im Bett lag. Im Radio hatte ich einen dieser Oldiesender erwischt, und inzwischen spielten sie die BeeGees. »You Win Again«, sangen sie mit ihren Falsettstimmen. Sie waren mal die Lieblingsband meiner Mutter gewesen, und sie hatte ihre Songs lauthals mitgesungen. Damals, als sie noch die alte Eddie gewesen war und die drei Brüder Ende der Achtziger gerade ein furioses Comeback erlebten.