27
Kaltes Wasser lief mir über die Arme. Ich befeuchtete vorsichtig das Gesicht und vermied dabei, den Kopf vorzubeugen. Wieder zuckte ein Schmerz durch mein Becken und verebbte dann. Ich drehte den Wasserhahn zu und fragte mich, wie die Polizei an Leos Uhr gekommen war und wie ich mich verhalten sollte.
Als ich den Flur langsam zurückging, öffnete sich am Ende des Gangs eine Tür. Zwei junge Polizisten kamen mir leise miteinander redend entgegen. Auf meiner Höhe sagten sie »Hallo« und schauten dann betreten zur Seite.
Ich betrat das Konferenzzimmer, wehrte Unruhs Frage nach meinem Befinden und ob wir später weitermachen sollten mit einem »Ist schon okay« ab, setzte mich und fragte, wo genau sie die Uhr gefunden hätten.
»Meine Kollegen haben sie am Arm der toten Nora Schnitter sichergestellt«, sagte Unruh.
Ich musste mich zusammenreißen, um die Fassung zu wahren. Seit Leos Flucht hatte meine Mutter diese Uhr tagein, tagaus getragen. Doch meine Mutter war tot.
»Was bedeutet das?«, fragte ich, während ich schon wieder gegen eine neue Welle Schmerz ankämpfte.
»Dass Ihr Bruder Nora Schnitter vermutlich kannte und Kontakt zu ihr hatte.«
»Und was habe ich damit zu tun?« Ich schindete Zeit mit dieser Frage, mehr nicht. Unruh wusste das. Ich sah es in seinem Blick.
Er maß mich wieder mit diesem herablassenden Lächeln. »Sie sollen uns sagen, wo Ihr Bruder ist.«
»Damit Sie ihn verhaften?«, fragte ich entnervt, und Schmerz durchzuckte erneut meinen Unterleib.
Unruh stützte die Arme auf den Tisch und schob den Oberkörper vor. Auf der Stirn schwoll eine Ader bedrohlich an.
»Hat Ihr Bruder Sie jemals geschlagen?«, fragte er und musterte mich reglos.
»Wie bitte?«
»War Ihr Bruder gewalttätig?« Er sah mich konzentriert an, während er jene lauernde Unruhe verströmte, die ich bei manchen Staatsanwälten erlebt hatte, wenn sie vor Gericht überraschend einen Joker ausspielten. Raubtiere verhielten sich so, kurz bevor sie zuschlugen.
»Sind Sie verrückt?«
»Machte es ihn an, Menschen zusammenzuschlagen?« Die Frage traf mich wie ein Fanggebiss mitten in den Magen. »Das tat es doch, nicht wahr?« Ein Fanggebiss mit Widerhaken.
»Nein«, sagte ich. »Nein.«
»Aber er hat es getan?«
Ich hatte ihm nichts zu sagen, was er, wie ich vermutete, nicht wusste. Also schwieg ich und wartete ab.
»Es gibt eine ausführliche Akte«, sagte Unruh. »Noch aus der Zeit, als er wegen Einbruch vor dem Jugendgericht stand. Darin steht, dass er schon als Schuljunge einem drei Jahre älteren Jungen das Handgelenk gebrochen hat. Danach hat er einen alten Trinker zusammengeschlagen.«
»Der Trinker«, sagte ich, »hat seine Frau vor Leos Augen so verprügelt, dass sie mit gebrochener Nase und einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus kam.« Ich verteidigte ihn immer noch. Ich würde ihn immer verteidigen. Er war mein Bruder.
»Wie nett von ihm, dass er helfend eingriff. Nur leider lag der Mann danach drei Wochen im Krankenhaus«, sagte Unruh.
Er hatte Recht. »Ich …« Der Schmerz kam zurück, und ich verlor den Faden.
Unruh hatte sehr wohl bemerkt, dass es mir nicht gut ging, und fragte, ob ich nicht doch eine Pause wollte. Oder einen Kaffee oder Tee.
Ich verneinte, und so fuhr er fort: »Ich führe hier keine offizielle Befragung durch, und ich möchte auch Ihren Bruder lediglich fragen, ob er Nora Schnitter und ihre Schwester Vera gekannt hat. Vera war ein Exjunkie und wurde hier vor vier Monaten ebenfalls ermordet.«
Ich horchte auf. »Hatte er mit Vera auch etwas zu tun?«
Unruh zuckte die Achseln.
»Was haben Sie außer der Uhr noch gegen Leo in der Hand? Fingerabdrücke? Haare? DNA? Andere Spuren?«
Unruh schwieg.
»Wie wurde Nora Schnitter ermordet?«, fragte ich weiter.
»Sie wurde erschossen.«
»Und wann wurde sie getötet?«
»Gestern. Zwischen eins und drei. Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion.«
»Haben Sie Zeugen, dass mein Bruder gestern bei Christa Heinecken auf dem Hof war?«
Unruh reagierte nicht.
»Befragen Sie auch Hinner Heinecken? Oder jeden anderen beliebigen Bürger dieser Stadt?«
»Hinner Heinecken hat ein Alibi. Also, wo hält sich Ihr Bruder auf?«
Ich hätte ihm gern etwas Drastisches entgegengeschleudert, doch stattdessen sagte ich nur: »Ich weiß es nicht.«
Unruh lehnte sich zurück. »Sie sind gestern hierhergefahren?«
Ich nickte. »Direkt zu Koslowski.«
»Und was hat er Ihnen erzählt?«
Ich spielte ein paar Möglichkeiten im Kopf durch und traf dann eine Entscheidung.
