1 November

 

 

„Ich werde sterben,“ klagte Guinievaire Hastings unruhig und sah sehnsüchtig auf den festen Boden, der ihr unerträglich weit entfernt schien. Napoléons Hufe schlugen in einem rhythmischen Takt auf die nassen Kopfsteine. Es regnete viel in letzter Zeit, aber es schneite noch nicht, seltsamerweise, denn es war schrecklich kalt. Die Menschen auf den Straßen trugen ihre silbernen Pelzmäntel spazieren und sahen dabei aus wie gefährliche Raubtiere. Vermutlich bildete sie es sich nur ein, aber Guinievaire hatte das Gefühl, sie würden sie beobachten, sie und ihren Begleiter, der neben ihr auf seinem Pferd thronte als täte er niemals etwas anderes, was im Grunde sogar auf ihn zutraf. Er trug keinen Pelz, sondern seine schrecklich schäbige Jacke, aber dennoch gelang es ihm auf wundersame Weise dabei gut auszusehen. Sie fragte sich oft, wie ihm dieses unverschämte Kunststück glückte: er hatte sperriges, unbezähmbares Haar und sein Geschmack, was seine Kleidung betraf, war nicht vorhanden bis hin zu grausig, aber dank seiner täglichen, harten Arbeit hatte er zugleich auch kräftige Schultern und wirkte robust und gesund, hatte große, ehrliche, braune, treue Augen, die ihr gefielen, und auch wenn seine Züge nicht perfekt symmetrisch waren, so hatte er doch eine Art Aura, ein unsichtbares Etwas, das ihn umgab und das ihn sehr gut aussehen ließ, selbst wenn er eigentlich nicht gut aussehend war.

Während Guinievaire ihren Reitlehrer genauer musterte, wurde ihr wieder bewusst, dass sie sich natürlich nur einbildete, dass man sie anstarrte. Niemand in ganz London würde jemals Verdacht schöpfen, was sie und ihn anbelangte. Denn die Einwohner dieser Stadt hatten inzwischen, nach zwei Jahren, ein recht genaues Bild von ihr – immerhin sprach man viel und gerne über sie, ob sie nun anwesend war oder nicht – und niemand traute ihr, Guinievaire Hastings, zu, dass sie mit Anthony Ford ausging, geschweige denn, dass sie sich heimlich mit ihm verlobt hatte. Von Guinievaire war man nur das Beste gewohnt: was sie trug, kam in Mode, wo sie hinging, tummelten sich am nächsten Tag unerträglich viele Nachahmer. Jeder glaubte, sie zu kennen, und keiner von ihnen tat es, und deswegen wusste auch niemand, dass Guinievaire ernsthaft vorhatte, den Mann, der neben ihr ritt, zu heiraten, wenn möglich sogar schon bald. Er hatte sie gefragt, ob sie seine Frau werden wollte, sie hatte Ja gesagt. Es war ganz leicht gewesen bis eben zu diesem Punkt hin. Und nun lagen wesentlich schwierigere Zeiten vor ihnen.

Bisher wusste kaum jemand von ihrer Verlobung, bis auf Guinievaires beste Freundin und Anthonys Vater, was natürlich wohl durchdachte Gründe hatte: Guinievaire und Anthony waren nicht eben das ideale Paar. Sie war eine Hastings, damit entstammte sie einer uralten Familie, eine Tatsache, auf die ihr Vater sehr gerne beharrte, selbst wenn die Popularität dieses Namens in den letzten Generationen merklich abgenommen hatte. Sie waren dennoch beinahe adelig, beinahe königlich, reich, fest verwurzelt in den Strukturen dieser Stadt, und Guinievaire war die einzige Tochter und – wenn auch nur nach außen hin – das funkelnde Juwel der Familie. Sie hatte einen älteren Bruder, aber der war ein Nichtsnutz. Sie hingegen war eine hervorragende Tänzerin, sprach vier Sprachen, hatte exzellente Manieren und war hübsch anzusehen. Die großen Hoffnungen ihres Vaters ruhten also alleine auf ihr – sie sollte eine Partie machen, die die Menschen endlich die vergangenen Skandale vergessen ließ, um wieder den Glanz dieser Familie zu sehen. Sie sollte einen Mann erobern wie es keinen Zweiten in London gab, er musste unendlich reich sein und dabei selbst sehr adelig und charmant und beliebt und einflussreich, damit ihr Vater wirklich zufrieden mit ihr war. Und Tony war leider nur Ersteres.

Er seufzte schwer ob ihres Kommentars, aber zugleich musste er doch ein wenig lächeln. „Unsinn,“ tröstete er sie. „Du schlägst dich großartig.“

Er log natürlich, aber Guinievaire war bereit, ihm zu verzeihen, denn erstens war sie selbst nicht sonderlich versessen auf Ehrlichkeit und zweitens schätzte sie an Tony eben jene Seiten, die ihn dazu brachten, sie derart offensichtlich anzulügen: er war freundlich und rücksichtsvoll und gütig und außerdem geduldig. Seit Monaten versuchte er nun bereits, sie das Reiten zu lehren und selbst jetzt, wo sie doch zahllose Male unter Beweis gestellt hatte, dass sie es nicht lernen konnte und es nicht lernen wollte, hatte er dieses hoffnungslose Unterfangen nicht aufgegeben.

Wieso zum Teufel war es schon so kalt? Die Stadt sah furchtbar aus zu dieser Jahreszeit, wenn nur fahles Licht auf die übellaunigen Menschen fiel und Millionen von Grauschattierungen sich auf das Gemüt schlugen. Guinievaire liebte London, seine Straßen, die Häuser, die Größe, die Gelegenheiten, die Bewohner sogar manchmal, aber dieser triste Zustand, in dem es sich derzeit befand, machte sie unweigerlich niedergeschlagen oder zumindest versuchte sie sich beständig eben dies einzureden, dass das Wetter daran schuld war, dass sie sich nicht sonderlich glücklich fühlte.

Tony schien es derweil hervorragend zu gehen. Er fror nicht in seiner schmutzigen Jacke und er sah sich um und atmete tief ein als sei diese finstere, nasse Straße der hübscheste Ort der Erde. Er lächelte sogar ein wenig und klopfte seinem braunen Ungetüm zufrieden gegen seinen warmen Hals, während Guinievaire ihn beinahe ein wenig bewunderte oder sogar beneidete. Wie konnte er nur derart sorglos und fabelhaft aufgelegt sein, wo sich vor ihnen doch die Probleme ins Unermessliche türmten? Wie konnte er scheinbar erholt sein, wo sie doch Wochen und Monate von gefährlichen Heimlichkeiten hinter sich hatten, die ihre Beziehung strapazierten, seitdem sie begonnen hatte? Nun, vermutlich war er derart ruhig und gelassen, weil Tony sich nicht mit ihren unendlich vielen Problemen quälen musste. Ihr Verlobter hatte im Grunde nur eines: ihren Vater, der ihnen die Erlaubnis für eine Eheschließung erteilen musste. Sie hingegen hatte tausende von Sorgen und von keiner einzigen konnte sie ihm erzählen, um seine großartige Laune zu ruinieren.

Napoléon schwenkte den Kopf gefährlich zur Seite und trottete mit einem Mal nach links, obwohl Guinievaire sich nicht erinnern konnte, sich mit ihm auf ein derartiges Manöver geeinigt zu haben. Verzweifelt zog sie an den Zügeln, um ihn wieder fortzulenken von dem leicht erhöhten Bürgersteig, wo sich die Menschen sorgenvoll drängten und davon eilten mit empörten Blicken, um nicht von dem Ungeheuer, auf das man Guinievaire gesetzt hatte, zerquetscht zu werden.

„Tony,“ klagte sie leise zu ihrem Lehrer herüber, der sich mit einem Seufzen anschickte, ihren Kurs zu korrigieren. Währenddessen warf Guinievaire einer schimpfenden Frau, die eine schmutzig braune Jacke trug, einen durchdringenden Blick zu. „Er hätte weniger Angriffsfläche, würden sie weniger essen. Es ist nicht seine Schuld, wenn sie ihm im Weg stehen.“

„Guinievaire,“ mahnte Tony sie ruhig, als er Napoléon an seinem Zügel wieder in die Mitte der Straße zog.

Er mochte es nicht, wie Guinievaire mit Menschen umsprang, denn sie war zugegebenermaßen etwas unhöflich und Tony war ein Heiliger, der immer lächelte und alten Damen die Einkäufe trug und kleinen Kindern Süßigkeiten schenkte. Manchmal übertrieb er es dabei ein wenig mit seiner unendlichen Gutmütigkeit, aber Guinievaire beschwerte sich niemals deswegen. Vielleicht gefiel ihr auch nicht, dass er immer zu allen übermenschlich freundlich war? Daran dachte er sicher niemals.

„Verflucht, ich hasse dieses dumme Pferd,“ murrte sie, wie sie es schon tausende Male getan hatte. Sie und Napoléon waren Feinde, seitdem sie sich begegnet waren. „Und er hasst mich auch.“

Tony lachte und schüttelte den Kopf. „Das tut er überhaupt nicht,“ erklärte er ihr, dabei hielt er nach wie vor ihr Pferd und führte sie, weil er wohl einmal wieder hatte einsehen müssen, dass man Guinievaire einfach nicht auf andere Menschen loslassen konnte, wollte man nicht, dass sie ein Blutbad auf den Straßen Londons anrichtete. „Er fragt oft nach dir.“

Sie musste lächeln, gemeinsam mit ihrem Verlobten, wobei ihre Blicke sich trafen und Guinievaire sich wunderte, wie schon sooft, über sich selbst. Sie mochte keine Pferde, sie verabscheute sie sogar, aber Tonys gesamtes Leben bestand aus ihnen. Guinievaire mochte laute Musik und Parties und viel Alkohol und sie wollte ein aufregendes Leben führen, aber Tony ging nicht gerne aus, und wenn er das tat, dann stellte er immer auch einen sehr intellektuellen Anspruch an sein Abendprogramm. Sich beim Pokerspiel sinnlos zu betrinken, während man mehrere kleinere Vermögen verlor, wie sie es früher jeden Mittwoch getan hatte, dies wäre für ihn niemals eine Option. Und dennoch waren sie verlobt und hatten vor zu heiraten.

Endlich verließen sie die engen Straßen, die durch die Mitte der Stadt verliefen, um sich in Guinievaires Viertel wiederzufinden, wo die Bewohner sich bedeutend mehr Platz leisten konnten. Es gab grüne Gärten und breite Bürgersteige, und die kalte Luft roch besser, und die Laternen hatten elegante Formen. Hier, wo es teuer war zu leben, stand Hastings House, in dem sie seit achtzehn Jahren wohnte und wo sie auch geboren worden war. Dennoch bezeichnete sie diesen Ort niemals als ihr Zuhause.

Schwarze Eisentore mit spitzen Enden versperrten den Weg zu dem quadratischen Ungeheuer aus altem, dunkel angelaufenem Backstein. Vor den nutzlosen, dunklen Fenstern gab es manchmal sogar Gitter. Das Dach war lange schwarz und steinerne Ungeheuer saßen unter dem Giebel. Es war ein großes Anwesen, aber es war unvorstellbar finster und ganz und gar nicht einladend. Wie oft hatte sie sich schon gefragt, was zum Teufel in den Architekten gefahren war, als er die Pläne gemacht hatte! Hatte er vorgehabt ein unheimliches, kaltes, scheußliches und moderndes Spukschloss inmitten einer ansehnlichen Nachbarschaft zu erbauen, so war es ihm absolut und vollkommen gelungen.

Wenn Guinievaire Tony heiratete, dann bedeutete das, dass sie ihrem riesenhaften Verlies endlich entkam und damit auch ihrem herrischen Vater, den sie verabscheute, seitdem sie ein kleines Kind war, und der sie ebenso wenig leiden mochte wie andersherum. Sie wäre dann Mrs Ford und würde vermutlich in Tonys Stadthaus ziehen, das weit, weit entfernt von hier lag, in einem wesentlich bürgerlicheren Viertel. Sein runder, braver Vater lebte ebenfalls dort, also würde sie zugleich auch Teil einer neuen Familie werden. Guinievaire wusste nicht, ob ihr diese Vorstellung gefallen sollte oder nicht.

„Du könntest meinem Vater einfach erzählen, dass ich nun eine fantastische Reiterin bin und ich müsste nie wieder mein Leben und das anderer aufs Spiel setzen, Tony,“ schlug sie vor, während sie in einem sehr, sehr langsamen Tempo in ihre Straße bogen.

Er schüttelte sein unordentliches Haar. „Dann hätten wir aber keine Stunden mehr, und ich dürfte dich nicht mehr sehen,“ wehrte er ab.

Tony liebte Guinievaire sehr, dessen war sie sich voll und ganz bewusst, immerhin war sie nicht ganz unschuldig daran. In der Sekunde, in der sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie gewusst, dass er anders war als alle Männer, die sie jemals gekannt hatte, weswegen sie sich brennend dafür interessiert hatte, wie er wohl funktionierte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen, aber auch höflich und schüchtern und distanziert. Guinievaire, mit der man üblicherweise nicht derart förmlich umging, hatte sich ein wenig an seiner Zurückhaltung gestört, also hatte sie bald damit begonnen, zu versuchen, ihn aus seiner vorsichtigen Reserve zu locken, und sie hatte Erfolg damit gehabt, sehr großen Erfolg sogar. Tony hatte sich heftig in sie verliebt, hatte es ihr eines schönen Tages verzweifelt gestanden, und sie war so beeindruckt gewesen von seiner Offenheit und seinen aufrichtigen Gefühlen, dass sie sich tatsächlich, trotz allem, dazu herabgelassen hatte, mit ihm zusammen zu sein. Damals hatte sie sich selbst überrascht mit dieser Entscheidung und manchmal konnte sie es heute noch nicht glauben, wenn sie sich erinnerte, was im letzten Sommer in ihrem Leben vorgefallen war.

„Wir brauchen die Stunden ohnehin nicht mehr,“ seufzte sie. „Wir wollen am Freitag mit meinem Vater sprechen, dann wird er endlich alles erfahren, und wenn er das tut, dann besteht die nicht allzu geringe Chance, Tony, dass er mich niemals wieder in deine Nähe lässt.“

Guinievaires Verlobter nickte lediglich bedächtig, als er beide Pferde vor den schwarzen Toren, die sie endlich erreicht hatten, anhielt.

„Vielleicht sollte ich jetzt sofort mit ihm reden,“ schlug er wieder einmal vor. „Am Freitag wird es so unruhig sein, und vielleicht wird er sich überfallen fühlen.“

Er war zu zuversichtlich, das hatte Guinievaire schon oft an ihm bemängelt, aber wie sollte er auch wissen, was ihn erwartete, wenn er in zwei Tagen Hastings House zum ersten Mal betrat? Er kannte ihren Vater nicht wirklich, und er hatte keine Ahnung, welch unerhörten Ärger Guinievaire ihm in der Vergangenheit immer wieder bereitet hatte. Tony glaubte, Mortimer Hastings würde empfänglich sein für seine Liebesschwüre und Versprechungen, und sein Herz würde sich erweichen ob ihrer hinreißenden Geschichte vom reichen, armen Mädchen und ihrem verständnisvollen Reitlehrer.

Guinievaire wusste es besser. „Tony, du musst mir vertrauen in dieser Sache. Wenn wir es meinem Vater am Freitag sagen, dann wird er gute Laune haben und zugleich nicht viel Muße, um zu überlegen und er wird sehen können, dass du inzwischen ein angesehenes Mitglied der gehobenen Gesellschaft bist. Wenn du ihn jetzt triffst, dann bist du nur der Stallbursche.“

Im letzten Monat hatte Guinievaire hart gearbeitet an Tony. Bisher war er hochmütig gewesen auf seine eigene, ganz spezielle Art und Weise und hatte nicht viel auf die Menschen gegeben, die ihr zu Füßen lagen, aber wenn sie tatsächlich auch nur eine winzige Chance haben wollten, dann musste er in Zukunft eine relevantere Rolle in der Stadt spielen. Ihr Vater würde sich nicht alleine von seinem Reichtum beeindruckt zeigen. Tony musste auch Kontakte vorweisen können, also hatte Guinievaire ihm Anzüge gekauft und hatte dafür gesorgt, dass er sein Haar schnitt, um ihn dann strategisch klugen Persönlichkeiten als neuesten, lieben Freund der Familie vorzustellen. Glücklicherweise war Tony offen und stets bemüht und konnte durchaus recht charmant sein, wenn man ihn dazu zwang, also waren sie bisher erstaunlich erfolgreich gewesen. Man erkannte ihn hin und wieder im Theater und manchmal wurde ihm sogar die Hand geschüttelt.

