Letzter Oktober
Guinievaire hatte von Alex gelernt, wie man rauchte oder wie man Poker und Billard spielte, und weil sie immer mit ihm und seiner Gruppe von nichtsnutzigen Freunden hatte mithalten müssen, vertrug sie übernatürlich viel Alkohol. Sie hatte ihre Art zu Sprechen von Alex übernommen und sie besuchte nur jene Restaurants, die sein Gütesiegel trugen, und außerdem ging sie nur dann aus, wenn sie sich sicher sein durfte, dass er ebenfalls anwesend war oder sie ohnehin schon zusammen mit ihm kam. Zudem hatte Guinievaire schon seit vielen Jahren den gleichen Schneider wie Alex und all die aufwendigen, maßgeschneiderten Roben, die sie dort bestellte und anfertigen ließ, gingen allein auf seine Rechnung. Immerhin war ihr Vater, selbst wenn es den Hastings keineswegs an finanziellen Mitteln mangelte, ganz und gar nicht freigiebig, ging es um seine einzige, wertvolle Tochter. An Alex‘ Großzügigkeit hingegen änderte sich auch nach der Trennung der beiden zunächst nichts, weswegen sie durchaus in der Lage war, auch weiterhin stets neue Kleider zu tragen. Denn Alex wusste genau, wie wichtig ihr ihre perfekte Erscheinung war und er hätte es deshalb nicht über sein durchaus empfindsames Herz gebracht, ihr eine ihrer größten Freuden einfach zu nehmen. Sie sahen einander nicht mehr sonderlich oft in dieser schwierigen Zeit, und wenn sie es taten, dann waren sie betont höflich, aber stets distanziert. Es war so merkwürdig wie es qualvoll war für Guinievaire, den Menschen, der ihr auf dieser Erde am meisten am Herzen lag, zu behandeln, als sei er nicht mehr als ein entfernter Bekannter, besonders weil er sich erwachsener betrug, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Oft zweifelte sie deshalb auch an ihrer schweren Entscheidung und wünschte sich heftig in frühere Zeiten zurück. Aber weil sie gleichzeitig schrecklich beschäftigt damit war, ihre Beziehung zu Tony, dessen Verlobte sie nun immerhin war, zu vertiefen, dachte sie zugleich glücklicherweise nicht allzu viel an ihren besten Freund. Und wenn sie es doch tat, dann konnte sie nicht im Geringsten verstehen, warum es ihrem Alex doch derart leicht zu fallen schien, das Scheitern ihrer Beziehung zu verwinden. Zuletzt hatte er ihr gesagt, er wolle sich weiter um sie bemühen, aber nun? Er besuchte sie nicht mehr, er sorgte sich nicht mehr um sie, und Guinievaire, vollkommen verwirrt, wusste nicht, ob sie dies begrüßen sollte – immerhin hatte sie ihn unter Tränen darum gebeten – oder ob sie nicht schrecklich verletzt deswegen war. Sie wollte in seiner Nähe sein und sie hatte Angst davor, sie wollte, dass er sie noch liebte und sie fürchtete, dass sie es noch tat. Es war unerträglich schwer, nicht länger bei ihm zu sein und es war im Grunde unmöglich, denn sie hatte sich überschätzt, als sie geglaubt hatte, es würde ihr ganz leicht gelingen, ihn zu vergessen. Selbst wenn die Entscheidung, die sie gefällt hatte, wirklich die Beste für sie sein sollte, Alex steckte gründlich in all ihren Knochen.