»Koslowski behauptete, es gebe einen Nachahmungstäter. Er glaubt, das sei Leo und er sei wieder da.«
»Wir wissen, dass er das behauptet«, sagte Unruh.
»Glauben Sie auch, es war Leo?«
»Wir ermitteln in jede Richtung«, sagte er ausweichend. »Wir stehen aber erst am Anfang mit unseren Ermittlungen und können niemanden ausschließen.«
Unruh bedachte mich mit einem dieser strengen Blicke, die Eltern ihren widerspenstigen Kindern zuwerfen. Andere mochte er einschüchtern, mich nicht. Ich war Mutter, ich hatte lange daran gearbeitet, diesen Blick selbst zu perfektionieren.
»Was wollten Sie bei Margo Swann?«, fragte er schließlich noch einmal.
Tja, dachte ich, wenn ich das so genau sagen könnte. Antworten auf Fragen. Gewissheit. Doch ich antwortete: »Nach ihr sehen. Das sagte ich Ihnen bereits.«
»Und was war in dem Tresor?«
Vielleicht sollte mich die Frage überraschen und mir eine unkontrollierte Reaktion entlocken, doch ich sagte: »Er war offen und leergeräumt.«
»Also waren Sie in dem Zimmer?«
»Woher weiß ich es sonst?«
»Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke!«
»Sie verdächtigen mich doch nicht ernsthaft? Margo war seit Stunden tot, als ich das Haus betrat. Und wissen Sie was? Ihre ganze Ermittlungsakte zu Leo können Sie in den Müll werfen.«
Unruh beugte sich wieder über den Tisch und schob sein Gesicht so nah an meines heran, dass ich seinen Atem roch.
»Ich sag Ihnen jetzt mal was«, fauchte er. »Ich hab die ganze Nacht damit zugebracht, in völlig verstaubten, unsystematischen Archiven nach alten Akten zu suchen, sie zu studieren und eins und eins zusammenzuzählen. Und jetzt habe ich die Nase voll und richtig schlechte Laune.«
Ich schwieg.
»Erst taucht diese Vera Schnitter in der Stadt auf und will alles über den Tod ihres Vaters Charles Swann wissen«, fauchte er. »Kurz darauf wird sie vergewaltigt und ermordet. Drei Monate später soll ihre Schwester Nora sie identifizieren, und statt nach Hause zurückzufahren, nimmt sie Urlaub und bleibt hier. Ein paar Tage später ist sie ebenfalls tot. Und sie trägt die Uhr Ihres Bruders Leo. Der hat angeblich den leiblichen Vater Charles Swann umgebracht. Wie kommt diese junge Frau zu der Uhr, die ihre Eltern nie zuvor an ihr gesehen hatten? Weshalb wird Margo Swann nun auch noch umgebracht?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich, verblüfft über seinen Ausbruch.
»Natürlich nicht. Woher auch? Sie haben ja nie wieder etwas von Ihrem Bruder gehört, nicht wahr? Aber jemand sieht sich gerade einige Fotos von Ihrem Bruder an, die wir am Computer gealtert haben. Und ein paar Kollegen werden Margo Swanns Nachbarn befragen, ob sie Leo oder die jungen Frauen schon einmal bei ihr oder in der Nachbarschaft gesehen haben.«
»Jetzt soll Leo auch noch Margo umgebracht haben?«, fragte ich. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Nun, Leo Lambert erschoss seinen besten Freund Charles Swann, und Lauren Heinecken war von Charles schwanger. Zwanzig Jahre später tauchen ihre Töchter auf und werden umgehend ermordet. Und zumindest eine kannte Leo Lambert, denn sie trug seine Uhr am Arm. Mit anderen Worten: Charles Swann ist tot, seine Mutter ist tot, und seine Töchter sind tot.«
»Sie sind nicht Charles’ Töchter«, sagte ich. »Und Lauren war niemals von Charles schwanger.«
»Behaupten Sie. Aber Sie wären nicht die Erste, die von ihrem Freund betrogen wurde. Vielleicht hat Ihr Bruder es gewusst?«
»Nein«, sagte ich. »Nein.« Und dann noch einmal: »Nein.«
»Es wäre immerhin ein Motiv. Man nennt es Ehrenmord.«
»Nein«, sagte ich wieder und fragte dann, wie denn der Mord an Claudia Langhoff da reinpassen sollte.
Unruh beachtete meine Frage nicht, sondern fuhr fort: »Vera und Nora Schnitter waren auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern.«
»Woher wissen Sie das so genau?«
»Weil wir Lauren Heinecken und Ihren Sohn Jan vernommen haben und Kortner gerade noch einmal mit ihnen spricht. Und weil Lauren Heinecken ausgesagt hat, dass Nora Schnitter vor ein paar Tagen bei ihr gewesen sei und sich nach Charles erkundigt habe. Wo waren Sie eigentlich heute Nacht zwischen vier und sechs?«
»Im Bett«, sagte ich.
»Kann das jemand bezeugen?«
»Mein Vater und mein Freund Alexander Groth«, sagte ich und gab ihm Alex’ Adresse und Telefonnummer.
»Bleiben Sie in der Stadt«, sagte Carsten Unruh.
»Wie bitte?«
»Sie haben mich schon verstanden. Aber ich kann es auch ganz offiziell machen. Mit staatsanwaltlichem Stempel und allem Pipapo.«
»Mit welcher Begründung?«
»Wegen Vertuschung einer Straftat. Zur Not auch wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord«, sagte Unruh, ging zum Telefon am Kopf des Konferenztisches und rief jemanden an, um mich abzuholen und meine Fingerabdrücke abzunehmen.