Am Freitag fand ein Fest in Hastings House statt, das ihr Vater geplant hatte, und diesen Anlass hatte sie nach der fieberhaften Vorbereitung zur perfekten Gelegenheit erklärt, denn sie gerieten nun langsam, aber sicher unter Zeitdruck, also musste das öffentliche Geständnis bald geschehen. Und wenn sich hunderte von Menschen in ihrem Haus versammelt hatten, dann konnte Mr Hastings keine Szene machen oder gar ausfällig werden, wenn es also eine Chance für sie gab, dann gab es sie in zwei Tagen, selbst wenn sie nach wie vor natürlich nur verschwindend gering sein würde. Sie mochten einen Plan haben, aber sollte auch nur eine winzige Kleinigkeit anders geschehen als sie es erwarteten, konnte die Hölle gnadenlos über ihren unschuldigen Köpfen hereinbrechen. Tony wusste jedoch auch das nicht, denn sie hatte ihm die meisten entscheidenden Details verheimlicht.

Einer der Burschen kam nun endlich den grauen, geschwungenen Kiesweg herauf, um dem Fräulein das Tor zu öffnen, wie er es schon vor Minuten hatte tun sollen. Guinievaire warf ihm einen finsteren Blick zu, denn ihre Stimmung war – wie immer, befand sie sich in der Nähe von oder gar in Hastings House – bedeutend schlechter geworden. Wenn man dieses Ungetüm vor sich hatte, dann konnte man ganz einfach nicht zuversichtlich bleiben. Sogar Tony schien unter seinem schwarzem Einfluss zu leiden. Er blinzelte lediglich nervös und nickte etwas niedergeschlagen. Wie sie wollte er es einfach nur hinter sich wissen, das große Gespräch, die alles entscheidende Konfrontation. Diese Wochen in der Schwebe, sie waren sie beide leid.

Kühle, schwere Tropfen begannen vereinzelt vom verschlossenen Himmel zu fallen, als Guinievaire schließlich eingelassen wurde. Napoléon scharrte erfreut mit einem seiner Hufe als wisse er, dass er von seiner ungeliebten Reiterin bald schon erlöst war.

„Mr Ford, vielleicht sehen wir uns morgen Abend im Theater,“ sagte Guinievaire und benutzte dabei einen Tonfall, dessen sie sich immer bedienen musste, sprach sie vor anderen mit Tony. „Auf Wiedersehen.“

Sie hob den Kopf und streckte das Kinn, dann spitzte sie die Lippen. Sie durfte es ihm niemals sagen, aber wenn Guinievaire so war, kühl, abweisend, hochmütig, dann fühlte sie sich am wohlsten.

„Es war mir wie immer eine Freude, Miss Hastings,“ erwiderte ihr Verlobter höflich wie eh und je und beugte sein Haupt ein wenig, um sich angemessen zu verabschieden. Im Gegensatz zu ihr war er dabei kein sonderlich guter Schauspieler. Er klang warm und verliebt, ob er sich dessen nun bewusst war oder nicht.

Guinievaire antwortete ihm nicht weiter, sondern trieb ihr Pferd durch das Tor, während Tony das seine wenden ließ, um dann in einem wesentlich schnelleren Tempo den Weg zurückzunehmen, den sie gekommen waren, durch den langsam stärker werdenden Regen hindurch. Er sah sich nicht noch einmal nach ihr um, und sie tat es auch nicht, stattdessen glitt sie wenig elegant vom hohen Rücken ihres mächtigen Ungeheuers, das der Bursche am Zügel hielt. Sie wies ihn im Vorbeigehen an, sie in Zukunft nicht mehr warten zu lassen, denn sie habe andere Termine als den ganzen Tag im Heu zu verschlafen, dann erfreute sie sich ein wenig an der Tatsache, dass sie sich wieder auf fester Erde befand und ging zumindest etwas erleichtert darüber dem Tod eine weiteres Mal entgangen zu sein, zurück zum Haus.

Die massiven, dunklen Holztüren öffnete sie mit einem hohen Jammern, um sie hinter sich wieder ins Schloss fallen zu lassen, wo sie laut knallten und die bunten Fenster dazu brachten, solidarisch mit ihnen zu zittern. Dann war es still bis auf das Staccato ihrer Stiefel auf dem steinernen Boden der Eingangshalle. Guinievaire passierte das verhasste Standbild vom Amor und Psyche, das geschmacklos war und links neben der Treppe stand, und sie folgte dem burgunderroten Läufer, der die engen Stufen herablief wie ein blutiges Rinnsal und dabei ihre Schritte dämpfte, hinauf in den ersten Stock mit der niedrigen Decke und den engen Gängen. Wegen der überdimensionalen Ausmaße des großen Salons im Erdgeschoss war dieser Teil des Hauses, der nicht für Besuch vorgesehen war, bedeutend klaustrophobischer, schmaler und enger ausgefallen. Große Ölbilder von unattraktiven Landschaften in tristem Gelb und stechendem Rot hingen an den Wänden, und dies taten sie vermutlich schon seit Jahrhunderten. Guinievaire ließ die Finger gerne über ihre rauen Oberflächen gleiten, wenn sie an ihnen vorbeiging, um dann in ihr Zimmer auf der rechten Seite zu biegen. Ihr Vater saß vermutlich im kleinen Salon, den sie beide benutzten, und las die Zeitung. Wenn sie Glück hatte, dann musste sie ihn heute nicht mehr sehen und konnte sich ungestört den Kopf zerbrechen, wie sie es in Anflügen von Panik immer wieder tat in den letzten Tagen.

Guinievaires Zimmer hatte nichts gemein mit dem Rest des unheimlichen Hauses, weil es erst vor Kurzem renoviert worden war, um allein ihrem feinen Geschmack zu entsprechen. Die Tapeten an allen vier Wänden waren übervoll mit tausenden von pastellrosa Blüten und alles hier, das Mobiliar, der Boden, die Teppiche und die Dekoration, war bonbonfarben, glitzerte meist und war ausnehmend hübsch. Der süße Geruch ihres Parfüms hing immer in der Luft und in den schweren, pinken Vorhängen um das helle Fenster herum. Es gab ein großes Himmelbett und einen Sekretär, außerdem einen Schminktisch und eine Türe hinüber in ihr begehbares Ankleidezimmer, das beinahe noch einmal so groß war wie der eigentliche Raum. Seitdem alles neu war, hatte sie sich eigentlich beinahe gerne hier aufgehalten, aber in letzter Zeit war es schwierig für sie geworden, leider. Ein weiterer Grund, aus dem sie ausziehen wollte: alle Erinnerungen, die sie an dieses Zimmer banden, taten ihr lange nicht mehr gut.

Seufzend löste Guinievaire ihren Hut aus ihrem etwas nassen Haar und verpackte ihn behutsam in seiner Schachtel, die in einem Regal in der Garderobe aufbewahrt wurde, zwischen zahllosen weiteren Hüten und Accessoires, Kleidern, teuren Abendroben, Jacken, Handschuhen und Schuhen. Sie knöpfte ihren Mantel auf und platzierte ihn wieder ordentlichst auf seinem Bügel, um dann zurückzukehren in ihr warmes Zimmer, wo sie sich erschöpft auf ihre herrlich weiche Matratze fallen ließ, die ihr jedoch leider keinen Trost spenden konnte in diesen erschöpften Minuten. Wann immer Guinievaire alleine war und nicht für Tony voller Zuversicht lächeln musste, da holten ihre Sorgen sie schnell ein. Es ging ihr grauenhaft seit einigen Wochen, sie konnte aber nicht mit ihm besprechen, warum, und es ging ihr nicht besser, als sie ein Blatt Papier, das sich als ein Brief an sie herausstellte, fand, während sie sich müde nach hinten fallen ließ und dabei dramatisch seufzte.

Die lange gezogenen und elegant geschwungenen Lettern darauf waren leicht zu identifizieren. Wissend, dass er nur schlechte Nachrichten enthalten konnte, öffnete Guinievaire ihn dennoch, denn um den Freitag einigermaßen unbeschadet überstehen zu können, musste sie auch um die kleinste Eventualität wissen. Alex hatte geschrieben. Er und Cici würden kommen, denn Guinievaires Vater hatte sie eingeladen und sie wisse doch, dass die beiden gute Freunde waren. Guinievaire verdrehte die Augen an diesem Punkt, selbst wenn keiner es sehen konnte. Außerdem, so schrieb er, habe er sie lange nicht gesehen und nun etwas mit ihr zu besprechen. Großartig. Das hatte Guinievaire auch.

Sie erhob sich und legte den Brief zu den anderen in ihrem Sekretär, zu den Schreiben und den Kärtchen, die sich alle durch ihre außergewöhnliche Kürze auszeichneten. Alex benutzte nicht gerne viele Worte und zumeist brauchte er sie auch nicht – seine Art der Kommunikation war dennoch immer bemerkenswert effektiv. Die Sonne sank herab auf die flachen, alten Dächer der Nachbarschaft, wobei sie nur eine vage Andeutung von schmutzig orangem Licht war hinter dichten, festen Wolken. Es regnete noch immer, wenn auch etwas halbherzig. Tony war vermutlich noch nicht zu Hause, und sein Haar würde ihm mittlerweile unordentlich in die Stirne hängen, und er würde sich an der Freiheit und Reinheit des Regens erfreuen, wohl wissend, dass Guinievaire sich, wäre sie noch bei ihm, nur beschwert hätte. Er ertrug viel mit ihr, aber er hatte die Geduld eines Engels. Es sollte ihr wirklich besser gehen mit ihm, und sie sollte öfter dankbar für ihn sein.

Trotzdem, in diesem Moment, in dem das letzte Licht des Tages schwand, war Guinievaire einfach nur mehr als beunruhigt, denn sie konnte immer nur an Freitag denken, an den Tag, an dem sich alles entscheiden würde, was sich in den letzten Monaten aufgebaut hatte. Alex und Cici würden kommen. Guinievaire sprach nicht mehr mit Cici, aber sie würde Alex und Tony einander vorstellen müssen. Immerhin war Alex ihr bester Freund, und außerdem war man nichts in London, und bemühte man sich noch so sehr, zählte man nicht Lord Alexander Lovett zu seinen Bekannten, dies wusste niemand so gut wie sie selbst. Vicky würde natürlich auch da sein – Vicky war Guinievaires beste Freundin – aber sie verstand sich nicht sonderlich gut mit Tony, leider und unverständlicherweise. Vermutlich war sie ihm gegenüber misstrauisch, denn Vicky war stets schrecklich vernünftig, und an Guinievaires Verlobung mit Tony war absolut gar nichts Vernünftiges. Als wäre all dies noch nicht genug, war da zudem noch Snooze, der nach wie vor noch nicht aufgegeben hatte. Was, wenn er ausgerechnet am Freitag die Zügel in die Hand nahm, wie er es schon seit hunderten von Wochen hätte tun können? Damit würde er sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt auswählen, also war diese bedrückende Vorstellung vermutlich ganz und gar nicht abwegig.

Nun, was sollte sie sich weiter den Kopf zerbrechen, versuchte Guinievaire sich abzulenken, aber sie würde es doch tun, bis in die dunkle Nacht hinein. Vielleicht würde sie später sogar trotz der Kälte das Fenster öffnen und hoffen und sich selbst dafür hassen, und dann würde sie wieder all die vielen Entscheidungen, die sie getroffen hatte und die sie an diesen Punkt geführt hatten, hinterfragen und damit beginnen sich zu wundern, wann ihr Leben ihr entglitten war, und dann würde sie weinen und dann würde sie sich trösten und sich an Tonys Hufeisen klammern und sich immer wieder sagen, dass sie ihn liebte und das alles besser werden würde, wenn sie nur endlich wirklich mit ihm zusammen sein konnte. Ob sie sich selbst glauben würde, das wusste Guinievaire noch nicht. Manchmal tat sie es, manchmal war sie sich sicher, dass sie sich nur anlog.

Wäre es doch nur einfacher! Wäre es nur so, wie es den Anschein erweckte, dann müsste sich sich nicht so sehr quälen und nicht so viele tiefe Falten riskieren, die sich aus Sorge in ihre wertvoll jugendliche Stirn bohrten. Wenn es doch nur wäre wie in tausend anderen, ähnlichen Geschichten: das reiche Mädchen hatte sich verliebt in den armen – nun, nicht wirklich – Jungen mit dem Herzen aus Gold, aber die Welt stellte sich gegen sie. Wenn dies nur ihre geringste Sorge wäre! Das war es aber nicht, ganz und gar nicht.

 

 

Den ganzen, langen Tag hatte es geregnet, aber nun, wo es dunkel war, hatte es endlich aufgehört, zumindest für eine kurze Zeit, und Tony war dankbar dafür, denn er durfte sich unter keinen Umständen die Frisur ruinieren oder Guinievaire wäre zornig mit ihm und würde sich wieder einmal beschweren, dass er nicht präsentabel war. Tony hatte sie gestern erst gesehen, aber wenn er daran dachte, wie sie ihm mit zuckenden Lippen die Locken zurecht strich, vermisste er sie sehr. Er sah sie einfach viel zu selten, dieser Meinung war er schon immer gewesen, seitdem er sie zum ersten Mal aus der Nähe hatte betrachten können.

Es war Donnerstag Abend, und wie besprochen befand Tony sich auf dem nassen Weg zum Theater, zusammen mit zahlreichen anderen Menschen in dunklen Anzügen und Mänteln aus totem, übelriechendem Tier. Eigentlich konnte er diese Art von Gesellschaft nicht ausstehen, aber heute war er auf den ersten und vermutlich auch auf den zweiten Blick nicht zu unterscheiden von ihnen: er trug die leisen, glänzenden Schuhe, die man ihm poliert hatte, sein Jackett war eng und unbequem, nur auf seine Jacke hatte er bestanden, war sich dabei aber sehr wohl bewusst, dass er sie abgeben musste, bevor er Guinievaire traf, denn sie konnte sie ganz und gar nicht ausstehen. Tony seufzte und starrte auf den Boden, um sich den lächerlichen Strom von Menschen nicht länger ansehen zu müssen. Er hatte das Gefühl, seine Krawatte erwürge ihn, wie immer wenn er sich in vornehmen Kreisen befand. Eine ganze Ewigkeit hatte er vorhin gebraucht, um sie korrekt anzulegen, obwohl Guinievaire ihm zahllose Male gezeigt hatte, wie man sie band. Wie sie all diese winzigen, belanglosen Dinge beherrschte, die in ihrer Welt so wichtig waren! Dass sie wusste, wie man einem Mann die Krawatte band oder dass sie ihm seine Hemden kaufte und seine Frisur diktierte. Für Guinievaire war dieses Spiel ein Leichtes, und sie war dabei unbestreitbar effektiv: Tony hatte seinen Namen in den letzten Wochen sogar einige Male in der Zeitung lesen können. Manchmal wurde er auf der Straße nach dem werten Befinden gefragt und dann sollte er dem geschätzten Vater doch bitte schöne Grüße ausrichten, und all dies nur, weil sie ihn einmal vorgestellt hatte, ganz nebenbei mit einer kleinen Handbewegung. Sie hatte magische Fähigkeiten. Wenn die Menschen sie ansahen, dann ließen sie sie niemals aus den Augen, als sei sie das faszinierendste Geschöpf auf der Erde. Nun, wenn man es recht bedachte, dann war sie eben dies vermutlich auch. Tony spielte ihr Spiel, er versuchte es zumindest, aber so brillant wie sie würde er darin niemals sein, und wenn er ehrlich war, dann wollte er das auch nicht. Diese Welt, Guinievaires Welt, er konnte sie nicht so ernst nehmen, wie sie es stets von ihm verlangte. Sie war vergänglich und oberflächlich, und sobald Tony und Guinievaire verheiratet waren, hatte er vor, ihr wieder gänzlich den Rücken zu kehren. Er war fest davon überzeugt, dass seine Liebste davon ebenfalls profitieren würde.

Denn was war ihr Leben bisher anderes als ein perfekt inszeniertes Schauspiel? Die Szenerie war vollkommen: Guinievaire Hastings war jeden Tag auf einer anderen Party von jungen Männern umringt, die sie bewunderten, sie lächelte, sie trank, dann lachte sie laut, warf das Haar zurück und sagte dumme Dinge. Man liebte sie dafür, vergötterte sie sogar und begehrte sie tausendfach. Aber die Menschen wussten nicht, dass sie nur spielte, wenn sie die Wimpern flatterte und an ihrer Zigarette zog. Tony hingegen kannte die echte Guinievaire, die er gefunden hatte, weil er, anders als der Rest von London, nach langer Zeit und vielen Mühen hinter ihre Fassade hatte sehen dürfen. Sie war unvorstellbar klug und gewitzt, hatte eine beeindruckende Kenntnis von Kunst und Musik, sie konnte sehr still sein und nachdenklich, und sie las in großen Mengen. Sie war nicht nur schön. Sie war mehr als die Eiskönigin, wie man sie in der Stadt unpassenderweise rief, nämlich weil Guinievaire bisher vielen Männern das Herz gebrochen hatte, die sich um sie bemüht hatten. Einzig Tony war ihr jemals zu nahe gekommen, der mehr als glücklich war über diese Tatsache, aber er musste sich mit ihr nicht brüsten.