„Möchten Sie das andere Kleid auch noch anprobieren?“ fragte Conroy sie, nachdem er lange einfach ruhig in einer Position verharrt hatte, um sie, die auf einem kleinen, runden Podest stand, das ihm die Arbeit erleichtern sollte, zufrieden zu betrachten. Guinievaire trug eine aufwendig gefärbte Kreation des Meisters und ein Blick in den Spiegel hinter dem relativ kleinen Mann mit dem elegant gekämmten, weißen Haar verriet ihr, dass er vollkommen zurecht einen derartig seligen Ausdruck in den Augen trug. Sie sah fantastisch aus, wieder einmal. Im Grunde besaß sie nicht viel Feingefühl im Umgang mit ihren Untergebenen und sie bemühte sich zumeist keine Sekunde lang darum, ihre Umgangsformen etwas zu verbessern, aber Conroy genoss ihren höchsten Respekt, schon seit dem ersten Mal, das er sie in eine seiner Roben geschnürt hatte unter Alex‘ wachsamen Augen. Er verstand sein Handwerk wie kein Zweiter und die herrlichsten Kleider, das versprach er ihr immer wieder, schuf er nur für sie, die immerhin ein dankbares Modell für seine Kunst war und zudem seine einzige Kundin.
„Welches andere Kleid?“ fragte sie ratlos, während sie sich ein weiteres Mal zufrieden drehte und dann einen Blick über die Schulter warf, um sich auch von hinten zu betrachten. Die Schleppe fiel bis auf den dunklen, alten Boden des winzigen, runden Raumes, in dem sie schon sehr viel Zeit verbracht hatte, während ihr Meister kleine Änderungen vorgenommen und Säume neu abgesteckt hatte. Regale, über und über voll mit Pailletten und Knöpfen und kleinen, silbernen Nadeln in praktischen Schubladen, reichten an allen Wänden vom Teppich bis zur Decke und es gab nur zwei Ausgänge: der eine führte in den vorderen Teil des Ladens zurück und der andere ins Atelier und zur magischen Nähmaschine des alten Mannes, der sie hinter seiner kristallklaren Brille aufmerksam ansah. Die weißen Hemden, die er trug, waren stets zu groß, damit er viel Platz hatte für seine dünnen, drahtigen Arme, die er ständig bewegte. Sein Kragen war immer zerknittert, denn immer und immer wieder zog er das Maßband, das er wie eine Krawatte um den Hals trug, von seinen Schultern, um auch wirklich sicher zu gehen, dass alles perfekt passte.
„Lord Lovett hat es für Sie in Auftrag gegeben,“ erklärte er, was an sich nichts Ungewöhnliches war. Alex sah sie gerne in dieser oder jener Farbe und machte ihr die fertigen Roben, die er bestellt hatte, dann zum Geschenk, zusammen mit einem teuren Schmuckstück, das er gekauft hatte. Eigentlich wollte Guinievaire ablehnen, weil sie das Gefühl hatte, es wäre nicht mehr angemessen, das zu tragen, worin sie nur ihm gefallen sollte, aber als Conroy nun fortfuhr, machte er sie neugierig. „Es war eine sehr aufwendige Arbeit, wir haben lange dafür gebraucht, aber jetzt sind wir bereit für eine erste Anprobe. Sie werden es lieben, Miss Hastings.“
Conroy sprach immer von einem Wir, selbst wenn Guinievaire in der langen Zeit, die sie nun schon seine beste Kundin war, noch nicht herausgefunden hatte, auf wen er sich dabei bezog, denn sie begegnete immer nur ihm und hatte deswegen den starken Verdacht, dass dieser scheinbar gebrechliche Mann all die Wunderwerke, die in ihrem Schrank hingen, ganz alleine geschaffen hatte.
Sie nickte, begierig darauf, das arbeitsintensive Stück zu sehen. In Windeseile verschwand ihr Schneider daraufhin durch die Türe, die tiefer in sein Atelier führte und kehrte ebenso schnell mit einem Kleidersack zurück, den er so behutsam und vorsichtig in den Händen trug, als handle es sich um etwas Zerbrechliches. Mit einem aufgeregten Zwinkern überreichte er Guinievaire das neue Kleid, die sich von der stürmischen Begeisterung ihres Gegenübers fast ein wenig anstecken ließ. Hastig trat sie von ihrem Podest herab und begab sich in die enge Kabine, die links im beklemmenden Gang zurück in den öffentlichen Teil des Geschäftes lag.
