18
Mitten in der Nacht wachte ich mit verspanntem Nacken auf. Es war stockfinster, und im ersten Moment wusste ich nicht, warum ich das Gefühl hatte, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann wusste ich es. Es war zu still im Zimmer. Ich tastete auf der anderen Seite der Schlafcouch nach Alex. Er lag nicht neben mir.
Ich stand auf, warf mir eine Strickjacke über und schaute nach, ob er im Bad war. Fehlanzeige. Ich ging zum Treppengeländer in der Hoffnung, dass unten Licht brannte. Unter der Küchentür schimmerte ein heller Streifen hervor. Erleichtert schlich ich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, die sechste Stufe von oben auslassend, die schon geknarrt hatte, als ich ein Kind war.
Leise öffnete ich die Tür. Alex saß am Küchentisch, eine Tasse Kaffee vor sich, und las in Koslowskis Ordner. Er bemerkte mich nicht, und so blieb ich stehen und betrachtete seine Hände, deren zärtliche Berührung mir Schauer durch den ganzen Körper jagen konnten. Ich bewunderte seine Schultern, kräftig und durchtrainiert, und dachte an seine kräftigen Arme, die mich unzählige Male gehalten hatten.
»Hallo«, sagte ich.
Er sah übernächtigt aus, unter den Augen lagen dunkle Ränder, und an seinem Kinn sprossen die ersten Bartstoppeln dunkelblond über einer grauen Haut.
»Was ist los?«, fragte ich, und da er nicht antwortete: »Warst du überhaupt im Bett?«
»Es tut mir leid.« Er sah mich nicht an, als er den Ordner zuklappte.
Es war keine Antwort. »Was tut dir leid?«
Hatte ich das wirklich gerade gefragt? Ich ahnte doch, was er meinte.
»Geh wieder ins Bett«, sagte er. »Wir sprechen später darüber. Bitte.«
»Nein«, sagte ich und setzte mich ihm gegenüber. »Jetzt.«
Er sah mich unbeteiligt an, und ich begann, die Sekunden zu zählen, bis er etwas sagen würde.
Paartherapeuten würden an diesem Punkt raten, den anderen nicht zu bedrängen und nicht sofort alles ausdiskutieren zu wollen. Theoretisch war das richtig. Praktisch jedoch bestand ich auf einer Antwort.
»Ich möchte es jetzt wissen.«
Es war ein Fehler. Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, glimmte vor meinem inneren Auge die Botschaft »Delete«. Doch es gab nichts mehr zu löschen.
Alex machte es kurz: »Ich denke, ich brauche Abstand und etwas Zeit. Ich komme mit dieser Geschichte im Moment nicht zurecht.«
Ich wollte aufstehen und ihn in die Arme nehmen. Ich wollte diese Sätze wegwischen und sie ungeschehen machen. Doch sie standen zwischen uns wie eine verminte Grenzanlage.
Ich sah an ihm vorbei. »Ich will nicht, dass so etwas mit uns geschieht«, sagte ich leise.
Er schwieg.
Ich senkte den Kopf, sah auf den Küchenfußboden zwischen meinen Knien und rieb mir den Nacken. Die Muskeln waren verspannt, und wenn ich sie nicht irgendwie lockerte, würden mich bald heftige Kopfschmerzen quälen.
»Bist du sicher, dass du nur etwas Zeit brauchst?«, fragte ich, während ich weiter meinen Nacken massierte und darüber nachdachte, dass ich etwas Tröstliches brauchte. Sofort. Etwas zu essen. Vielleicht Schokolade. Ein Stück Kuchen. Irgendetwas Süßes, das man mit klebrigen Fingern in sich hineinschlang. Ich stand auf und schaute im Kühlschrank nach. Es gab nichts Süßes außer einer Flasche Orangensaft.
»Mehr kann ich dazu nicht sagen«, sagte er in meinem Rücken.
Ich öffnete die Flasche, trank in langen Zügen, wischte mir den Mund ab, stellte die Flasche zurück und schloss die Kühlschranktür. Ich drehte mich um.
Er hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen vors Gesicht und starrte hinein, als sei ich nicht vorhanden. Ich fühlte mich wie früher als Kind, wenn ich Leo lästig war und er nicht mit mir spielen wollte.
Ich ging zurück ins Bett und wartete auf ihn.
Bei unserer zweiten Verabredung lud Alex mich in »Angie’s Nightclub« ein. Soul, Funk, Rock und Pop. Alles live, und die Drinks waren nicht zu toppen. Vor allem aber hatte der Club eine so winzige Tanzfläche, dass man gar nicht anders konnte, als zu fortgeschrittener Stunde eng aneinandergeschmiegt zu tanzen.
Alex war gern unbeschwert und albern. Er mochte den Cirque du Soleil, ABBA und die Peanuts. Seine Imitation von Charlie Brown war zum Niederknien, und auch bei der zehnten Wiederholung von »Brücken am Fluss« war er immer noch ergriffen, wenn Clint Eastwood im Regen in seinem Auto saß und vergeblich darauf wartete, dass Meryl Streep ihr altes Leben verließ und mit ihm fortging.
Nimm mich mit, flehte ich in Gedanken. Lass mich nicht zurück. Ich halte das nicht noch einmal aus.
Doch jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, hörte ich Alex’ abweisende Stimme oder sah Charles, Leo und Eddie vor mir. Jedes Mal schien es dann, als öffnete sich der Boden unter mir.