Inmitten eines runden, grünen Platzes stand das Theater, ein symmetrisches Gebäude aus hellem Sandstein, elegant, aber wenig überraschend. Unendlich viele Menschen strömten hinein, und Tony folgte ihnen recht widerwillig. Er liebte das Theater, aber dieses Haus besuchte er eigentlich niemals. Guinievaire hatte es ausgesucht. Oberflächlich gesehen hatten sie meist die gleichen Interessen, aber ihr Geschmack unterschied sich manchmal auf eine bemerkenswert widersprüchliche Art und Weise. Tony glaubte nicht daran, dass eine Bühne als charakterbildende Instanz gekleidet sein musste in weißen Marmor und Gold und Kristall. Es musste keine Pause geben, ginge es nach ihm, nur um unwichtiges Geschwätz auszutauschen und Alkohol zu konsumieren. Guinievaire jedoch liebte all dies, sie liebte den Pomp und mehr noch liebte sie den Champagner oder zumindest gab sie das vor.

Von der geräumigen, aber zugigen Eingangshalle aus führten zwei breite, geschwungene Treppen hinauf in die Ränge, zu den Logen und zu dem großen Saal. Tony erklomm die linke, nachdem er seine Jacke an der Garderobe abgegeben hatte, seine Hand fest um das goldene Geländer geklammert, um die Menschenmassen, die ihn umgaben, so gut wie möglich zu umgehen. Er hasste derartige Ansammlungen, hasste das Publikum hier, nicht nur im Kollektiv, sondern auch jeden einzelnen von ihnen individuell. Lange genug lebte er nun schon unter ihnen, aber er war immer ein Außenseiter geblieben aus freien Stücken heraus, denn allesamt waren sie stolz und altmodisch, nutzlos und überholt, reich und selbstherrlich. Wie sehr er sich danach sehnte, vor ihnen zu fliehen! Wenn Guinievaires Vater morgen endlich sein Einverständnis gegeben hatte, dann würde Tony damit beginnen, sich nach einem Haus auf dem Lande umzusehen. Für seine neue, kleine Familie wünschte er sich nichts mehr als Frieden.

Ein dunkler Flur mit einer hellblauen Tapete aus teurem Stoff führte zu den Sitzen im ersten Rang. Tony folgte der leichten Kurve, die er machte, bis zum Ende, wo es eine beinahe unsichtbare Türe in der Wand gab, neben der ein goldenes Schild prangte, auf dem in langen Lettern Guinievaires Nachname geschrieben stand. Hoffnung und Zuversicht machten sich breit in ihm, als er die goldene – war denn alles hier aus Gold? Als würde irgendetwas wie durch Zauberhand besser, solange es nur aus diesem wertlosen Material bestand! – Klinke drückte. Leise trat er schließlich ein.

In der quadratischen Loge der Familie Hastings, die nach vorne elegant abgerundet war und einen vollendeten Blick auf die Bühne bot, außerdem auch auf das Parkett und die gegenüberliegenden Logen im ersten und zweiten Rang, gab es vier bordeauxrote Sitze. Dimme Lichter flackerten noch an der Wand, während die Besucher nach ihren Plätzen suchten, Guinievaire jedoch saß bereits auf dem ihren, dabei hatte sie sich nach vorne gelehnt, um die vielen Menschen besser beobachten zu können. Ihre weißen Arme ruhten auf der gepolsterten Brüstung, außerdem hatte sie Tony den Rücken zugekehrt und schien ihn nicht gehört zu haben, als er eingetreten war, immerhin füllte ein beständiges und recht lautes Raunen das gesamte Theater. Dankbar nutzte er also diesen kleinen Moment, um sie ein wenig zu bewundern.

Er war sich der Tatsache bewusst, dass seine Liebe für dieses Mädchen absolute Hingabe war oder sogar noch etwas weitaus Ungesünderes, aber dem hatte er sich lange ergeben. Er war machtlos dagegen gewesen seit dem Tag, an dem sie gemeinsam mit ihrem Vater Napoléon gekauft hatte, und Tony ihr zum ersten Mal begegnet war. Damals hätte er niemals damit gerechnet, dass er sich ausgerechnet in Guinievaire Hastings unsterblich verlieben würde, denn er hatte immer geglaubt, dass sie zu jener Art Mädchen zählte, wie er sie üblicherweise verabscheute. Sie hatte ihn jedoch eines Besseren belehrt, und nun war er vorsichtig von ihr besessen, wobei er nach wie vor fassungslos darüber war, dass sie ihn tatsächlich erhört hatte. Dabei glaubte er, dass sie dies getan hatte, eben weil Tony sie rückhaltlos anbetete. Guinievaire wollte bewundert werden, also tat er ihr gerne diesen Gefallen, denn im Gegenzug bekam er sie zur Frau, bekam er Küsse und liebe Worte und sie lächelte für ihn – sie beide hatten sich bestens arrangiert.

Als er von einem Fuß auf den anderen trat, ächzte das Parkett unter seinen leisen Schuhen, womit er sich schließlich doch verriet. Guinievaire drehte den Kopf und sofort lag ihr Blick auf ihm. Ihre Mundwinkel glitten nach oben, als sie ihn sah, sie strahlte und dann neigte sie den Kopf ein wenig auf die Seite.

Tony legte eigentlich keinen besonderen Wert auf derartige Oberflächlichkeiten, aber Guinievaire war ein ausnehmend schönes Mädchen, wobei ganz bestimmt nicht nur er dieser Meinung war, denn sie war nicht auf eine spezielle Art und Weise attraktiv, aus dem rechten Winkel gesehen, und man musste auch nicht um ihren bestechenden Charakter wissen, um die Hülle schätzen zu können. Sie war ein Ideal, was ihre Erscheinung betraf: sie war recht groß für ein Mädchen, ebenso groß wie Tony, der leider nicht sonderlich hoch gewachsen war. Weiße, transparente Haut zog sich über ihre Knochen, die manchmal spitz hervorragten – ihre Knöchel zum Beispiel, ihre Schultern und ihr Schlüsselbein – meist aber wieder unter ihren weichen Formen verschwanden. Sie hatte lange Beine und eine außergewöhnlich schmale Taille, die stets fester verschnürt war als die anderer Mädchen. Dazu im direkten Kontrast standen ihre Hüften und vor allem ihr Busen, mit dem sie sich leider selten die Mühe machte, ihn anständig zu bedecken – sie trug stets die teuersten Roben der Stadt und wurde viel bewundert dafür, selbst wenn Tony sie meist etwas zu gewagt fand. Heute trug sie Gold – natürlich tat sie das. Sommersprossen bedeckten ihre Arme und ihre Schultern, ihr Rücken hingegen war weiß wie Porzellan, um ihren Hals hingen schwere Edelsteine wie fast immer, denn sie verfügte über eine beeindruckende Sammlung von teuren Geschmeiden aus Diamanten und Rubinen, sie baumelten von ihren Ohren oder um ihre schmalen Handgelenke. Alles an Guinievaire war kostspielig. Wenn man sie ansah, dann hatte man nicht das Gefühl, sie anfassen zu können, was wiederum ein guter Grund war, warum man sie Eiskönigin rief. Auch ihr Gesicht war kühl, zugleich aber ihr größter Vorzug. Sie hatte bleiche Augenbrauen und Augen grün wie Moos und Tannennadeln, mit langen, schwarzen Wimpern und Lidern, die beinahe silbern glänzten. Ihre Nase war perfekt und gerade und ihre Lippen klein, aber voll und gerade genau so, wie ein jeder Maler sie in seinen Musen suchte. Mit ihren hohen Wangenknochen und ihrem Kiefer, ihrem schmalen Kinn und ihrer glatten Stirn hätte man sie auf jedem Tizian-Gemälde finden können. Und dann war da noch ihr Haar. Wenn sie ausging, dann musste sie es hochstecken und zurück binden, aber wenn Tony sie nur für sich hatte, dann durfte er es in seinem vollen, duftenden Ausmaß bewundern. Es reichte hinab bis zu ihrer Taille, war voll und weich und glänzte und dabei war es strahlend rot wie Herbstlaub, wie Backstein, wie die Mähne des schönsten Fuchses, den Tony jemals gezüchtet hatte. Seitdem er sie kannte, suchte er bereits nach einem passenden Vergleich für diesen, ihren Ton. Guinievaire war einzigartig schön in einem Ausmaß, dass niemand, der sie ansah, diese Tatsache verkennen konnte, selbst Tony nicht.

„Guten Abend, Mister Ford,“ sagte sie lächelnd. „Was soll ich davon halten, dass sie sich still und heimlich in Privatlogen schleichen?“

Tony nahm eilig neben ihr Platz, dann streckte sie die langen, dürren Finger aus, an denen zehn große, bunte Ringe saßen und er drückte sie glücklich. Natürlich durften sie sich in der Öffentlichkeit nicht verraten, aber Tony hatte eigentlich niemals das Gefühl, jemand verdächtige sie.

„Wie geht es dir?“ fragte er umsichtig.

Guinievaire seufzte und ließ sich gegen die Lehne fallen. „Fabelhaft,“ erwiderte sie, wobei Tony nicht ganz klar wurde, ob sie nun sarkastisch war oder nicht. „Aber das Stück soll hervorragend sein, habe ich gehört.“

Sie pausierte und musterte ihn genau mit ihren grünen Augen. Wieder einmal sah sie beinahe ein wenig traurig aus, wie es Tony in letzter Zeit oft auffiel bei ihr, aber egal was er versuchte, sie sprach nicht darüber. Manchmal konnte sie frustrierend verschlossen sein, vor allem für ihn, der sich so sehr darum bemühte, ihre Gefühle zu kennen und ihre Sorgen zu teilen. Manchmal ließ sie das zu, aber selbst wenn sie sich ihm ein wenig öffnete, hatte Tony doch zugleich immer das Gefühl, dass sie genau kalkuliert hatte, was sie ihm erzählte und was nicht, nur um ihn für eine Weile zufrieden zu stellen. Guinievaire gab sich Mühe in dieser Beziehung und sie gab sich große Mühe, ihren Kummer zu verbergen, aber sie konnte Tony nicht täuschen. Er hatte sie verstanden, er kannte sie, er wusste, was in ihr vor sich ging. Sie litt unter dem Leben, das sie führen musste, selbst wenn sie es nicht zugeben mochte.

„Wie geht es dir?“ erkundigte sie sich, vermutlich um abzulenken.

„Ich weiß nicht,“ meinte Tony, nachdem er ernsthaft über diese Frage nachgedacht hatte. „Ich bin kein sonderlich großer Freund von Menschenansammlungen, das weißt du. Und vor allem diese Menschen hier sind mir ein Graus. Die meisten von ihnen sind ohnehin nur hier, um ihre Abendgarderobe auszuführen.“

„Das ist ein sehr hübscher, neuer Anzug, den du da trägst, Tony,“ grinste Guinievaire zur Antwort.

Abwehrend hob er sofort eine Hand. „Ich muss immerhin versuchen, gut auszusehen neben dir, damit ganz London endlich erkennt, wie hervorragend wir zusammen passen,“ rechtfertigte er sein glattes Auftreten.

Sein hübsches Gegenüber machte ein ergriffenes Geräusch. Sie legte ihre freie, lange Hand auf ihr Schlüsselbein, als sie antwortete.

„Du klingst beinahe arrogant,“ seufzte sie. „Ich bin stolz auf dich.“

Guinievaire war arrogant, daran konnte kein Zweifel bestehen, und dies war auch kein Charakterzug, den sie nur spielte, weil er chic war. Sie trug ihr Kinn hoch, denn sie hatte allzu offenbar jegliches Recht dazu, zudem ließ sie andere Menschen gerne spüren, dass sie ihnen überlegen war. Mit Personal sprang sie um, als handle es sich bei ihnen um dressierte Affen, und mit anderen Mädchen in ihrem Alter wechselte sie bis auf eine Ausnahme niemals ein Wort. Sie spottete über jeden, der nicht ihr Maß an Perfektion erreichen konnte und sie hatte niemals ein Einsehen. Wie oft hatte Tony schon versucht, sie zu mehr Bescheidenheit und Freundlichkeit zu bewegen? Guinievaire war gnadenlos geblieben. Es war keiner ihrer schönsten Züge.

Dennoch, Tony sah die meiste Zeit darüber hinweg, dass sie unter ihrer funkelnden Hülle nicht vollkommen war. Wie könnte er dies auch von ihr erwarten? Sie drückte seine Hand und er hätte sie gerne geküsst, aber wie immer mussten sie sich in Zurückhaltung üben. Also sahen sie sich in die Augen und lächelten und gaben vor, dies sei ihnen genug.

Die Tür öffnete sich derweil wieder und diesmal drehten sowohl Tony als auch Guinievaire sofort die Köpfe. Victoria Anderton trat ein, die Guinievaires beste und einzige Freundin war. Er kannte sie schon seit längerer Zeit. Sie war ein nettes Mädchen.

Und außerdem passte sie genau zu Guinievaire, denn Vicky war das einzige Kind eines wohlhabenden Vaters, Alleinerbin, sie war dürr und schön auf eine andere Art als Guinievaire, sie feierte ebenso viel wie sie, aber dabei gab sie gerne vor, sie stünde über jenem vergänglichen Lebensstil ihrer engsten Freunde, was sie natürlich nicht tat. Sie war arrogant wie Guinievaire es war, dabei aber bedeutend unsicherer und misstrauisch bis auf die Knochen. Dass ausgerechnet sie die beste Freundin seiner Verlobten war, war zugleich auch ein unglücklicher Zufall, aber leider schien Tonys Angebetete kein glückliches Händchen mit der Auswahl ihrer liebsten Vertrauten zu haben, und immerhin gab es auch einige gute Seiten an Vicky – sie war vertrauensvoll, vernünftig, sehr klug und ruhig – was man von Guinievaires anderem, stetigem Begleiter ganz und gar nicht behaupten konnte. Tony mochte nicht an ihn denken. Er vergaß sogar sehr gerne, dass Guinievaire überhaupt Umgang mit ihm pflegte.

„Guten Abend,“ sagte Vicky mit ihrer bedachten, langsamen Stimme. Sie nahm Platz hinter ihrer Freundin, die daraufhin Tonys Hand fallen ließ und sich umdrehte zu ihr, um die Arme auf ihrer Lehne abzulegen. Guinievaire verehrte ihre beste Freundin, während diese im Gegenzug heimlich neidisch war, sie liebten einander und sie stritten sich dennoch beinahe ständig. Tony hatte viel über ihre komplexe Beziehung nachgedacht, aber bisher hatte er sie noch nicht wirklich verstanden, wobei er jedoch nicht das Bedürfnis hatte, sich zu sehr einzumischen. Vielmehr hielt er lieber Abstand von Vicky und Guinievaires übrigen Freunden. Er wollte nicht wirklich zu ihnen gehören.

Vicky schenkte ihrer Freundin ein halbherziges Lächeln mit ihren langen Lippen, dann nickte sie Tony zu, mit Verachtung in ihren dunklen Augen. Sie konnte ihn nicht ausstehen, das wusste er. Sie hatte ihre Gründe.

„Hat Cici dir geschrieben?“ fragte sie dann Guinievaire, womit sie sich ab sofort wieder einmal in ihrer eigenen, kleinen und reichen Welt befanden, von der Tony nichts verstand. Für ganz London gab es dabei nichts Interessanteres als Guinievaire, Vicky, Cecilia Sharp und die Vielzahl an weiteren, reichen Erben, die ihre Clique komplettierten, aber Tony hatte sich niemals etwas aus Klatsch und Tratsch und brennenden Gerüchten gemacht. Tatsächlich wollte er nichts davon wissen. Er floh, wenn sich andere den Mund zerrissen.

„Nein, das hat sie nicht,“ antwortete seine Verlobte bitter. „Aber Alex hat mir mitgeteilt, dass sie morgen kommen werden.“

„Hast du mit ihm gesprochen?“ wollte Victoria sofort wissen.

„Er hat mir einen Brief geschickt. Sie wollten sich wohl erst häuslich einrichten,“ gab Guinievaire zurück.

Victoria nickte verständnisvoll. Tony war derweil kaum bekannt, wovon sie sprachen, denn Guinievaire hatte sich niemals die Mühe gemacht, ihm die Verhältnisse in ihrem Freundeskreis genauer zu erklären, selbst wenn er sie gefragt hatte, weil er bemerkt hatte, dass etwas sie zu belasten schien. Er wusste nur, dass sie sich mit ihrer anderen, ehemals besten Freundin Cecilia, oder Cici genannt, gestritten hatte. Diese hatte wiederum erst vor kurzem Guinievaires Freund Alexander geheiratet. Einen Monat lang waren sie in den Flitterwochen gewesen und nun waren sie scheinbar wieder in der Stadt.

„Snooze ist hier,“ verkündete Vicky dann in einem rasanten Themenwechsel, der wohl nur für die Mädchen Sinn machte. Plötzlich hatten sie Tonys volle Aufmerksamkeit.