Als sie in der hauchdünnen Robe wieder heraustrat und ein weiteres Mal auf die kreisrunde Erhebung stieg, um sich ausgiebig vom Meister betrachten zu lassen, zitterte sie ein wenig.
„Wie lange haben Sie dafür gebraucht?“ wollte sie verwirrt wissen, während sie ungläubig in den Spiegel sah.
„Ungefähr vier Monate,“ erwiderte Conroy mit einem zurecht mehr als stolzen Nicken.
Dies war unglaublich und es war absolut typisch für Alex. Erstens, dass er es tatsächlich für sein Recht hielt, ihr diese unglaublich wichtige Entscheidung abzunehmen. Zweitens, dass er es trotz dieser unerhörten Unverschämtheit schaffte, genau das Richtige für sie auszusuchen, so dass sie ihm noch nicht einmal böse sein konnte. Denn das Kleid war genau so, wie Guinievaire es sich immer vorgestellt hatte und sogar noch schöner: es war nicht weiß, weil Alex wusste, dass sie die Implikationen jener Farbe nicht mochte und sie zudem schon eine lange Zeit nicht mehr auf sie zutrafen, nur dank ihm. Stattdessen war es zart cremefarben und aus der dünnsten Spitze, die Guinievaire jemals gesehen hatte. Auf der rechten Seite war der Stoff gerafft und wurde von einer Schleife gehalten. Die Schleppe, die Conroy gerade übereifrig bis in den Gang ausbreitete, war sicherlich fünf Meter lang. Zutiefst beeindruckt strich Guinievaire über den Rock. Die Spitze war mit winzigen Perlen und Pailletten besetzt und nur wenn man ganz genau hinsah, entdeckte man, dass diese ineinander verschlungene Buchstaben bildeten: A und G. Verzweifelt starrte Guinievaire gegen die Wand und kaute auf ihrer Unterlippe, um nicht plötzlich in Tränen auszubrechen.
„Er hat es schon im Juli bestellt?“ sagte sie etwas heiser. Wie konnte er dies tun, ohne sie zu fragen und ohne ihr auch nur das Geringste davon zu sagen?
Conroy tauchte wieder hinter ihr auf und nickte beiläufig. Er sah sie an und strahlte. „Sie sind eine wahrhaftige Erscheinung, Miss Hastings,“ erklärte er. „Ich möchte nicht zu neugierig sein, aber haben Sie schon einen Termin? Der Lord hat noch nichts von einem Anzug erwähnt, aber ich habe vorsorglich etwas von dem Organza aufgehoben, um die Knöpfe und die Manschetten zu beziehen.“
„Wir haben noch keinen Termin,“ erwiderte Guinievaire tonlos. „Erwarten Sie Alex heute?“
„Jeden Moment, Miss Hastings. Ich dachte, Sie wüssten davon.“ Conroys Gesichtszüge wurden mit jeder Sekunde skeptischer. Neben Vicky und Cici und ihrem Vater war er der einzige Mensch in ganz London, der hätte bestätigen können, was der Rest der neugierigen Stadt nach wie vor nur vermuten konnte. „Ich habe ihm erzählt, dass es fertig ist und er wollte Sie sehen. Natürlich habe ich ihm gesagt, dass es Unglück bringt, aber es war ihm gleich. Nun, was sollte Ihnen jetzt auch noch widerfahren, nicht wahr?“
Guinievaire nickte abwesend, dann wagte sie es, ein weiteres Mal in den Spiegel zu sehen. Sie hob das Kinn, streckte sich, dann öffnete sie ihr Haar, um zu sehen, wie sie es wohl am Besten trug. Das Diamantcollier, das Alex ihr einmal zu keinem besonderen Anlass geschenkt hatte, würde gut dazu passen. Und sie würde gerne Blumen in den Haaren tragen, am liebsten Lilien. Was dachte sie da überhaupt? Sie würde dieses Kleid niemals wirklich tragen, aber sie sah dennoch unzweifelhaft herrlich darin aus.
