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Das Erste, was Jan hörte, waren die Stimmen. Laute streitende Stimmen. Sie trugen ihn aus dem Halbschlaf in die Dämmerung des Zimmers zurück.

Er blinzelte.

Die Frau hatte ein blaues Tuch über die Nachttischlampe gehängt. Vielleicht war sie doch nicht so schlecht, wie der Großvater früher erzählt hatte.

Er richtete sich im Bett ein wenig auf und lauschte angestrengt.

Er war froh, als er feststellte, dass der Schmerz in seinem Kopf nicht mehr ganz so spitz war.

Plötzlich gefror etwas in ihm. Er kannte die Stimme. Er kannte sie schon sein Leben lang.

Vorsichtig kletterte er aus dem Bett und schlich zur Tür. Der Schmerz zuckte in seinem Fuß, und er biss die Zähne zusammen. Er legte ein Ohr an das Holz und lauschte. Mit angehaltenem Atem drückte er die Klinke herunter und zog die Tür leise auf.

»Du hättest sofort anrufen müssen! Weißt du überhaupt, welche Sorgen sich Lauren gemacht hat? Jan ist mal wieder aus der Schule abgehauen, weil er eine Sechs geschrieben hat.«

Es war sein Onkel Hinner, und er brüllte.

Henny brüllte zurück, er solle endlich zuhören, der Junge wäre völlig verängstigt gewesen, und sie hätte einfach nicht gewusst, was sie tun sollte.

Gehässig lachte der Onkel auf.

Die Frau schrie, alle hätten es immer nur auf sie abgesehen. Jeder in der Stadt. Doch was könnte sie dafür, wenn die Alten den Kindern diese Lügen auftischten und die den Unfug glaubten? Sie würde Kinder erschießen! Der Junge hätte so viel Angst gehabt, dass er davonrennen wollte und gestürzt sei. Jetzt läge er oben mit einer Platzwunde am Kopf.

Es polterte. Er kannte auch dieses Geräusch. So klang Holz, wenn es auf Fliesen krachte. So klang ein umgeworfener Stuhl.

Es war nicht gut, dass der Onkel da war. Der Junge schob seinen Kopf wie ein Raubvogel durch den Türspalt und lauschte.

Er musste hier weg. Doch wohin?

Er konnte nicht über den Flur und dann die Treppe hinunterschleichen. Bestimmt würde sie knarren und ihn verraten. Oder sein Onkel käme genau in dem Moment aus der Küche. Und wo sollte er von da aus hin? Er könnte nur durch die Haustür entkommen. Doch wenn er sie öffnete, würde ihn spätestens dieses Geräusch verraten.

Bis sein Onkel wieder weg war, brauchte er ein sicheres Versteck, auf das Hinner nicht kommen würde. Er durfte dabei keinen Lärm machen und sich nicht mehr bewegen als nötig. Er schloss die Tür. Hastig glitt sein Blick durch das Zimmer. Wenn der Onkel nach ihm suchte, würde er zuerst unter dem Bett nachsehen. Seine Augen blieben am Kleiderschrank hängen. Das war schon besser. Er könnte sich hinter den Sachen im Schrank verstecken.

Einen Moment lang war es unten leise. Jan lauschte.

Dann hörte er wieder Henny Langhoff. Er verstand nicht, was sie sagte.

Unbeholfen schlich er hinüber zum Stuhl, sammelte die Sachen von der Lehne und trug sie zum Schrank. Er öffnete leise die Tür, stopfte die Kleidung hinein und schloss sie wieder.

Unter ihm krachte es erneut. Er blieb stocksteif stehen, die Hand wie festgefroren an der Schranktür.

Vielleicht hatte Henny …

Er hörte unten im Flur schwere Schritte. Es waren nicht Hennys. Die waren leichter und schneller. Er hielt den Atem an. Eine Tür knallte. Der Knall kam von weiter hinten im Haus. Feucht sammelte sich der Schweiß auf seiner Stirn. Er humpelte zum Stuhl, packte seinen Rucksack am Riemen, drehte sich um, starrte den Schrank an und überlegte. Das ging alles nicht. Vielleicht konnte er sich im Schrank verstecken, aber wohin mit dem Rucksack?

Er könnte ihn auf den Schrank legen, ganz hinten hin. Sein Blick fuhr den Schrank entlang nach oben. Ohne Leiter käme er niemals dort hinauf.

Er schlich zum Fenster.

Die Schritte des Onkels hatten sich zur Rückseite des Hauses entfernt, dessen war er sicher. Er konnte den Rucksack in den Vorgarten werfen. Vielleicht hatte er Glück. Vielleicht würde Hinner ihn in der Dunkelheit im Schnee übersehen, wenn er das Haus verließ.

Er öffnete vorsichtig das Fenster. Es quietschte leise in den Scharnieren. Der Junge hielt die Luft an, drehte sich zur Zimmertür und lauschte so angestrengt, dass er das Gefühl hatte, seine Ohren würden gleich vom Kopf springen.

Er hörte von unten die Schritte, sie stapften wieder zurück zur Treppe.

Er warf den Rucksack aus dem Fenster und schloss es.

Die Schritte kamen die Treppe hoch.

Eilig hinkte der Junge zum Schrank, öffnete ihn, kroch hinein und zog die Tür hinter sich zu. Er kauerte sich in der hintersten Ecke zusammen, zog die Knie an und legte seine Kleidung über sich.

Die Zimmertür ging auf.

Das Licht, dachte er. Er hatte das Licht angelassen.

Tränen schossen ihm in die Augen.

Sein Onkel betrat das Zimmer. Jan lauschte den Schritten. Hinner blieb stehen. Jetzt sah er wohl unter das Bett.

Der Onkel fluchte leise.

Die Schritte näherten sich dem Schrank. Jan machte sich noch kleiner.

Hinner riss die Tür auf.

»Komm raus.«

Der Junge rührte sich nicht und hielt den Atem an.

»Ich sagte, komm raus.«

Tränen liefen über seine Wangen.

Sein Onkel riss die Bügel mit den Hosen und Blusen von der Kleiderstange und warf sie auf einen Haufen vor den Schrank.

»Du hältst dich wohl für besonders schlau, was?«

Jan spürte den Griff der Hand. Der Onkel riss die Kleider über ihm weg und warf sie ebenfalls auf den Haufen. Seine Hand kam immer näher. Eine große, feste Hand. Sie packte ihn an den Knien, ertastete die Arme, glitt über sie hinweg und fuhr hoch zu seinem Kopf, bekam ein Haarbüschel zu fassen und zerrte ihn an den Haaren aus dem Schrank.

Jan schrie auf, und als der Onkel ihn losließ, fiel er auf die Knie.

»Wo ist es?«, fragte sein Onkel und schüttelte ein dünnes Haarbüschel von der Hand.

Der Junge kniete vor ihm, weinte und wehrte sich nicht mehr.