Guinievaire ließ den Kopf auf ihre Hände sinken. „Verdammt, nein,“ fluchte sie. Tony konnte es nicht leiden, wenn sie das tat. „Ich werde mit ihm sprechen müssen in der Pause.“

„Ich würde ihn zu gerne endlich kennen lernen,“ meinte Tony.

Seine Verlobte hob ihr schönes Haupt wieder, um ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen. „Das sagst du jetzt,“ murrte sie. „Aber sobald du ihm gegenüber stehst, wirst du wir wünschen, du wärest sehr, sehr, sehr weit fort von ihm. Vertraue mir.“

Snoozes eigentlicher Name war Robert Doyle. Er war ein Marquis und ein alter Freund von Mr Hastings und außerdem war er schon vor Monaten in die Stadt gekommen, um Guinievaire den Hof zu machen, wobei er aber bisher wenig erfolgreich gewesen war und es vermutlich auch immer bleiben würde, denn seine Auserwählte konnte ihn unglücklicherweise auf den Tod nicht ausstehen. Guinievaire klagte oft über ihn, sie berichtete Tony, wie sie ihn beleidigte und wie schlecht sie ihn behandelte und dennoch, der Mann ließ sich nicht entmutigen von der großen Eiskönigin, er war also entweder schrecklich verliebt in sie oder er schuldete ihrem Vater einfach nur einen sehr großen Gefallen.

Endlich läutete nun eine dumpfe Glocke über ihren Köpfen. Die Menschen hatten nach langer Zeit und viel aufgeregtem Gerede zu ihren Plätzen gefunden und mussten nun die erste Hälfte des Stückes über sich ergehen lassen, bevor sie in der Pause weiter schwätzen konnten. Die Lichter gingen aus, und Tony lehnte sich in seinem Sitz zurück, besonders aufmerksam, um dem Rest der dummen Masse zu demonstrieren, wie man sich zu betragen hatte in einem so heiligen Gebäude wie einem Theater. Im Grunde hatte er keine großen Erwartungen an diese Produktion, aber er würde ihr dennoch seine volle Aufmerksamkeit schenken, selbst wenn er eigentlich nachdenken könnte über Snooze oder Vicky, und obwohl das schönste Mädchen der Stadt direkt neben ihm saß. Guinievaire beugte sich nach vorne, legte das Kinn in die Hände und ließ die Füße aus ihren teuren Schuhen gleiten.

In der Pause war es Tonys Aufgabe, die werten Damen, die sich unter die Menge gemischt und dabei angestrengt über die Inszenierung gestritten hatten, mit Alkohol zu versorgen. Er selbst trank nicht. Dass Guinievaire diesem Zeitvertreib mit einer derartigen Leidenschaft nachging, begrüßte er nicht eben, denn es war schlecht für ihre Gesundheit, dies hatte er ihr bereits erklärt, aber sie hörte schlicht und einfach nicht auf ihn. Sie tat, was sie selbst für richtig hielt, womit sie wiederum seine Bewunderung verdient hatte, denn sie war keines dieser Mädchen, dieser perfekt trainierten Debütantinnen, die ihren Vätern und jedem weiteren Mann mit etwas Geld in der Tasche aufs Wort gehorchten.

Der große Saal, in dem das Publikum sich geschlossen versammelt hatte, entsprach absolut jedem Klischee: ein golden glitzernder Kronleuchter baumelte unter einer tiefroten, schwer ausgeschmückten Decke, es gab Spiegel und Schnitzereien an den Wänden und das Parkett war zerkratzt, aber unvorstellbar aufwendig. Am Kopfende brannte ein Feuer in einem stattlichen Kamin und die großen, abgerundeten Fenster waren allesamt verschlossen, so dass die Luft, die hunderte Menschen atmeten, hitzig und unangenehm war. Über der barocken Pracht war die Funktionalität wohl leider vergessen worden, wie es viel zu oft der Fall war. Wenn man doch nur etwas moderner und klarer denken würde in London! Aber jene, die über das Geld verfügten, das Gesicht der Stadt zu verändern, bevorzugten nach wie vor alles Alte und Verstaubte, war es nur protzig, genau wie seine Verlobte es tat.

Es war ganz leicht, sie zu finden zwischen all den austauschbaren Gesichtern, die ihm hin und wieder zulächelten und anerkennend den Kopf senkten, denn Guinievaire verfügte nicht nur über einen ausgesprochen auffälligen Haarschopf, sondern sie hatte auch die Gabe aus jeder Masse deutlich hervorzustechen, ganz einfach weil sie sich absetzen wollte. Dies war eine Gemeinsamkeit, die sie hatten: sie beide waren nicht eben Menschenfreunde, nur dass Tonys Ablehnung sich allein auf die Menschen in diesem Raum beschränkte, die Reichen. Guinievaire hingegen mochte niemanden wirklich, sie wusste diese Tatsache jedoch zugleich auch weitaus besser zu verbergen als Tony, denn so wie sie ihr Leben bisher gelebt hatte, war sie auf die Gunst der breiten Öffentlichkeit angewiesen gewesen, ob sie diese nun schätzte oder nicht. Er hatte sie im Gegensatz dazu schon immer offen verachten dürfen, bis vor Kurzem eben. Er seufzte ein wenig, als er sich wieder einmal für einen klaren Moment bewusst wurde, wo er sich befand und was er tat, dann streckte er die Ellbogen, griff die Gläser fester und kämpfte sich zu seiner geliebten Verlobten vor. Er tat dies alles für sie, und schon bald würden die Tage kommen, an denen sie ihm seine Geduld lohnen würde.

Vicky war natürlich bei Guinievaire, aber auch ein Herr in einem mattgrauen Anzug hatte sich zu ihnen gesellt. Tony kannte ihn sofort, wenn er ihm bisher auch nur einige Male begegnet war und man sie einander noch nicht vorgestellt hatte. Er hatte zu viel über ihn hören müssen, um nicht sofort zu wissen, dass es sich bei dem großen, dürren Mann um den Marquis Robert Doyle handeln musste, der aschblondes Haar hatte und graue Augen, und dem entweder das heiße Feuer des Kamins oder aber Guinievaires überaus finsterer Blick zu schaffen machte in diesen Minuten. Schweiß perlte auf seiner Stirn und seine Gesten wirkten zutiefst nervös. Tony war sehr neugierig auf ihn.

Als er sich zu der kleinen Gruppe gesellte und den Damen galant ihre Getränke reichte, war seine Liebste bereits übelster Laune. Ihre Augenbrauen verdunkelten ihr hübsches Gesicht und sie biss fest auf ihre rote Lippe, sobald sie also ihr Glas Champagner in den Fingern hielt, setzte sie an und stürzte den prickelnden Inhalt mit einer bestimmten Bewegung in einem Zug ihre Kehle hinunter, dann atmete sie tief ein.

„Marquis, dies ist Anthony Ford, ein Freund der Familie, sie haben vielleicht bereits von ihm gehört,“ verkündete sie mit einer kleinen Handbewegung. Vicky beobachtete sie neugierig dabei.

Tony war diese Routine derweil bestens bekannt. Guinievaire schwenkte immer elegant das Handgelenk und sagte den immer gleichen Satz, dann lächelte sie sanft und dann stellte sie ihm im Gegenzug das Gegenüber vor, wobei sie ihre perfekten Manieren mit ihrem bezaubernden, voll und ganz künstlichen Charme kombinierte.

„Mr Ford, dies ist der Marquis Doyle, ein ehemaliger Schulkamerad meines lange verschollenen Bruders Thomas.“

Tony streckte die Hand aus und schüttelte die des Marquis, die sich als unangenehm feucht und beinahe sogar tropfend erwies. Überging man jedoch diese Tatsache, so machte er einen sympathischen Eindruck, selbst wenn Guinievaire unendlich oft über ihn klagte. Sein Blick war offen und freundlich, und er wirkte ganz und gar nicht herablassend, was sehr selten war in den Kreisen, in die Tony seit Neuestem eingeführt wurde.

„Ihrem Vater gehört die berühmte Zucht, nicht wahr?“ stammelte der Marquis. Er hatte offenbar schreckliche Angst, wobei es nicht schwer war zu erraten vor wem oder vor was. „Er leistet wirklich hervorragende Arbeit.“

„Dankeschön, Sir,“ nickte Tony mit einem Lächeln.

Diese Anmerkung war wenig originell gewesen, denn ein jedes Gespräch hatte bisher genau so begonnen: die Menschen lobten Tonys Vater und ihre Pferde und sie zeigten sich einigermaßen interessiert an der Zucht. Wenn sie ihm schließlich genügend geschmeichelt hatten, dann war es allein an ihm, sie auch für sich, für seine wertvolle Person, einzunehmen. Dann musste er sich besonders vorsichtig und vornehm ausdrücken, das Interieur loben und meist – so hatte Guinievaire ihm befohlen – musste es ihm auch gelingen, irgendwie anzumerken, dass er sehr, sehr reich war. Es war ein langweiliges Theaterstück, das seine Verlobte und er nun schon seit langen Wochen zur Aufführung brachten und ohne Zweifel war es dabei einigermaßen effektiv, aber dies bedeutete nicht, dass Tony sich gerne als Attraktion vorführen lies: seht euch den Stallburschen an, der sich die Haare kämmt und beinahe ist wie einer von uns! Ist es nicht entzückend, wie er sich bemüht? Nun, wieder einmal erinnerte er sich, bevor er bitter wurde: er tat es für Guinievaire, die anders war als alle anderen.

„Wie gefällt Ihnen das Stück?“ erkundigte Snooze sich dann. Tony dachte ganz automatisch von ihm als Snooze, obwohl er diesen unschönen Spitznamen eigentlich nicht benutzen wollte.

Er zuckte die Schultern. „Sehr gut, denke ich.“

Im Grunde gefiel es ihm ganz und gar nicht, aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass man nicht wirklich aufrichtige Kritik von ihm erwartete, stellte man ihm diese höfliche Frage. Der Marquis machte ein nachdenkliches Geräusch, während Guinievaire Vicky etwas ins Ohr flüsterte.

„Nun ja, ja,“ murmelte er. „Es ist ein sehr hübsches Bühnenbild.“

Tony wusste derweil, diese Einstellung war vollkommen irrational, aber der Marquis gefiel ihm, er mochte ihn bei genauerer Betrachtung sogar gut leiden. Natürlich wusste er, dass er Guinievaires Ehemann werden sollte, wenn alles nach Mr Hastings‘ strikten Plänen verlief, aber Tony machte sich keine Sorgen deswegen, denn wieso sollte er eifersüchtig sein? Eifersucht war ein irrationales Gefühl, besonders in diesem Falle, wo er doch wusste, dass seine Verlobte diesen Mann nicht ausstehen konnte und dass er ihr noch niemals zu nahe gekommen war. Außerdem hatte Tony ihn aufmerksam beobachtet und bisher hatte er Guinievaire in ihrem goldenen, knappen Kleid noch kein einziges Mal angesehen. Die meiste Zeit über vermied er dies sogar. Sie machte ihm Angst, aber ganz bestimmt ließ sie sein Herz nicht schneller schlagen. Tony konnte ihn sogar ein wenig verstehen. Nicht jeder Mann verliebte sich in Guinievaire Hastings.

Diese warf den herrlichen Kopf zurück und blickte wieder in die Runde, nachdem ihre private Unterredung mit ihrer besten Freundin beendet schien.

„Sind Sie bereits aufgeregt wegen morgen Abend, Miss Hastings?“ erkundigte Snooze sich bei ihr aus purer Höflichkeit und nicht etwa aus aufrichtigem Interesse. Dass er jedes einzelne Wort stotterte und dabei auf seine Finger stierte, zeigte, wie ungern er dies tat.

„Nein,“ erwiderte Guinievaire knapp.

„Ich höre, Ihre Freunde kommen von ihrer Reise zurück, Lord und Lady Lovett?“ bemühte er sich weiter, sinnloserweise natürlich.

Sein Gegenüber schien nun sogar ernsthaft erbost über seine harmlose Frage. Sie streckte das Kinn nach vorne und blinzelte heftig.

„Lord Lovett und Cecilia,“ korrigierte sie ihn, obwohl er nichts Falsches gesagt hatte, zumindest rein theoretisch. Tony konnte dem kleinen Streit nicht ganz folgen, deswegen sah er sich um und bemerkte, dass Vickys dunkle, kluge Augen auf ihm ruhten. Es war ihm stets unangenehm, wenn sie ihn auf diese Art und Weise musterte, denn man konnte niemals ahnen, was Victoria dachte – die Berechnungen, die ihr Gehirn machte, waren vielfältig und komplex. „Ich freue mich schon sehr auf Alex‘ Rückkehr.“

Der Marquis nickte daraufhin und betrachtete seine Schuhe genauer. Die Glocke, die das Ende der Pause verkündete, läutete tief und dumpf, genau zum rechten Zeitpunkt, um die Stille in ihrem Gespräch zu unterbrechen.

„Dann sehen wir uns also morgen,“ schloss Snooze eilig. „Es war schön, Sie kennen gelernt zu haben, Mr Ford,“ fügte er aufmerksam hinzu, dann verschwand er sehr eilig in der Menge.

Vicky und Tony starrten noch für einige Sekunden auf den Punkt, wo er gestanden hatte, ihren eigenen Gedanken nachhängend, aber Guinievaire machte sofort eine abfällige Geste.

„Ich hatte dich gewarnt,“ murrte sie. „Er ist so aufregend wie dieses Stück. Ich wünschte, ich wäre betrunkener.“

Sie raffte den Rock und ging voraus, zurück zu ihren Plätzen. Tony und Vicky folgten ihr, dabei tauschten sie einen kurzen Blick aus. In dieser kleinen Sekunde, in der sie sich in die Augen sahen, schienen sie sich plötzlich, für den Bruchteil eines Augenblicks, wieder zu verstehen.

Tony brachte Guinievaire nach Hause nach dem Theater. Sie beide waren zu Fuß gekommen und es war ein großer Umweg für ihn und es war kalt, aber er konnte sie nicht alleine lassen und außerdem konnte er ein einziges Mal ihre volle Aufmerksamkeit für sich beanspruchen: niemand würde sie sehen, denn sie strichen durch enge, geheime Gassen, zudem lenkten ihr Pferd und ihre tausend anderen Termine sie endlich nicht von ihm ab. Sie lief neben Tony, in einen dunklen Pelz gehüllt, manchmal sah sie ihn an und sie sprach mit ihrer dunklen, leisen Stimme, während er sich an dieser lange ersehnten Zweisamkeit erfreute, selbst wenn seine Finger froren.

Bisher hatten sie über das Stück geplaudert, aber sie beide waren sich schnell einig geworden, dass es grauenhaft gewesen war und ein jeder, der es empfohlen und gelobt hatte, ganz einfach nicht das Geringste vom Theater verstand und nun waren ihre Themen unweigerlich finster geworden wie ihre neblige Umgebung.

„Was hältst du von Snooze?“ fragte Guinievaire, die ihren Kragen adjustierte.

Sie fror leicht, deswegen musste sie sich in Nerze und Füchse hüllen. Tony gefiel der Anblick der toten Häute im Grunde nicht und auch nicht die Vorstellung, wie ihre zahllosen Mäntel hergestellt worden waren, aber noch weniger wollte er natürlich, dass sie krank wurde.

„Ich glaube, er hat schreckliche Angst vor dir,“ antwortete er vorsichtig. Niemals könnte er ihr erzählen, dass er einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatte, denn Guinievaire würde dies sofort als Verrat an ihrer wertvollen Person empfinden.

„Ich verstehe ihn nicht,“ seufzte sie und schüttelte den Kopf. „Er will mich nicht, das weiß ich genau. Wenn er meinem Vater also bloß sagen würde, dass ich das grauenhafteste Geschöpf bin, das ihm jemals begegnet ist, dann wäre uns beiden geholfen. Aber er ist feige.“

Vermutlich hatte sie damit sogar recht, aber Tony konnte den Erzfeind seiner Verlobten dennoch gut verstehen. Nicht jeder hatte Guinievaires Mut, ihre Geradlinigkeit, nicht jeder war so alleine auf der Welt, dass er sich um keinen anderen scheren musste. Sie ging stets mit dem Kopf durch die Wand und setzte sich dabei bemerkenswert oft durch. Und Tony musste sich außerdem glücklich schätzen, dass sie dies tat, das war ihm bewusst, aber nicht jeder lebte derart absolut.

„Wenn er mir morgen einen Antrag macht, dann sind wir verloren,“ fuhr sie mit schwerer Stimme fort. Tony hob den Kopf und sah sie an, aber sie hatte den Blick fest auf die schwarzen Steine vor ihren Füßen geheftet.

„Wirst du Ja sagen?“ fragte er.