Draußen im Laden klingelten die feinen Glöckchen, die die Ankunft eines neuen Kunden verkündeten, woraufhin der Schneider mit seinen typisch hastigen, großen Schritten aus dem Anproberaum schoss, nicht bevor er noch einen weiteren Blick auf sein Werk geworfen hatte. Nach einem kleinen Augenblick kehrte er zusammen mit Alex zurück, dem Guinievaire sich zuwandte und dabei heftig blinzelte, während ihr Liebster abrupt stehen blieb, als er sie erblickte, und sie dann für einige Zeit lediglich stumm anstarrte. Erst nach einer langen Weile schien er sich wieder gefangen zu haben.
„Gefällt es Ihnen, Mylord?“ erkundigte sich Conroy bei ihm mit stolz geschwellter Brust.
„Selbstverständlich tut es das,“ entgegnete Alexander mit belegter Stimme. „Sie sieht unglaublich aus.“ Kurz herrschte im Raum einvernehmliches Schweigen, dann wandte Alex den Blick ab und stattdessen dem Schneidermeister zu. „Würden Sie uns vielleicht einen kleinen Augenblick geben?“ bat er Conroy, der ein wissendes Lächeln voller Verständnis für die Diskretion der beiden Verliebten aufsetzte und daraufhin hastig in seinem Lager verschwand. Guinievaire und Alex konnten hören, wie er eine schwere Türe hinter sich schloss.
„Es ist ein Hochzeitskleid,“ erklärte Alex Guinievaire nüchtern.
Sie schlug schwer atmend die Lider nieder und sah an sich herab. „Ich weiß,“ nickte sie dann leise, während sie Alex‘ hungrige Augen auf sich spürte. „Seit vier Monaten hast du das schon vor?“ platzte es dann fassungslos aus ihr hervor.
Sie hatte immer geglaubt, er würde sie niemals fragen! Sie hatte geglaubt, er sei jene Art von Mann, die sich einfach nicht endgültig einfangen ließ. Manchmal hatte sie sich bereits damit abgefunden gehabt und manchmal hatte es sie unvorstellbar wütend gemacht und dann hatte sie ihn gedrängt und er hatte ihr niemals nachgegeben, weswegen sie geglaubt hatte, er wolle sie nicht. Und nun erfuhr sie, dass er tatsächlich schon vor vielen Monaten beschlossen hatte, sie zu seiner Frau zu machen. Während Guinievaire lange geglaubt hatte, er schliefe heimlich mit anderen Frauen, hatte er sogar ein Kleid für sie anfertigen lassen.
„Eigentlich plane ich es schon seit Mai,“ enthüllte Alexander. Dank des Podestes überragte Guinievaire ihn sogar beinahe um einige, entscheidende Zentimeter und er musste ein wenig zu ihr hinauf sehen, was ein ungewohnter Anblick war.
„Warum hast du mich nicht gefragt?“ wollte sie entgeistert wissen. Er hatte alles ruiniert. Sie hätte seine Verlobte sein können.
„Zuerst war ich zu feige,“ gab er zu, womit er genau das bestätigte, was Guinievaire bereits erwartet hatte. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich einen guten Ehemann abgeben würde. Und dann warst du auf einmal immer schrecklich seltsam zu mir, weil du dachtest, ich hätte weiterhin Affären natürlich, und deswegen hatte ich Angst, du würdest Nein sagen.“ Monatelang hatte Guinievaire Alex nicht erzählt, welche Ängste sie quälten, nachdem eine Fremde auf einer Party ihr zugeflüstert hatte, Alexander Lovett sei ihr untreu. Das Herz war ihr gebrochen und hätte er auf ihre Nachfrage hin eingeräumt, was sie im Grunde nur ahnte, wäre sie zweifellos daran zugrunde gegangen. Am Ende hatte sich aber herausgestellt, dass es nichts weiter gewesen war als eine schmutzige Lüge. „Ich habe darüber nachgedacht, was ich tun würde, würdest du Nein sagen,“ fuhr Alex fort. „Liebling, ich hätte es ganz einfach nicht ertragen. Und dann hast du dich von mir getrennt.“
„Alex,“ hauchte sie enttäuscht. „Natürlich hätte ich Ja gesagt, ganz egal was du getan hast. Du weißt, es hat niemals eine Rolle gespielt.“
Wie hatte er nur an ihr zweifeln können? Guinievaire hatte ihn so hingebungsvoll geliebt und sie hatte sich sehr darum bemüht, ihm dies jeden einzelnen Tag zu beweisen. War er nicht im Himmel gewesen mit ihr, mit seinem Kätzchen, wie er sie gerne genannt hatte?
Während sie ihn vorwurfsvoll ansah, griff Alex nach ihrer kalten Hand. „Dann lass es uns jetzt tun. Nichts steht dem noch im Weg, Engel. Du hast ein Kleid, ich habe sogar einen Ring,“ schlug er vor, wobei er in sein Jackett griff und eine quadratische, türkise Box mit runden Ecken und einer weißen Schleife daraus hervorzog. Elegant öffnete er sie mit dem Daumen und hielt ihr den Inhalt stolz vor Augen: es war ein großer rosa Diamant und viele kleine, farblose, die ihn umrahmten, auf Platin und es war ohne jeglichen Zweifel der schönste Ring, den Guinievaire jemals gesehen hätte. Am liebsten hätte sie in diesem Augenblick vor wilder Verzweiflung nach Alex geschlagen.
„Soll dies etwa ein Antrag sein?“ zischte sie empört.
Sie hatte immer gewusst, Alex war nicht eben sonderlich romantisch oder wenigstens besonders mitteilsam, aber für ihren Heiratsantrag hatte sie definitiv immer schon mehr erwartet als diese hinterhältige Falle und diesen etwas halbherzigen, mehr als spontanen Tonfall. Tony hatte sich wesentlich besser ausgedrückt, erinnerte sie sich bitter.
Alexander wusste scheinbar, was sie derart erzürnte. „Was willst du hören, Prinzessin?“ entgegnete er mit strenger Stimme und drückte ihre Finger. „Wie sehr ich dich liebe? Das weißt du. Ich will dich heiraten, sagt das nicht schon genug?“
Er war wirklich ein unfassbar arrogantes, selbstgerechtes Ungeheuer, dachte Guinievaire und verletzt schob sie deshalb ihr Kinn nach vorne. „Wir sind getrennt. Ich will dich nicht mehr heiraten,“ erklärte sie ihm dabei tödlich beleidigt. Sie war nicht aufgebracht oder dumm genug, um ihm von Tony zu erzählen, denn dies wäre nach wie vor der schlimmste Fehler, den sie machen konnte.
„Guinievaire, du liebst mich,“ rief Alexander ihr umsichtigerweise ins Gedächtnis. Sie lächelte hohl.
„Nein,“ log sie. „Nicht mehr.“ Dieser Satz brannte in ihrer Kehle. Warum zum Teufel war nur alles mit Alex immer so schwer und immer, wirklich absolut immer, geschah es zum falschen Zeitpunkt? Er hätte sie fragen sollen, er hätte sie fragen müssen und nun, wo er es tat, wo er so unendlich tief in ihrer Schuld stand, da drückte er sie derart beiläufig und desinteressiert aus! Was war mit ihm geschehen seit dem letzten Mal? Glaubte er, sie habe ihm bereits verziehen oder war dies eine weitere seiner schmutzigen Taktiken? Warum fragte er sie nun, wo sie nicht zurückkommen konnte? Er war wieder der Alte, ihr alter, verschlossener, kalter Alex, der glaubte, sie müsse ihm für jede Sekunde seiner Aufmerksamkeit dankbar sein. Dies war sein Heilmittel, dass er sich endlich dazu herabließ, sie zu ehelichen, um sie zufrieden zu stellen. Aber Guinievaire wünschte sich mehr von ihm, denn sie hatte ihm noch nicht verziehen. Hatte sie ihm nicht gesagt, sie würde Zeit benötigen? Wieder einmal war er ungeduldig geworden.