„Nein,“ meinte Guinievaire sofort. „Aber wenn er mich bittet, seine Frau zu werden, dann wird mein Vater dich niemals als akzeptable Alternative anerkennen.“

„Dann müssen wir ihm eben zuvorkommen,“ argumentierte Tony schlicht. „Nichts ist bisher geschehen, Guinievaire.“ Während er ihr Trost spendete, trat er näher an sie heran. Niemand war in ihrer Nähe, die Nacht war verhangen und kalt, und jeder, der es vermeiden konnte, vor die Türe zu gehen, wärmte sich vor seinem Kamin. Es war wohl ungefährlich, ihre Hand zu nehmen, also griff Tony zögerlich nach ihr. Ihre Finger waren kühl, obwohl sie samtene Handschuhe trug.

Sie hob den Kopf und nickte, dennoch waren ihre Augen voller Skepsis. Tony hatte sich oft bemüht, aber sie ließ sich von seiner Zuversicht nicht anstecken. „Immerhin ist es gut, dass du ihn heute getroffen hast. Mein Vater wird ein wenig beeindruckt sein, weil du ihn bereits kennst. Außerdem werde ich dich morgen Alex vorstellen. Nichts ist wichtiger als seine Bekanntschaft.“

Natürlich. Ab morgen konnte er nicht länger vorgeben, dass es Lord Alexander Lovett nicht gab im Leben seiner Verlobten. Dabei wusste er schon recht lange, dass er eine große Rolle spielte für sie, aber bisher hatte er Glück gehabt, denn der verehrte Lord hatte geheiratet in dem Sommer, in dem er Guinievaire kennen gelernt hatte, er war also sehr beschäftigt gewesen seit dem Juni, und den letzten Monat war er sogar verreist gewesen, aber ab sofort musste Tony sich leider wohl oder übel mit ihm auseinandersetzen. Er kannte ihn nicht besonders gut, aber er hatte ihn noch niemals leiden mögen, denn er war alles, was er verabscheute: reich, oberflächlich, nutzlos, arrogant und ein Snob durch und durch, aber er war zugleich auch ohne jeglichen Zweifel ungeheuer wichtig in vielerlei Hinsicht.

„Glaubst du, er wird mich mögen?“ erkundigte er sich vorsichtig.

Guinievaire lachte abfällig. „Nein, ganz bestimmt nicht. Aber das spielt keine Rolle.“

„Ist er eifersüchtig?“ spekulierte Tony wieder einmal behutsam.

Wenn er Eindruck hinterlassen wollte, dann musste er den Feind, den besten Freund seiner geliebten Verlobten, kennen, also musste er sich wohl Mühe geben, ihn zu verstehen, ihn und die Beziehung, die den Lord und Guinievaire verband. Sie kannte ihn lange, viel, viel länger als Tony, seit Jahren bereits.

Auf seine vage Frage hin neigte sie den Kopf auf die Seite und hob die Augenbrauen. „Tony,“ mahnte sie ihn. „Das haben wir bereits besprochen, erinnerst du dich?“

Nun, sie hatten dieses Thema angeschnitten. Tony hatte sie einmal gefragt, ob der Lord und sie ein Paar seien, an jenem herrlichen Abend, an dem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten.

„Gäbe es romantische Gefühle zwischen mir und Alexander, hätten wir schon vor Jahren geheiratet. Er ist meine Familie, das ist alles.“ Selbstverständlich glaubte Tony ihr, er hatte sich lediglich noch einmal versichern wollen. „Er wird dich nicht mögen, weil er in mir nun einmal seine kleine Schwester sieht. Niemand ist gut genug in seinen Augen. Er ist besorgt, also sollten wir ihm zunächst auf keinen Fall erzählen, dass wir verlobt sind.“

Tony nickte. Was war denn ein weiterer Name auf der Liste der Menschen, die auf keinen Fall wissen durften, dass er und Guinievaire ein Paar waren? Nur noch wenige Stunden mussten sie diese Verschwiegenheit wahren, es würde ihm also nicht schwer fallen. Und wenn ihr daran gelegen war, dann würde er alles für sie tun.

Eine Weile lang gingen sie still und Hand in Hand durch die kalten Straßen, bis diese breiter wurden und die Nachbarschaft noch ruhiger. Morgen war ihr großer Tag endlich gekommen. Dachte Tony daran, dann war er aufgeregt, genau wie seine Verlobte, aber meist waren seine Gedanken schneller und ungeduldiger. Dann malte er sich, wie in diesem Moment, ihre Zukunft aus, wie sie nach dem morgigen Abend auf sie wartete: wie sie heiraten würden, und dann wäre Guinievaire seine Frau, und er dürfte sie immer sehen und jeder dürfte es dann wissen. Sie würden fliehen aus der kalten, winterlichen Stadt, wo es regnete und regnete, und eben jene Ruhe finden, die sie sich lange verdient hatten. Seit einem halben Jahr waren sie nun zusammen und wann war ihnen schon einmal ein sorgloser Augenblick gewährt worden? Nach ihrer Heirat würde ihr gemeinsames Leben einzig und allein aus Ruhe und vielleicht sogar aus Frieden bestehen.

Kurz bevor Tony und Guinievaire in die Straße mit ihrem dunklen Haus einbogen, hielt sie ihn mit einem Mal an und sie zog ihn mit fester Hand gegen eine schwarze Hecke, hinter einer erloschenen Laterne. Ihr Körper war kalt und weich dank des Pelzes, als sie sich gegen Tony drückte und ihre wachen Augen auf sein Gesicht heftete. Mit einem langen Finger fuhr sie über seine Wange, dann streckte sie den Hals. „Küss mich,“ wisperte sie leise, dabei öffnete sie ihre Lippen und dann wartete sie.

Tony entsprach ihrem Wunsch natürlich sofort. Er beugte sich nach vorne bis ihre frierenden Lippen sich trafen. Vorsichtig drückte er sich gegen sie, verharrte in dieser Position, hob den Kopf sanft, dann löste er sich wieder von ihr, um diesen Prozess noch zweimal zu wiederholen, langsam und mit viel Bedacht. Wenn er sie küsste, dann war er stets bemüht, jede einzelne Sekunde zu genießen und behutsam mit ihr zu sein. Er liebte sie so sehr. Sie war perfekt für ihn. Er würde sie heiraten und sie würden unendlich glücklich sein.

 

 

An der Tür zu Guinievaires Ankleide auf einem perlenbesetzten Bügel hing ihr Kleid für den heutigen Abend. Eines der Mädchen hatte ihr schon vorhin das Korsett geschnürt, aber sie hatte noch keine rechte Lust gehabt, sich anzukleiden, bisher trug sie also lediglich Bademantel und Unterwäsche und erhob sich schließlich seufzend von ihrem Bett. Auf ihrem Schminktisch suchte sie zwischen all ihren Cremes und Tiegeln und den vielen Parfums nach ihrem Lieblingsduft, dabei ließ sie sich auf den kleinen Hocker sinken und sah ihrem Spiegelbild in die Augen. Sie atmete tief ein. Ihr war schlecht.

Du kannst das tun, bestärkte sie sich selbst und nickte. Es wird schwierig sein, aber du bist erwachsen und du bist klug und bisher hast du alles bekommen, was du gewollt hast in deinem Leben. Wenn du es richtig anstellst, dann wird auch dieser Abend perfekt verlaufen.

Guinievaire traute sich selbst nicht recht. Sie wollte daran glauben, dass die Dinge sich wieder einmal mühelos arrangieren würden, aber es gab so viele Risiken, so vieles, was in sich zusammenbrechen konnte, und so vieles stand auf dem Spiel. Voller Sorgfalt kämmte sie sich die Haare. Während sie sich dann schminkte und während sie jeden einzelnen Handgriff mit mehr Sorgfalt erledigte als eigentlich üblich, versuchte sie, einen Plan zu machen und den Ablauf des nun folgenden Dinners in ihrem Kopf zu ordnen: sie würde die Gäste begrüßen, gemeinsam mit ihrem Vater. Vicky, die mit ihren Eltern kam und deren Vater wiederum der beste Freund von Guinievaires war, würde vermutlich unter den Ersten sein. Sie würden kurz reden, trinken, sie würden sich vermutlich etwas streiten, wie sie es immer taten in letzter Zeit, dann würde Snooze auftauchen und Alex und Cici und Tony. Wie sollte Guinievaire ahnen, wer von ihnen den Anfang machte? Und wie sollte sie planen, wenn ihr nicht einmal die einfachsten Fakten über den Zeitplan bekannt waren? In die Zukunft sehen zu wollen, selbst wenn sie besorgniserregend nahe lag, war sinnlos und unmöglich, also musste sie ganz einfach abwarten, und dann musste sie wohl oder übel improvisieren. Diese Vorstellung gefiel ihr ganz und gar nicht. Niemals konnte sie beruhigt sein, wo doch an diesem Abend ihr gesamtes, schönes Leben auf dem Spiel stand, wie sie es sich seit ihrem Debüt erschaffen hatte.

Eine lächerliche halbe Stunde blieb ihr noch, als sie sich die Lippen bemalte. Ihr Vater würde erwarten, dass sie pünktlich war und dass sie hübsch aussah. Ob er wohl nervös war, ebenso wie sie? Es gab nicht oft Feste in Hastings House, denn er war nicht eben beliebt und niemand kam gerne, nur um ihn zu sehen. Die ganze Stadt wartete jedoch auf neue Entwicklungen in Guinievaires Leben, und deswegen würden sie heute alle doch in Scharen herbeiströmen, denn immerhin wussten sie, dass auch mit Lord Lovett und seiner neuen Frau zu rechnen war und mit dem Marquis, von dem man schon seit vielen Wochen deutlich mehr Initiative erwartete.

Wenn Tony und sie heute endlich den erhofften Segen bekamen, dann bedeutete das auch, dass Guinievaire bald ausziehen würde aus Hastings House, in dem sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte, die lange gewesen waren und einsam. Sie dachte an die Bibliothek, die sie beinahe ausgelesen hatte, an ihr hübsches Zimmer, an das kleine Klavier, das ihr alleine gehörte, die einzigen Dinge, die ihr lieb waren an diesem Ort. Es gab Erinnerungen, die sie schätzte, aber sie würde sie mit sich fortnehmen, und keine einzige davon verband sie mit ihrem Vater. Als sie klein gewesen war, da hatte er kaum jemals ein Wort mit ihr gewechselt, denn er hatte immer nur gewartet bis sie ihm nützlich sein konnte. Deswegen gab es sie doch überhaupt: nachdem Thomas sich schon sehr früh in seinem verwöhnten Leben als Enttäuschung für Mortimer Hastings entpuppt hatte, hatte er all seine Hoffnungen auf einen zweiten Versuch gesetzt. Guinievaires einziger Lebenszweck war es, in seinen Augen, den Ruhm der Familie zu mehren. Wenn sie es recht bedachte, so würde er ihre Verlobung mit dem Reitlehrer wohl niemals begrüßen.

Aber sie schuldete es Tony, es zumindest zu versuchen. Er hatte sie gebeten, ihn zu heiraten und dabei hatte er ihr damals versprochen, einen Weg für sie beide zu finden, selbst wenn er von Anfang an gewusst hatte, dass dies ein kompliziertes Unterfangen werden musste. Und nun gingen sie diesen offiziellen Weg, damit keiner der beiden sich am Ende vorwerfen musste, sie hätten nicht ihr Bestes gegeben. Erst nach diesem Abend, nachdem sie gescheitert waren, konnten sie entscheiden, wie sie fortfahren sollten, wenn sie dies überhaupt noch wollten oder vielmehr, wenn Tony dies überhaupt noch wollte.

Mit einem weiteren, sehr, sehr langen Seufzer erhob Guinievaire sich wieder, nachdem sie ihr Haar zurecht gesteckt hatte, um nach dem Kleid auf seinem Bügel zu greifen und die Arme in die festen Ärmel aus Seide gleiten zu lassen. Lange hatte sie überlegt, was sie heute Abend tragen sollte, dann hatte sie sich gemeinsam mit Conroy, ihrem Schneider, auf dieses hier geeinigt, ein magentafarbenes Wickelkleid mit einem tiefem Ausschnitt, darunter trug sie ein golden durchwirktes Korsett, das ein viel geschätztes Geschenk gewesen war. Nachdem sie die Schleife auf ihrer rechten Seite gebunden hatte und in ihre Schuhe mit den bedauernswert flachen Sohlen geschlüpft war, warf sie einen prüfenden Blick in den langen Spiegel hinter ihrer Türe. Sie konnte zufrieden mit sich sein, dachte sie, dann revidierte sie diese Meinung. Warum sollte sie bescheiden sein? Sie sah fabelhaft aus, ihre Haut war weiß, ihre Wangen strahlten, ihr Busen saß perfekt, ein jeder würde sie anbeten und beneiden. Während sie sorgfältig die vielen Falten ihres Rockes arrangierte, so dass er hin und wieder offen fiel über ihrem Bein, wurde ihre Laune sogar ein wenig besser. Wer sollte ihr einen Wunsch abschlagen, wenn sie so aussah? Außerdem freute sie sich trotz allem darauf, ihren Alex endlich wiederzusehen. Vermutlich würde sie ihre Meinung ändern, sobald sie die ersten Sätze gewechselt hatten, aber dennoch, sie hatte ihn und sein hübsches Haar unleugbar vermisst in den letzten Wochen.

In der Eingangshalle brannte bereits ein einladendes, goldenes Licht, als Guinievaire sich schließlich zu ihrem Vater gesellte, der kein Wort zu ihr sagte, sie skeptisch beäugte und dann einen Blick auf die Uhr warf, um zu prüfen, ob sie sich denn tatsächlich pünktlich neben ihm aufgebaut hatte an der Türe zum großen Salon, die heute einmal ausnahmsweise aufgestoßen worden war. Ein Blick hinein genügte, um zu erkennen, dass Mr Hastings und nicht seine Tochter für den heutigen Anlass verantwortlich gewesen war und damit auch für Dekoration und Planung: die Blumen waren altmodisch, die Möbel waren unklug arrangiert, das Lichtkonzept war nicht ausgereift oder sogar nicht vorhanden, und genügend Platz zum Tanzen würde es auch nicht geben für die Gäste. Sobald sie dieses Haus verließ, würde ihr Vater verloren sein ohne sie, immerhin war sie ganz allein verantwortlich für den neuerlichen Aufschwung dieser Familie. Man sprach heute noch über das Winterfest, das Lord Lovett für sie ausgerichtet hatte, oder aber über ihren legendären achtzehnten Geburtstag oder gar über das Willkommensfest, das Guinievaire Snooze in eben diesem großen Salon bereitet hatte, als ein künstlicher Mond auf die Festgemeinde herabgeschienen hatte. Zusammen mit ihr würde das Leben endgültig aus Hastings House verschwinden, was ein merkwürdig befriedigender Gedanke war in diesem Augenblick.

Wie es von ihr erwartet wurde, begrüßte Guinievaire die Gäste mit ihrem Vater, sie lächelte, sie nickte, sie ließ sich den Handrücken küssen und man schmeichelte ihr, wo immer man konnte, bis endlich Vicky gemeinsam mit ihren ebenfalls recht ungeliebten Eltern eintraf und Guinievaire somit voller Gnade zunächst von ihren Pflichten entbunden wurde.

Auf einer der alten, grünen Couches rechts hinten im Saal nahmen die beiden dann Platz, wo sie sich verschwörerischer Ruhe sicher sein konnten, immerhin gab es sehr viel Geheimes zu besprechen und Guinievaire brauchte nicht lange bis sie Champagner für sich und Vicky organisiert hatte. Nervös nahm sie zwei lange, große Schlucke und blickte vorsichtig herüber zu ihrer Freundin, die sich erschöpft gegen die Lehne des Sofas drückte und sich umsah. Vicky und Guinievaire verstanden sich nicht gut in letzter Zeit und sie beide kannten die Gründe. Dennoch gab es immer und besonders heute Drängendes zu bereden.

„Du betrinkst dich,“ stellte Vicky missbilligend fest.

Guinievaire zuckte lediglich die Schultern. „Dies ist immerhin eine sehr schöne Gelegenheit, um sich zu betrinken.“

„Solltest du nicht konzentriert sein für euer gefährliches Manöver?“ mahnte ihre Freundin weiter, denn Vicky wusste immer, was richtig und vernünftig war, und sie rief es beständig allen, die sie umgaben, ins Gedächtnis, in einem Tonfall, der zumeist unerträglich war.

„Hätten wir eine Chance, dann würde ich mir mehr Mühe geben,“ winkte sie ab. „Du musst heute Abend auf Cici Acht geben, bitte, Vicky. Ich werde derweil versuchen, Alex unter Kontrolle zu bringen.“

Vicky seufzte. „Du hattest schon immer wirkungsvolle Methoden, um das zu tun,“ meinte sie tonlos, aber Guinievaire verstand die Spitze natürlich. Sie rollte die Augen ein wenig, dann ließ sie sich ebenfalls zurückfallen.

„Sie ist sehr nervös, dich wiederzusehen,“ fuhr Vicky dabei fort. „Ich glaube, es tut ihr inzwischen wirklich leid.“

„Zu dumm, dass es jetzt zu spät dafür ist,“ wehrte Guinievaire kühl ab.

„Wirst du mit ihr sprechen oder nicht?“ fragte ihre Freundin, wobei ihre Stimme endlich etwas weicher klang.

„Nein,“ erwiderte Guinievaire. „Ich werde kein Wort zu ihr sagen, wie ich es ihr versprochen habe.“

Diesmal rollte Vicky die Augen und zugleich ging ein Raunen durch den Saal, gerade als Guinievaire ihr zweites Glas begonnen hatte. Die Köpfe der Gäste drehten sich in Scharen, man stieß sich in die Seiten, manche zeigte sogar subtil in Richtung der Türen. Diese Reaktion konnte natürlich nur ein einziger in dieser Stadt verursachen, gemeinsam mit seiner frisch angetrauten Frau. Vicky und Guinievaire tauschten Blicke aus, rührten sich aber nicht. Sie wussten, dass ihre besten Freunde sie finden würden und dass sie außerdem der einzige Grund waren, warum sie auf diese Party gekommen waren, und nicht etwa wegen der aufgeregten Masse, die ihren Lord sehr vermisst hatte in den letzten Wochen.

Es dauerte einen kurzen Augenblick, dann teilte sich die Menge langsam, und Vicky und Guinievaire konnten ihre Freunde endlich sehen. Cici, die sie beide seit ihrem gemeinsamen Debüt vor zwei Jahren kannten, war kleiner als ihre besten Freundinnen. Sie hatte hübsch golden gebräunte Haut, ebenso hübsch glänzendes, goldblondes Haar, das meist in kleinen Locken arrangiert war, und das runde Gesicht eines Engels. Sie ähnelte einem Kind mit ihren großen, unschuldigen blauen Augen und den vollen Lippen, wenn auch der Rest ihres Körpers voll ausgebildet war, gesund und fest und stets aufsehenerregend bei all ihren männlichen Bekanntschaften. Cici war sich ihrer Wirkung in beiderlei Hinsicht bewusst und hatte sie in der Vergangenheit extensiv ausgenutzt. Nun war sie die liebe Angetraute von Alexander Lovett.

Alexander war der Mann, mit dem Guinievaire ihren ersten Tanz auf ihrem Debüt in der guten Gesellschaft getanzt hatte. Sie erinnerte sich noch ganz genau daran, wie sie damals seine kalte Hand genommen und ihn angesehen hatte, um zu schließen, dass er das schönste Wesen war, das sie jemals gesehen hatte – er war sehr hoch gewachsen und überragte sie, die groß war für ein Mädchen, um beinahe zwei Köpfe, außerdem hatte Alex bleiche, weiße Haut und er war dünn und elegant. Seine Augen waren so schwarz wie sein herrliches, weiches Haar, und auch er war sich seiner Attraktivität bis zu einem unverschämten Ausmaß bewusst. Viele Herzen hatte er bereits in London gebrochen, war dafür immer viel bewundert und besprochen worden, war zugleich jedoch so charmant und so vollendet gut erzogen, dass man ihn liebte, egal wo er hinging.

Als er Guinievaire auf ihrem zerschlissenen Sofa entdeckt hatte, tauchte sein berühmtes, etwas schiefes Lächeln auf seinem Gesicht auf. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, nickte hier und da nach links und nach rechts, beschleunigte aber zugleich seinen Schritt und Cici, die ihm folgte, sah dabei tatsächlich nervös aus. Als sie immer näher kamen, erhoben Guinievaire und Vicky sich schließlich, um ihre besten Freunde gebührend begrüßen zu können: Cici fiel Vicky regelrecht um den dürren Hals und schluchzte etwas Unverständliches, dabei strich ihre kluge Freundin ihr sanft über den Rücken und lächelte, als sie wieder entlassen worden war, aufmunternd und vielleicht auch etwas mitleidig.

„Vicky, es ist so schön, dich zu sehen,“ murmelte Cici ergriffen, dann fiel ihr großer, blauer Blick auf Guinievaire, die das herzliche Wiedersehen voller Skepsis verfolgte. Wie schön, dass die beiden nach wie vor solch großartige Freunde waren. Wie oft hatte sie Vicky schon vorgeworfen, dass sie mehr Loyalität von ihr erwartet hatte?

„Guten Abend, Guinievaire,“ bemühte Cecilia sich mit ihrer hellen, süßen Stimme.

Guinievaire drehte den Kopf mit einem desinteressierten Geräusch und ignorierte sie, wie sie es ihr damals versichert hatte. Bisher hatte sie immer viel Verständnis gehabt mit ihrer kleinen Freundin und sie war ihr oft zur Seite gestanden, um sie zu trösten, aber diesmal war sie zu weit gegangen und sie wusste es und scheinbar wollte sie sich dafür entschuldigen, aber es war ganz einfach zu spät dazu – Guinievaire konnte ihr nicht vergeben, was sie getan hatte.

Nach einem kurzen, unangenehmen Augenblick schien auch ihre Freundin verstanden zu haben, dass sie sich vergeblich bemühte. Sie seufzte traurig, dann griff sie nach Vickys Hand und gemeinsam verschwanden die beiden in der Menge, um für sich sein zu können.

Die Tage, in denen Guinievaire ein gleichberechtigter Teil dieser Freundschaft gewesen war, sie waren lange vorbei. Dabei hatte sie viel Zeit mit ihren Mädchen verbracht, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, dann hatte sie sich jedoch schließlich entschieden, Alex‘ Gesellschaft vorzuziehen, und seitdem gehörten Vicky und Cici fest zusammen, und Guinievaire gehörte unzertrennlich nur zu Alexander.

Dieser hatte scheinbar warten wollen bis seine Frau fort war, um seine liebste Freundin gebührend zu begrüßen, aber nun da sie für sich waren, legte er einen seiner langen, kräftigen Arme um Guinievaires Taille, beugte den Kopf und küsste ihre Wange mit seinen kühlen Lippen. Dann griff er nach ihrer Hand, küsste ihre Finger und dabei lächelte er selig.

„Ihr seid das glücklichste Ehepaar, das ich jemals gesehen habe,“ begann Guinievaire spitz. Trotzdem, sie war glücklich ihn wieder bei sich zu haben.

„Danke,“ grinste Alex. „Aber das hören wir sehr oft. Wo warst du gestern?“

„Im Theater,“ erwiderte Guinievaire sofort.

„Ich höre, dein Snooze hat dich immer noch nicht gebeten, ihn zu ehelichen?“ erkundigte ihr bester Freund sich, wobei er sehr bedacht darauf war, Themen anzuschneiden, die sie am wenigsten mit ihm besprechen wollte.

„Ich rechne jeden Tag fest damit,“ sagte sie finster. „Ich schlafe also nicht mehr sehr gut in letzter Zeit.“

Alex machte ein Gesicht als sei er zufrieden mit allem, was er hörte. Er nickte amüsiert. „Ich habe dir schon vor langer Zeit angeboten, dass ich ihn erschießen lassen kann, aber du hast abgelehnt.“

Guinievaire musste ebenfalls lächeln. „Du hast natürlich alles besser gewusst,“ räumte sie artig ein, dabei ließ Alex sie endlich los, hob einen seiner Arme und schneller als es möglich sein sollte, hielt sie ein drittes Glas Champagner in den Händen. Dann versorgte er sich selbst. Nach seinem ersten, großen Schluck sah er sie an mit jenem Blick, den er benutzte, wenn er kalkulierte und Geschäfte machte.

„Wir müssen wichtige Dinge besprechen,“ kündigte er leise an.

Sie nickte. „Das erwähntest du bereits.“

Guinievaire wusste natürlich, was er ihr sagen wollte, und genauso sehr wusste sie, was sie ihm gerne sagen wollte, aber heute Abend war definitiv nicht der rechte Zeitpunkt für eine Aussprache, wobei sie sich nicht sicher war, ob dieser Zeitpunkt nicht vielleicht bereits unwiederbringlich in der Vergangenheit lag. Eigentlich mochte sie auch nicht hören, was Alex ihr zu sagen hatte, nachdem sie einander so lange nicht gesehen hatten, aber es war ganz einfach vollkommen sinnlos, sich mit ihm zu streiten, denn Alex hörte niemals auf sie. Er tat, was er für richtig hielt, und Guinievaire hatte mittlerweile gelernt, sich damit ohne jeglichen Missmut zu arrangieren.

Wie sie sah er sich um, bevor er begann zu sprechen, denn wie immer wurden sie beobachtet, weil sie schon immer unheimlich interessant gewesen waren für die ganze Stadt. Zumindest wahrten alle Gäste heute einen angemessenen Abstand zu ihnen – alle bis auf einen einzigen, ein Mann in einem schwarzen Anzug, der direkt auf sie zukam und sich dabei erst nach näherer Betrachtung als Tony herausstellte.

Für den heutigen Abend hatte er sich bemerkenswert große Mühe gegeben. Sein Haar lag beinahe gekämmt und gepflegt an seinem Kopf, seine Krawatte hatte er korrekt gebunden, seine Schuhe glänzten, er ging aufrecht und bemühte sich ganz offenbar, zuversichtlich auszusehen, was ihm zugleich gut gelang. Guinievaire war ein wenig stolz auf ihn, bis ihr bester Freund neben ihr die schöne Stirne runzelte und ein abfälliges Geräusch machte.

„Was tut er hier?“ fragte er, wobei Guinievaire den Kopf drehte, um wieder Alex anzusehen.

Noch niemals zuvor hatte sie es bisher zugelassen, dass die beiden sich derart nahe kamen. Tony interessierte Alex nicht im Geringsten und Guinievaire glaubte, dass Tony Alex oder zumindest seine öffentliche Person verabscheute. Wie sie ihrem Verlobtem gestern gesagt hatte, war sie absolut überzeugt davon, dass die beiden keine guten Freunde werden würden, aber dennoch, Tony musste Alex endlich präsentiert werden, ganz einfach weil es sich nicht länger umgehen ließ.

„Ich habe ihn eingeladen,“ erklärte Guinievaire also mit einem recht spitzen Unterton.

Alex schnaubte verächtlich. „Du hast deinen Reitlehrer eingeladen? Ich darf dich in Zukunft nicht mehr alleine lassen.“

Tony hatte sie inzwischen erreicht. Er sah freundlich und gut gelaunt aus, als er den Arm bestimmt ausstreckte und Alexander erwartungsvoll ansah, der seine raue Hand hochmütig beäugte.

„Mr Ford, das ist Lord Alexander Lovett,“ sagte Guinievaire und tat das Unausweichliche, wenn auch nicht gerne. Sie zeigte von dem einen auf den anderen und der Unterschied zwischen ihrem Verlobten und Alex hätte nicht größer sein können. „Alex, das ist Mr Anthony Ford.“

Finster nahm Alexander schließlich Tonys Hand und schüttelte sie, wobei er sich im Gegensatz zu seinem Gegenüber jedoch kein Lächeln abringen konnte. Derweil fragte Guinievaire sich, ob seine Lordschaft sie wohl bereits durchschaut hatte. Immerhin gab es nur einen Menschen auf der Welt, der sie wirklich und wahrhaftig kannte und dabei handelte es sich um ihren Alex, der sie verstand, weil sie ihm in beinahe allen wichtigen Belangen glich. Sie waren eine Person, identisch. Natürlich wusste er stets genau, was in ihr vorging.

„Es freut mich sehr,“ sagte Alex, dabei ließ sein Tonfall jedoch erahnen, dass er sich nicht im Geringsten über diese neue Bekanntschaft freute.

Tony war dabei weitaus aufgeschlossener, er nickte und lächelte sehr artig. „Sie sind ein guter Kunde, nicht wahr, Sir?“ erkundigte er sich.

Alex hatte sein erstes Glas geleert, woraufhin ihm sofort ein neues angeboten worden war. Diese Magie – dass es ihm gelang, niemals ohne Alkohol auf einer Party zu sein, ob nun welcher serviert wurde oder nicht – hatte er schon vor langer Zeit an Guinievaire weitergegeben. Alles, jedes winzige Detail, für das sie heute bewundert wurde, hatte sie einmal von ihm gelernt.

Er nickte, dann drehte er seinen Kopf zu Guinievaire und mit einem Mal strahlte er unheilbringend. „Die zwei Kutschpferde, die ich dir im Februar zum Geburtstag geschenkt habe, waren Ford-Pferde, wusstest du das, Liebling?“ erklärte er.

Sie rollte die Augen und seufzte. Wie oft hatte sie ihn gebeten, sie nicht mit diesen lächerlichen Kosenamen zu bedenken? Was sollten die Menschen denken, hörten sie ihn, und was sollte Tony denken?

Ihr Verlobter schien jedoch nicht verwirrt, denn er vertraute ihr voll und ganz, glücklicherweise. Voller Interesse beäugte er den großen Lord Lovett aus der Nähe.

„Ich halte sehr viel von Ihren Tieren,“ wandte Alex sich wieder an Tony. „Im Gegensatz zu Guinievaire.“

„Was zum Teufel soll das heißen?“ fiel sie ihrem Verlobten ins Wort, bevor dieser sich höflich für das Kompliment bedanken konnte.

Alex hob die Augenbrauen. „Du hast einmal gesagt, du fändest sie schrecklich, Engel. Das war letztes Jahr, als wir Ferien gemacht haben,“ erinnerte er sie. Wieso nur musste er das tun? Guinievaire wünschte sich fest an einen anderen Ort in diesen Minuten. Natürlich hatte er verstanden und natürlich wusste sie, was er vorhatte. Am liebsten hätte sie ihn erwürgt. Alex schickte sich derweil gnädigerweise an, Tony einzuweihen. „Wir sind ausgeritten, wissen Sie? Wir haben Ferien auf meinem Landhaus gemacht, denn es ging ihr damals nicht sehr gut, nicht wahr, mein Liebling?“ Stumm und widerwillig nickte Guinievaire. „Nun, ich habe sie also auf eines Ihrer Pferd gesetzt und wir hatten gerade einige, wenige Kilometer hinter uns gebracht, da hatte sie das arme Tier so weit, dass es sich nicht anders zu helfen wusste als sie unter wilden Protesten abzuwerfen. Sie hat sich eine Rippe geprellt und den Arm angebrochen damals. Ich fürchte, sie ist eine sehr schlechte Reiterin.“

„Vielen Dank,“ zischte Guinievaire zu ihrem besten Freund herüber, der plötzlich den Eindruck machte, als hätte er sich niemals im Leben besser amüsiert. Er klang gönnerhaft, dabei legte er sogar wieder den Arm um ihre Mitte. Hilflos schloss sie die Augen.

Tonys braune Augen ruhten in diesem Moment auf Alexanders Hand, die sich in Guinievaires Taille bohrte. „Was ist mit dem Pferd geschehen?“ fragte er, was sie wenig umsichtig von ihm fand. Wenn kümmerte das Pferd, das Guinievaire damals schwer verletzt hatte?

Alexander lachte leise. „Es ist fortgelaufen. Es kam erst viele Wochen später zurück, vollkommen verwirrt und verwildert.“

Tony nickte fachmännisch, Guinievaire war jedoch überrascht. Alex hatte ihr niemals von der Rückkehr ihres Attentäters erzählt, daher hatte sie immer geglaubt – und gehofft – es sei langsam und qualvoll verhungert.

„Ich habe es dann ganz einfach erschießen lassen,“ beendete Alex schließlich ausgesprochen fröhlich seine Geschichte. „Ich kann es nicht ausstehen, wenn mein kleiner Engel beschädigt wird, wissen Sie?“ Während er das sagte, drückte er Guinievaire noch fester an sich.

Nun, falls Tony jemals eine winzige Spur von Sympathie für ihren geliebten Freund verspürt hatte, so war es damit nun mit sehr großer Sicherheit vorbei, denn er war nicht nur Menschenfreund, er liebte auch Tiere, warum auch immer. Derweil hätte Guinievaire Alex gerne zum Vorwurf gemacht, dass er sie der Exekution nicht hatte beiwohnen lassen, wie er es damals versprochen hatte, aber vor Tony durfte sie leider nicht so kalt sein, wie sie es eigentlich war.

„Ich verstehe,“ murmelte Tony kurz, wobei der freundliche Ausdruck endlich von seinem Gesicht verschwunden war. Ungläubig sah er stattdessen Guinievaire an, so als wolle er sie wortlos fragen, ob sie sich wirklich ganz sicher war, ob dieser grauenhafte Mann ihr bester Freund, ihre Familie, ihr Ein und Alles war. Einerseits konnte sie ihn verstehen, denn jeder benötigte eine gewisse Zeit, um sich mit Alex zurecht zu finden. Andererseits war sie sich vollkommen und absolut sicher: egal mit welchen Namen er sie bedachte, egal wie er sie behandelte, Alex würde immer alles für sie sein.

Zu diesem Zeitpunkt musste sie jedoch wohl oder übel einsehen, dass Alexander und Anthony zu verschieden waren, um sich wirklich zu verstehen. Je länger sie die beiden also plaudern ließ, desto gefährlicher wurde die Situation, weswegen sie sich nun besser um Ablenkung bemühte. Schließlich gab es immer noch sehr, sehr viele schreckliche Dinge, die an diesem Abend vor Guinievaire und ihrem Verlobten lagen, sie mussten sich also ganz und gar nicht auf Alexander und seine zauberhaften Anekdoten aus der Vergangenheit beschränken.