„Das ist nicht wahr,“ insistierte Alex, der sie genau kannte und stets sehr ungehalten wurde über derartige Behauptungen. „Nimm den Ring, bitte, Schatz.“ Mit einer kleinen Bewegung seines weißen Handgelenks brachte er die Steine dazu, verführerisch im kalten Licht zu glänzen.
Für eine Sekunde malte Guinievaire sich daraufhin aus, wie sie die Hand ausstreckte und den Ring tatsächlich aus der Schachtel nahm, wie Alex ihn ihr lächelnd und triumphierend ansteckte und wie sie sich küssten. Zu ihrer großen Überraschung gefiel ihr diese Vorstellung jedoch ganz und gar nicht.
„Nein,“ beharrte sie also weiter. „Es geschieht diesmal nicht, bloß weil du es möchtest.“
„Und du möchtest es nicht?“ entgegnete er tonlos, dabei drückte er so fest ihre Finger, dass sie schmerzten. Guinievaire schüttelte eisern den Kopf und vermutlich hatte sie dabei recht, sie wollte es wirklich nicht mehr. Sie liebte ihn, sie betete ihn an, aber er war nicht gut für sie, sie konnte ihm nicht trauen und er würde sie verletzen, und dies immer noch schlimmer als er es bisher schon sehr gründlich getan hatte. Es war vorbei, genau wie sie es bei ihrem letzten Treffen verkündet hatte. Selbst dieser monströse Ring konnte sie nicht umstimmen, denn diesmal war es mehr als ein Machtkampf. Es war reine Vernunft, aus der heraus sie mit einem Mal handelte.
Mit einem kalten Blick aus seinen unfassbar schönen, schwarzen Augen musterte er sie ein letztes Mal ganz genau. Die Zeichen, die er hoffte zu entdecken, er fand sie nicht in ihrem Gesicht. Endlich ließ er ihre Hand los, dann schnappte er die Schachtel mit dem Verlobungsring wieder zu und ließ sie zurück in seine Tasche gleiten.
„Nun, dann hast du wohl auch keine Verwendung für das Kleid. Sag Conroy einfach, er kann es wieder verbrennen oder aber ein Paar hübscher Vorhänge daraus machen, was auch immer er möchte.“ Ohne eine winzige Verabschiedung kehrte er Guinievaire dann eiskalt den Rücken zu und ging. „Ich werde es natürlich bezahlen,“ rief er noch über die hohe Schulter.
Kaum klingelten die Glocken ein weiteres Mal, allerdings etwas aufgeregter, schnappte Guinievaire nach Luft, legte eine Hand auf den Mund und schluchzte. Dies war der Moment gewesen, von dem sie geträumt hatte, seitdem sie ihn kannte, dachte sie dabei, und er hatte ihn zerstört. Wie konnte er ihr nur derart furchtbar weh tun? Immerhin machte er es ihr damit endlich noch ein wenig leichter als zuvor. Denn wenn sie wollte, dann konnte sie dieses Kleid sehr wohl behalten, schließlich hatte sie vor, einen Mann namens Anthony zu heiraten. Aber allein jener grimmige Gedanke, dieses Kunstwerk bei ihrer Trauung mit Tony zu tragen, war geschmacklos. Etwas heiser rief sie nach einer fassungslosen Pause nach Mr Conroy.
Dieser warf einen besorgten Blick auf ihre Tränen, als er wieder eintrat. „Ist alles in Ordnung, Miss Hastings?“ fragte er sinnloserweise.
Tapfer nickte sie und zwang ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht. „Wir sind beide sehr zufrieden,“ erklärte sie überschwänglich. „Schicken Sie es doch bitte Alex zu, er wird es sicher verwahren.“
Er sollte es haben, damit er es zu Hause sehnsuchtsvoll ansehen konnte. An jedem verdammten Tag, an dem er sie vermisste, sollte er bereuen, was er getan und besonders, was er heute zu ihr gesagt hatte. Guinievaire schwor sich, ihn erst wiederzusehen, wenn sie Tonys Frau war.