„Alex,“ sagte sie, dabei hob sie den Kopf, nahm seine Hand von ihrer Hüfte und flatterte die Wimpern. „Warum sagst du nicht meinem Vater Guten Abend? Er hat dich sehr vermisst. Immerhin seid ihr die besten Freunde.“

Sehr wohl verstehend, wovon sie sprach und leider auch, worauf sie abzielte, grinste Guinievaires Lord sein hübschestes Grinsen.

„Kennen Sie Mortimer bereits, Mr Ford?“ fragte er unschuldig. Tony schüttelte den Kopf. Scheinbar mochte er mit Alex nicht mehr reden.

„Wie nachlässig von dir, Prinzessin,“ meinte Alex mit einem Kopfschütteln. „Ich werde Sie vorstellen, folgen Sie mir,“ schlug er dann Guinievaires geheimem Verlobten vor. An sie gewandt fügte er hinzu: „Kommst du mit oder betrinkst du dich weiter?“

Guinievaire presste die Lippen kurz und fest aufeinander. „Ich denke, ich werde beides tun,“ erklärte sie. Alex nahm ihre Hand, nickte für Tony mit dem Kopf in eine Richtung, dann zog er sie durch die Massen, wobei ihr Verlobter stumm folgte.

Als Tony daraufhin endlich offiziell Guinievaires finsterem Vater vorgestellt wurde, erwies es sich als großer Vorteil, dass er Snooze vom gestrigen Abend im Theater bereits kannte. Er erwähnte ihre Begegnung, lobte die Ford-Zucht dabei in höchsten Tönen und spielte immer wieder dankenswerterweise auf den Profit an, den sie durch ihre Monopolstellung im Land sicherlich abwerfen musste, Mr Hastings zeigte sich zunächst also angemessen beeindruckt, und zweifellos hätten Tonys und Guinievaires Chancen sich nach seinem unglücklichen, ersten Treffen mit Lord Lovett zumindest wieder ein wenig erhöht, wäre eben dieser Lord nicht auch ein Teil der neuen Runde gewesen. Zwar nahm er sich in Guinievaires Anwesenheit merklich zurück und machte nur hier und da eine kleine, spitzfindige Bemerkung, die meist ohnehin klug verschlüsselt waren, so dass nur seine beste Freundin sie verstehen konnte, aber obwohl sie für heute Abend bereits mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, war sie schockiert von Alexanders soziopathischer Ader. Während des Essens musste sie die drei Herren zudem alleine lassen, da sie laut Sitzordnung am anderen Ende des Tisches bei Vicky und Cici saß. Wann immer Guinievaire dann bloß daran dachte, was Alex gerade tun oder sagen könnte, wurde ihr noch schlechter als zuvor.

Das Dinner an ihrem Ende des Tisches erwies sich zudem als unerträglich lange und ebenso langweilig. Cici erzählte davon, wie sie Alexanders Schwestern Emma und Elizabeth vorgestellt worden war, und scheinbar hatte sie die Zwillinge nicht ausstehen können, was vermutlich auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Ausführlichst beschwerte sie sich darüber, wie feindselig sie gewesen waren, während Victoria ihr ausgesprochen mitleidig lauschte, im Gegensatz zu Guinievaire, die der Meinung war, es sei allein die Schuld ihrer ehemaligen Freundin, dass sie nicht sonderlich herzlich in die Familie Lovett aufgenommen worden war. Sie kannte die Zwillinge bereits seit mehr als einem Jahr und hatte sich immer ausgesprochen gut mit ihnen verstanden. Da sie aber nun einmal geschworen hatte, niemals wieder ein Wort mit Cici zu wechseln und deswegen kaum an deren Konversation teilnehmen konnte, unterhielt sie sich stattdessen ein wenig mit Paul, den man glücklicherweise rechts neben sie platziert hatte und der es wie immer hervorragend verstand, sie von dem Elend am anderen Tischende so gut es eben ging abzulenken. Sie lachte viel, aber hin und wieder flog ihr Blick dennoch hinüber zu ihrem Vater, ihrem besten Freund, ihrem Verlobten und dem langweiligsten Menschen dieser Welt. Was sie meinte aus der Ferne erkennen zu können, gefiel ihr ganz und gar nicht: Tony sah verängstigt aus, und ihr Vater tauschte sich meist flüsternd entweder mit Snooze oder Alex aus und sprach dabei kaum mit ihm. Hin und wieder schien Snooze sich zu bemühen, Tony in das Gespräch zu integrieren, wofür Guinievaire ihm ausnahmsweise einmal dankbar war, aber Alex hatte ihrem Verlobten nicht das Geringste zu sagen. Er schien noch nicht einmal zu existieren für ihn und dafür war Guinievaire sogar noch dankbarer. Bisher war jedoch weiterhin nichts gewonnen, weswegen sie mehr als nervös blieb. Sie aß nichts und während Paul zahlreiche präzise, aber vollkommen rücksichtslose Witze über die Hochzeit von Cecilia und ihrem gemeinsamen Freund Alexander machte, graute es Guinievaire bereits vor den vielen, unangenehmen Konversationen, die ihr nach dem Essen noch bevorstanden. Vielleicht konnte die Entdeckung ihres großen Geheimnisses doch bis morgen warten oder besser noch sogar bis übermorgen? Weil es ihr für den Moment das Vernünftigste zu sein schien, trank Guinievaire noch drei Gläser Wein, bevor die Gesellschaft sich schließlich erhob, um das Essen zu verdauen und daraufhin Rauchen und anschließend vielleicht noch Tanzen zu gehen. Während sie die sorglose Festgemeinde beneidete, hatte sie andere, wesentlich bedrohlichere Pläne.

Nach dem Abendessen geschahen verschiedene Dinge gleichzeitig: Draußen auf der Terrasse führten Vicky und Cici ihre Unterhaltung, die sie gehabt hatten, bevor die beleidigte Guinievaire sich zu ihnen an den Tisch gesellt hatte, fort. Tony blieb in Mr Hastings‘ Nähe, folgte ihm zurück in den großen Salon und plauderte dort weiter mit ihm und Snooze, sein Bestes gebend, und Guinievaire hatte ein Gespräch unter vier Augen mit Alexander, oben auf ihrem Zimmer, nach dessen abrupten Ende sie auf der Veranda wieder auf Cici und Vicky traf.

Die Glastüren zum großen Salon waren weit aufgestoßen worden, damit die Gäste dort bequem rauchen und dabei zugleich den gut gepflegten Garten bewundern konnten, weshalb Guinievaires Rosen viele Komplimente bekamen, denn im etwas schummerigen Licht der Fackeln hatten sie eine fabelhafte, blutrote Farbe. Unglücklicherweise hatte die Dame des Hauses gerade weder Zeit noch war sie in der rechten Stimmung, ihren brillant konzipierten Blumenbeeten die angemessene Würdigung zukommen zu lassen. Sie hatte nach wie vor leider wesentlich schwerwiegendere Sorgen, vermutlich sogar noch schwerwiegender als zuvor.

„Wie kannst du das tun?“ zischte Cecilia leise, als Guinievaire ihre beiden Freundinnen wieder erreicht hatte. Sie war etwas außer Atem und verwirrt, und nun war dieser Abend schließlich und endlich zu einer absoluten Katastrophe geworden, aber dennoch, noch konnte sie nicht aufgeben. Vielmehr lag es nun an ihr, Schadensbegrenzung zu betreiben, was wohl oder übel auch bedeutete, dass sie doch wieder mit Cici sprechen musste, selbst wenn sie diese Tatsache sehr bedauerte.

Zunächst einmal verdrehte sie die Augen und verschränkte die Arme, während sie zwischen Vickys und Cicis vorwurfsvollen Blicken stand. „Ich an deiner Stelle wäre wirklich nicht überrascht,“ gab sie eisig zurück.

„Guinievaire,“ sagte Vicky mahnend, wie sie es schon so oft getan hatte, wenn ihre Mädchen sich stritten.

Sie wollte, dass sie vernünftig waren und dass sie daran dachten, dass für sie beide heute viel auf dem Spiel stand, aber selbst Guinievaire, die eigentlich ruhig und bedacht hatte bleiben wollen, war nun doch sehr kurz davor, die Fassung zu verlieren.

„Es ist allein deine Schuld,“ fauchte sie und zeigte dabei sogar mit einem zitternden Zeigefinger auf Cici, wobei sie wütend war auf sie und auch wütend auf sich selbst. „Ich hatte dich gewarnt. Du wusstest genau, worauf du dich einlässt.“

Vehement schüttelte Cici den blonden Kopf. „Du bist kein bisschen besser als ich,“ erwiderte sie finster. „Du hast keinerlei Grund, dich überlegen zu fühlen.“

Die Mädchen atmeten stumm und betroffen und sahen angestrengt in entgegengesetzte Richtung, während Stille sich zwischen ihnen spannte. Die Argumentation ihrer Freundin war natürlich lächerlich, denn Cici war nun einmal der Auslöser allen Ärgers gewesen. Allein sie war daran Schuld, dass Guinievaires Leben, das vor einem halben Jahr noch ein Paradies gewesen war, inzwischen einem unheimlichen Chaos glich. Was hatte sie also anderes tun sollen, als auf das ihr angetane Unrecht zu reagieren? Sie war ihr sehr wohl überlegen, aber ihre kleine, kindische Freundin hatte nicht die geistigen Kapazitäten, um das zu verstehen.

In die angestrengte Stille der Mädchen platzte schließlich Tony mit einem untrüglichen Gefühl für den denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Ganz im Gegensatz zu Guinievaire, die langsam zu verzweifeln drohte und deren Gehirn vollkommen außer Funktion zu sein schien, machte er einen erholten und sogar recht zufriedenen Eindruck, als er sich in ihrer Mitte einfand und fröhlich lächelte. Welch ein Glück es war, dass er nicht wusste, was sie wusste!

„Vicky,“ nickte er höflich, dann verbeugte er sich kurz vor der kochenden Cecilia. „Willkommen zurück in London,“ begrüßte er sie.

„Mr Ford,“ seufzte Guinievaire, sich nach wie vor ihrer Pflichten bewusst, und wies auf ihre frühere Freundin. „Dies ist Cecilia Sharp.“

Vicky, Cici und Tony tauschten erschöpfte, empörte und verwirrte Blicke aus bis sie ihren Irrtum bemerkte, bei dem man ihr natürlich Absicht unterstellen würde, also machte Guinievaire sich noch nicht einmal mehr die Mühe, sich zu korrigieren. Stattdessen schloss sie kurz die Lider.

„Ich bin Lady Cecilia Lovett,“ berichtigte diese nach betretenem Schweigen schließlich selbst. Dann, bemerkenswert plötzlich, legte sich ein ganz neuer Ausdruck auf ihr Gesicht. Sie lächelte freundlich und ihre großen Augen funkelten, wenn auch etwas verräterisch. „Mr Ford, falls Sie irgendwann einmal darüber sprechen wollen, dann wird Sie niemand besser verstehen als ich.“

Sofort neigte Guinievaire wütend den Kopf auf die rechte Seite. „Das ist sehr umsichtig von dir, Cici. Er wird nicht darauf zurückkommen müssen.“

Bevor ihre Freundin darauf mit einer weiteren Spitze antworten konnte, fasste sie eilig nach dem Arm ihres Verlobten und zog ihn bestimmt und mit einem gezielt schmerzhaften Griff fort von ihnen, hinüber zu den hohen Türen, bis sie einen angemessenen Sicherheitsabstand zu den sehr enttäuschenden Freundinnen hatten. Erst dann konnte Guinievaire kurz ausatmen.

„Ich muss in Ruhe mit dir sprechen,“ erklärte sie Tony leise.

Er wusste es nicht und er ahnte es auch nicht, aber sie mühten sich umsonst, zumindest an diesem Abend. Heute konnten sie nicht mehr gewinnen, vor allem nicht solange Tony hier war. Sie musste ihn also bitten zu gehen, dazu musste sie ihn in die Eingangshalle bugsieren und dann konnte Guinievaire endlich ungestört agieren und sich ungehindert um die verzweifelte Rettung ihrer Verlobung bemühen.

Ihr Verlobter nickte derweil voller angespanntem Verständnis, dabei neigte er fragend den Kopf in Richtung des großen Salons. Wortlos verstanden sie sich. Guinievaire raffte den Rock und folgte ihm durch die gesättigte, vielleicht etwas enttäuschte Menge über das warme Parkett. Auch sie wussten nicht, was Guinievaire wusste, denn sie konnte sich nicht eine winzige Sekunde über Langweile beschweren an diesem furchtbaren Abend. Mit einem Mal sehnte sie sich sehr nach ihrem weichen, großen Bett.

Als die beiden den prachtvollen Raum eiligen Schrittes gerade zur Hälfte durchquert hatten, legte sich eine sehr feuchte Hand urplötzlich um Guinievaires Handgelenk. Nun, natürlich musste es genau in diesen Sekunden geschehen. Es passte herrlich ins Bild, nicht wahr? Nachdem er zunehmend schlimmer und schlimmer geworden war, musste dieses Dinner nun einfach in einer unausweichlichen Katastrophe gipfeln. Ein letztes Mal und sehr verzweifelt atmete Guinievaire tief ein.

„Entschuldigen Sie mich, Miss Hastings, haben Sie eine Minute Zeit?“ stieß Snooze nervös hervor.

Guinievaire hielt hilflos inne und wandte sich ihm ungeduldig zu. Er sah ihr noch nicht einmal in die Augen – er wagte es ganz einfach nicht. Ihr Vater hatte ihm vermutlich versichert, Guinievaire würde gehorchen, sie würde Ja sagen, sie würde sich freuen. Wie konnte er nur so dumm sein, der Marquis von Snooze? Er wusste genau, dass sie einen anderen Mann liebte, dass sie ihn nicht wollte, dass sie Nein sagen würde. Warum musste er sie hier fragen, vor all diesen Menschen? Was schuldete er ihrem Vater? Sicherlich hatten sie sich wieder einmal gestritten und deswegen war er heute endlich gezwungen zu handeln. Nun, wenn er sich unbedingt blamieren wollte, sie stand ihm nicht im Weg dabei. Sie kannte ihre Antwort und außerdem würde sie nicht vorsichtig mit ihm sein, dazu war ihre Laune viel zu miserabel. Zunächst bedachte sie ihn mit einem vernichtenden Blick.

„Nein, die habe ich eigentlich nicht wirklich, Marquis, es tut mir schrecklich leid,“ sagte sie leise und ausgesprochen gereizt. Noch war Zeit für ihn zur Umkehr. Wieso nur war ihm die Aussichtslosigkeit seines Unterfangen nicht bewusst?

Snooze atmete aus. Hörte er überhaupt, was sie sagte?

„Entschuldigen Sie, meine Freunde, würden Sie, Sie vielleicht zuhören?“ rief er in die Menge und winkte mit seiner dürren, zitternden Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. Seinem Wunsch wurde schnell entsprochen, denn sie alle wussten bereits, was nun folgen sollte und sie alle hatten darauf nur gewartet. Wie schön für sie, dass sie endlich etwas Unterhaltung genießen durften. „Nun, Miss, Guinievaire, ich kenne Sie und Ihren Vater nun schon seit einiger Zeit und Sie waren für mich immer wie eine, eine Familie. Deswegen würde ich diesen bezaubernden Moment gerne nützen, um zu fragen: Guinievaire, willst du, würden Sie, nun, mich heiraten?“

Was folgte war Stille, absolute Stille. Alles schien ihr wie erstarrt und Guinievaire, die sich außerstande sah, ihm sofort zu antworten, sah sich zunächst einmal genau im Salon um. Snooze stand vor ihr, dabei wirkte er, als hätte er schlimme Schmerzen und er hyperventilierte schrecklich. Seine Hand, mit der er die ihre nach wie vor umklammerte, zitterte. Währenddessen leuchteten in den Augen ihres Vaters, der die Szene stolz beobachtete, kleine Pfundzeichen. Cici biss sich auf ihre volle, rote Unterlippe, damit kein breites, schadenfrohes Grinsen auf ihrem runden Gesicht erschien, wohingegen Vicky weitgehend Mitleid mit ihr zu haben schien und wahrscheinlich zugleich auch mit dem panischen Marquis. Alex hatte die Hände in den Hosentaschen gesteckt und schien nicht besonders interessiert an der Situation. Und Tony stand einfach nur da, sein Gesicht war bleich, seine Hände hatte er zu Fäusten geballt, dabei schien er zu gleichen Teilen sehr besorgt und recht unangenehm berührt, mit seiner heiteren Verfassung war es also ebenfalls endgültig vorbei. Die übrigen Gäste schienen entzückt zu sein von dieser aufregenden Wendung.

„Nein, zum Teufel, nein, nein, nein,“ antwortete Guinievaire nach ihrer kleinen Pause schließlich laut und deutlich, löste ihre Hand energisch aus Snoozes Griff, machte auf dem Absatz kehrt und eilte aus dem Zimmer. Während ihrer aufgebrachten Flucht wuchs das bis eben noch milde interessierte Geflüster dabei langsam zu empörten Protesten und begeistertem Zuspruch in Zimmerlautstärke heran, und als sie die große Türe hastig hinter sich zuschlug, waren die Gäste bereits so unwahrscheinlich bewegt und begeistert, dass sie ihre panischen oder amüsierten Stimmen noch bis in die leere Eingangshalle hinaus hören konnte. Guinievaire lief einfach weiter bis zum Fuße der Treppen, dann hielt unentschlossen inne, berührte nervös ihre Stirn und seufzte laut. Was sollte sie nun tun? Sie war ratlos.

Tony öffnete die Tür und mit ihm schwappte eine weitere Welle von alarmiertem Geschwätz ins Atrium, dabei wirkte er ebenso verzweifelt wie seine Verlobte, die zu ihm eilte, um ihm etwas zu sagen, irgendetwas, wenn sie auch nicht genau wusste, was dies sein sollte, aber er schüttelte lediglich erschöpft den lockigen Kopf und sagte mit tonloser Stimme: „Dein Vater kommt.“

Ein zweites Mal ging die Tür zum großen Salon auf und Mr Hastings erschien, wobei er seine Lippen aufeinander gepresst hatte und sein faltiges Gesicht war hochrot. Er warf die Tür in die Angeln, ignorierte Tonys Anwesenheit ganz einfach vollkommen und ging dann ohne weitere Umschweife sofort auf seine erschöpfte Tochter los.

„Hast du den Verstand verloren? Du wirst sofort wieder zurück gehen und Ja sagen und dabei legst du dein hübschestes Lächeln auf!“ befahl er laut und bedrohlich.

Guinievaire wollte ihm gerade antworteten, als Tony einschritt.

„Mr Hastings, es tut mir unglaublich leid, dass Sie es unter derart unangebrachten Umständen erfahren müssen,“ sagte er. „Aber ich sollte Ihnen wohl erklären, dass ich Ihre Tochter liebe und ich möchte sie um Ihr Einverständnis bitten, sie zu heiraten.“

Verflucht, dachte besagte Tochter, wobei sie stumm auf den Boden starrte. Warum war er nicht einfach still? Immerhin hatte sie deutlich mehr Erfahrung im Umgang mit ihrem aufgebrachten Vater, und Tony hatte mit seiner kleinen Ansprache gerade drei bis vier wichtige Regeln gebrochen. Er war zu höflich gewesen und hatte das Wort ‚liebe‘ verwendet, welches ihr Vater absolut nicht gerne hörte.

Mr Hastings machte auf diese Enthüllung hin ein verwirrtes Gesicht. Er warf seiner Tochter und dann der geschlossenen Tür oder vermutlich eher jemandem, der sich hinter ihr befand, skeptische Blicke zu. Schließlich legte er die fahle Stirne in Falten und schüttelte das akkurat sitzende Haar.

„Du?“ fragte er, wobei es ihm gelang, massenhaft arroganten Spott in dieses einzige, kurze Wort zu legen.

„Ja,“ beteuerte Tony. „Sir, es mir klar, dass ich nicht genau das bin, was Sie sich für Guinievaire erhofft haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich über sämtliche Mittel verfüge, um Ihrer Tochter alles, was sie sich wünscht, zu bieten.“

Wäre er doch nur still! Es kümmerte ihren Vater natürlich nicht im Geringsten, ob sie nach ihrer Hochzeit gut versorgt oder gar glücklich war, Tony zerstörte mit seinen sinnlosen Schwüren also jede winzige Chance, die ihnen noch geblieben war, und der einzige Trost, der Guinievaire nun noch blieb, war, dass es nach seinem beherzten Einschreiten nun nicht mehr alleine ihre Schuld war, dass ihre Mission heute Abend gescheitert war.

„Ist das wirklich sein Ernst?“ erkundigte Mr Hastings sich bei seiner stumm leidenden Tochter ohne Tony einer Antwort zu würdigen. Guinievaire zuckte trotzig die Schultern.

„Er hat mich bereits gefragt und ich habe ihm Ja gesagt. Wenn du nun einfach dasselbe tust, dann wirst du dir sehr, sehr viel Ärger ersparen,“ erwiderte Guinievaire. Ihr Vater war immerhin ein bequemer, müder Mensch und sie hatte ihn schon den ganzen, langen Sommer mit ihrem unmöglichen Ungehorsam gequält. Er hatte vermutlich lange keine Lust mehr, sich mit ihr zu streiten, und deswegen war dies eine der Strategien, die sie sich zuvor zurecht gelegt hatte, um ihn dazu zu bringen einzuwilligen. Wäre Tony nur einfach still geblieben, hätte sie sogar funktionieren können.

„Dir ist natürlich bewusst, dass dies ein erschreckender Abstieg ist im Vergleich zu deinen vorherigen Interessenten,“ erklärte ihr Vater ihr gütigerweise. „Und zu dem Kandidaten, den ich favorisiere und dem ich praktisch schon versprochen habe, dass du artig Ja sagen wirst ohne Umstände zu machen.“ Seine Stimme wurde immer gereizter im Verlauf dieses Gespräches.

„Du wusstest genau, dass ich das nicht tun würde. Ich hasse ihn,“ murrte Guinievaire.

„Und deswegen muss es der Reitlehrer sein? Guinievaire, du wusstest genau, dass das nicht in Frage kommt.“ Immer noch fassungslos schüttelte er den alten Kopf. „Geh sofort wieder zurück und tu, was von dir erwartet wird,“ befahl er dann, dabei zeigte er mit einem knochigen Zeigefinger strikt auf den Eingang zum großen Salon.

Guinievaire verschränkte unbeeindruckt die Arme und schüttelte energisch den Kopf. „Nein,“ erwiderte sie störrisch. „Was willst du tun, mich zwingen?“

„Geh wieder zurück! Sofort!“ schrie er zur Antwort laut, aber auch mit seiner lauten, kalten Stimme konnte er seine Tochter nicht schrecken, die seinen Zorn schon zu oft hatte spüren müssen – er schrie nahezu bei jeder Gelegenheit.

Tony hingegen war schockiert. „Schreien Sie sie nicht an!“ platzte es sofort und ungehalten aus ihm heraus und während er diese Warnung aussprach, trat er schützend zwischen seine Verlobte und ihren immer aufgebrachter werdenden Vater, dabei hatte er ihr den kräftigen Rücken zugewandt und konnte deswegen nicht sehen, wie Guinievaire ein wenig die Augen verdrehte. Sie brauchte keinen Beschützer, denn sie war nicht hilflos, ganz besonders nicht ihrem Vater gegenüber.

„Junge, du wirst meine Tochter nur über meine Leiche heiraten. Verschwinde aus diesem Haus und erwarte nicht, dass ich deinen Vater für das bezahle, was mir als Reitstunden verkauft wurde,“ ordnete Mr Hastings bedrohlich an, wobei er lediglich die Richtung änderte, in die er deutete und sein Arme begannen nun zu zittern. Guinievaire hatte ihn schon oft aufgebracht erlebt, aber heute Nacht schien er ihr doch seltsam panisch in seinem Zorn, was im Grunde nur eines bedeuten konnte: ihm war sehr effektiv gedroht worden, die Liebenden um jeden Preis zu trennen.

Tony bewegte sich nicht einen Zentimeter. Sie mussten so lächerlich aussehen, wie sie hier vor der Treppe im dunklen Foyer standen und sich unglaublich dramatisch benahmen. „Ich lasse sie ganz sicher nicht mit ihnen alleine,“ erklärte Guinievaires Verlobter, die zumindest etwas gerührt war von seinem Heldenmut. Langsam neigte sie den schweren Kopf auf die Seite.

„Vater, bitte,“ wisperte Guinievaire. Sie bettelte nicht. Ihr lieber Vater ließ sich davon ohnehin nicht beeindrucken.

Nun, es war zwecklos. Er kochte inzwischen vor Wut, denn er war enttäuscht und sie war die Quelle für diese Enttäuschung. Eine Zeit lang hatte sie es ihm ermöglicht hohe Erwartungen zu hegen, die sie auch hätte erfüllen können. Und nun erwartete sie, dass er sich mit Anthony Ford abfand. Natürlich war er wütend.

„Es hat dich nicht zu kümmern, was ich mit meiner Tochter tue!“ brüllte er mit unverhohlenem Zorn. Urplötzlich griff er dabei nach deren Oberarm, presste blaue Flecken hinein, zog sie neben sich und schüttelte sie frenetisch. Sogar Guinievaire war mittlerweile über sein Benehmen und noch mehr über seine unvermutete Kraft erschrocken. „Geh wieder zurück! Sofort!“ wiederholte er sich dabei, aber sie zuckte bloß und schloss reflexartig die Lider.

Ihr Vater schüttelte sie weiter bis Tony einschritt, wofür Guinievaire trotz ihrer entschlossenen Eigenständigkeit nun doch dankbar war. Mit festem Griff umschloss er das Handgelenks ihres Vaters und machte ihn los von seiner Tochter, woraufhin sie sich an den Fuß der Treppe rettete und sich verstört darum bemühte, ihr Haar zu richten, während Tony ihrem Vater den Arm auf den Rücken drehte, unbeeindruckt von seinen ohrenbetäubenden Schreien. Erzürnt riss er sich los, wandte sich um und dabei bemerkte er sie, wobei er plötzlich erstarrte. Die Türe stand offen. Guinievaire hob den schmerzenden Kopf und sah Cici im Rahmen stehen, hinter ihr alle Gäste versammelt, neugierig, schockiert und zugleich perfekt unterhalten.

Tony trat zwei Schritte zurück und sah auf den Boden, Guinievaire fluchte leise – Mr Hastings war es, der zuerst reagierte: er schoss regelrecht auf die Türe zu, schloss sie hastig und drängte dabei die angewiderte Menge zurück in den Salon. Als er sich daraufhin langsam wieder seiner Tochter und Tony zuwandte, bemühte er sich verzweifelt um seine verlorene Kontrolle.

„Verschwinde sofort aus meinem Haus. Komm nicht wieder,“ wies er Tony ohne Umschweife an, dabei klang er etwas heiser. „Du, geh sofort auf dein Zimmer,“ befahl er Guinievaire.

Als er mit diesen kurzen Anweisungen geendet hatte, drehte er sich schließlich um und verschwand, knochenweiß, aber erhobenen Hauptes, im großen Salon. Guinievaire war beinahe beeindruckt von ihm. Als er fort war, war es still.

Wortlos starrte sie nun auf ihre Hände: sie zitterte immer noch, wobei sie sich nicht sicher war, ob es aufgrund von Wut oder von Verzweiflung oder sogar Enttäuschung war. Peinlich berührt musste sie feststellen, dass sie sogar weinte. Eine heiße Träne fiel ihr zu Boden.

„Tony, es tut mir so leid,“ flüsterte sie.

Erschöpft rieb sie sich die Stirne. Tony konnte es natürlich nicht ertragen, sie so verzweifelt zu sehen, deswegen war er schon bald eilig an ihrer Seite und sah sie sehr besorgt an.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, es war ein fabelhafter Abend,“ scherzte er vorsichtig mit ihr, denn er wollte sie wohl zum Lachen bringen. Es war zu früh dafür.

Guinievaire schüttelte lediglich den Kopf und schluchzte weiter. „Er wird uns umbringen, bevor er zulässt, dass wir heiraten.“ Klagend hob sie die Hände, um sie dann wieder schlaff gegen ihre atemlosen Seiten fallen zu lassen. Es war ihr ein wenig peinlich, wie ihr Verlobter sie nun sah.

Wenn man es ernstlich darauf anlegte, dann war es im Grunde leicht, Guinievaire zum Weinen zu bringen. Sie vergoss viel und oft Tränen, meist jedoch im privaten Rahmen und wenn sie ganz allein in ihren Kissen lag. Vor Tony hatte sie noch niemals geweint, denn vor Tony konnte sie nicht weich oder verletzlich sein. Wenn sie bei ihm war, dann musste sie immer wissen, was zu tun war, sie musste die Anweisungen geben. Aber nun war sie schwach geworden. Was mochte er bloß denken von ihr? Immerhin wusste er nicht, warum ihre Tränen flossen. Wenn sie es recht bedachte, dann war sie sich selbst nicht ganz im Klaren darüber.

Ihr Verlobter schien jedoch gerührt. Fest schloss er sie in seine Arme. „Du musst nicht weinen,“ tröstete er sie. „Beruhige dich.“ Guinievaire konnte dem jedoch nur schwerlich nachkommen. Weiterhin atmete sie panisch und keuchte gegen Tonys Brust. „Alles wird gut werden,“ fuhr er voller Überzeugung fort. „Wir brauchen die Erlaubnis deines Vaters nicht. Wir wollten nur höflich sein, als wir ihn gefragt haben,“ meinte er dann.

Sofort hob Guinievaire den Kopf und wurde stumm und blinzelte fassungslos. Es schien ihm ernst. Er wollte sie nach wie vor, er wollte sie, weil er es einfach nicht besser wusste.

„Du willst, dass wir fortlaufen?“ fragte sie ihn langsam.

Dass Tony etwas derart Waghalsiges tat, damit hätte Guinievaire niemals gerechnet. War er nicht der Vernünftige, der zu viel nachdachte? Eigentlich mochte er keine Risiken, aber er sah doch recht überzeugt aus. Sanft strich er eine lose Strähne aus ihrer Stirne und lächelte sogar.

„Es wäre sicherlich ein unglaublich großer Skandal, wenn wir dies täten,“ überlegte er. „Aber es ist mir ganz egal, ich will dich nur heiraten. Du allein entscheidest, Guinievaire.“

Selbige schluckte. Sie sollte also entscheiden. Eigentlich war sie sehr schlecht, ging es darum, sich fest zu etwas zu entschließen, aber genau wie damals, als Tony um ihre Hand angehalten hatte oder damals, als er ihr gestanden hatte, dass er sie liebte, war sie schlicht fassungslos ob seiner Aufrichtigkeit und seiner skrupellosen Ehrlichkeit. Niemals hatte er Geheimnisse vor ihr. Und obwohl er zumindest dunkle Ahnungen über ihre wahre Disposition hegen musste, er hatte tatsächlich immer noch vor, ihre unwürdige Person zu ehelichen. Guinievaire könnte ihm einfach sagen, dass sie es nicht wagte, dass sie müde war und es wäre sofort vorbei. Sie und Tony wären nicht länger verlobt und damit stünden ihr wieder neue und alte Wege frei. Aber der Gedanke an jene Wege und Gelegenheiten machte sie trotzig, trotz oder eben wegen der Vorfälle des heutigen Abends und deshalb war sie entschlossen, dass sie nach wie vor Tony wollte und nichts anderes. Er war ihre Mühen wert, oder etwa nicht? Alles würde besser werden, waren sie erst einmal verheiratet.

Natürlich musste sie also nicken, wenn auch etwas schwach und ungläubig. „Skandale haben mich noch niemals wirklich interessiert,“ hauchte sie.

„Dann werde ich einen Weg für uns finden,“ versprach Tony feierlich und drückte die Hände immer fester in sie. „Wir werden zusammen sein, Guinievaire.“

Diese musste nun ebenfalls schwach lächeln. Sie streckte den müden Hals und küsste ihn, dann seufzte sie und legte den Kopf wieder auf seine breite Brust.

„Du bist fantastisch,“ murmelte sie dabei in sein Jackett.

„Ich liebe dich,“ war Tonys wenig überraschende Antwort.

Sie würden sich also weiter bemühen. Trotz des grauenhaften Abends und trotz der vielen, unerfreulichen und unerwarteten Wendungen war Guinievaire, während sie Tony fest umklammerte und langsam ruhig wurde, wieder überzeugt davon, dass ihre Beziehung, selbst wenn sie schrecklich kompliziert war, jene Strapazen wert war. Sie würden fliehen vor ganz London. Was für eine unfassbare Vorstellung! Aber wie sollte sie denn heute noch über die Ausarbeitung der Details nachdenken? Guinievaire war schrecklich erschöpft und ihr Kopf war leer.

„Was sollen wir nun tun?“ fragte sie deshalb Tony. Dieses eine Mal musste er die Verantwortung für sie beide übernehmen.

„Nun,“ seufzte er, wobei er sanft und sicher klang. Vielleicht war er doch in der Lage zu lenken? Vielleicht sollte Guinievaire ihm in Zukunft mehr vertrauen. „Du wirst auf dein Zimmer gehen und ich verschwinde aus diesem Haus,“ zitierte er ihren Vater.

„Schön,“ antwortete sie daraufhin lediglich mechanisch und nickte.

„Guinievaire?“ sagte Tony daraufhin vorsichtig, nach einer kleinen Pause. „Ich fürchte, du wirst mich dafür loslassen müssen.“