Plebsbummel

Schneemensch hinkt den Schutzwall entlang auf die glasig weiße Wölbung der Kuppel zu, die wie eine Luftspiegelung vor ihm zurückweicht. Wegen seines Fußes kommt er nur langsam voran, und gegen elf Uhr wird der Beton zu heiß, um darauf noch gehen zu können.

Er hat sich das Laken über den Kopf gezogen, über seine Baseballmütze und sein Tropenhemd, sich so weit wie möglich verhüllt, aber er könnte sich immer noch einen Sonnenbrand holen, trotz der Sonnenschutzcreme und zwei Schichten Kleidung. Er ist dankbar für seine neue zweiäugige Sonnenbrille.

Er hockt sich in den Schatten des nächsten Wachturms, um die Mittagszeit auszusitzen, trinkt Wasser aus der Flasche. Nachdem das Schlimmste an grellem Licht und Hitze vorbei ist, nachdem das tägliche Gewitter gekommen und gegangen ist, wird er vielleicht noch drei Stunden zur Verfügung haben. Wenn nichts weiter passiert, kann er bis zum Anbruch der Nacht da sein.

Hitze strömt vom Himmel, strahlt vom Beton zurück. Er entspannt sich darin, atmet sie, spürt den Schweiß an sich herunterrinnen, als würden Tausendfüßer auf ihm herumwandern. Seine Augen fallen zu, die alten Filme wirbeln und knistern durch seinen Kopf. »Wofür, zum Teufel, hat er mich gebraucht?«, sagt er. »Warum hat er mich nicht in Ruhe gelassen?«

Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, nicht in dieser Hitze, in der sich sein Kopf in Schmelzkäse verwandelt. Nicht Schmelzkäse: Lieber jegliche Vorstellung von Essen vermeiden. In Kitt, in Leim, in ein Haargel aus einer Tube. Er hat das mal verwendet. Er kann sich den genauen Platz auf dem Regal vorstellen, aufgestellt neben seinem Rasierer: Er hatte Ordnung gemocht, auf Regalen. Er hat ein plötzliches klares Bild von sich vor Augen, frisch geduscht, wie er seine Hände mit dem Gel durch sein feuchtes Haar führt. In Paradice, während er auf Oryx wartete.

Er hatte es gut gemeint oder zumindest hatte er es nicht böse gemeint.

Er hatte nie jemandem wehtun wollen, nicht ernsthaft, nicht im wirklichen Raum-Zeit-Kontinuum. Fantasien zählten nicht.

Es war an einem Samstag. Jimmy lag im Bett. Es war ihm an jenen Tagen schwer gefallen aufzustehen; er war schon ein paar Mal zu spät zur Arbeit gekommen in der vorangegangenen Woche, und das hatte sich zu den Malen davor addiert und den Malen davor, und es würde ihm bald Ärger einbringen. Nicht, dass er es wüst getrieben hätte: im Gegenteil. Er hatte menschlichen Kontakt gemieden. Die Vorgesetzten von AnooYou hatten ihn noch nicht ermahnt; wahrscheinlich wussten sie von seiner Mutter und ihrem Tod als Hochverräterin. Na ja, natürlich wussten sie davon, obwohl es sich um die Art von großem dunklem offenem Geheimnis handelte, das in den Komplexen nie erwähnt wurde

– Pech, böser Blick, konnte ja ansteckend sein, am besten stellte man sich dumm und so weiter. Wahrscheinlich waren sie nachsichtig mit ihm.

Wenigstens einen Vorteil gab es: Jetzt, wo sie seine Mutter endlich von der Liste gestrichen hatten, würden ihn die Corps-Leute in Ruhe lassen.

»Hoch mit ihm, hoch mit ihm, hoch mit ihm«, sagte die Stimme seiner Uhr. Sie war rosa, in der Form eines Phallus: eine Cock Clock, die ihm eine seiner Geliebten als Scherz geschenkt hatte. Damals hatte er sie lustig gefunden, aber an dem Morgen fand er sie beleidigend. Das war alles, was er ihr bedeutete, ihnen allen: ein mechanischer Scherz.

Niemand wollte geschlechtslos sein, aber niemand wollte nichts als Geschlecht sein, hatte Crake mal bemerkt. Oh ja, dachte Jimmy. Ein weiterer menschlicher Widerspruch.

»Wie spät ist es?«, sagte er zur Uhr. Sie neigte den Kopf und federte wieder in die aufrechte Stellung zurück.

»Es ist zwölf Uhr Mittag. Es ist zwölf Uhr Mittag, es ist zwölf Uhr Mittag, es ist…«

»Halt die Klappe«, sagte Jimmy. Die Uhr erschlaffte. Sie war programmiert, auf strengen Tonfall zu reagieren.

Jimmy überlegte, ob er aufstehen, in die Kochnische gehen und sich ein Bier aufmachen sollte. Das war eigentlich eine gute Idee. Es war eine lange Nacht gewesen. Eine seiner Geliebten, genauer gesagt, die Frau, die ihm die Uhr geschenkt hatte, war aufgetaucht, hatte seine Mauer des Schweigens durchbrochen. Sie war gegen zehn mit etwas zu essen vorbeigekommen – Hühnchen und Pommes frites, sie wusste, was er gern aß – und einer Flasche Scotch.

»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht«, sagte sie. Was sie wirklich wollte, war ein bisschen Sex, also hatte er sein Bestes gegeben, und sie hatte ihren Spaß gehabt, aber er war nicht bei der Sache, und das musste offensichtlich gewesen sein. Dann kam das Übliche: Was ist denn los, findest du mich langweilig, du bist mir wirklich wichtig, und so weiter und blabla.

»Verlass deinen Mann«, hatte Jimmy gesagt, um ihr das Wort abzuschneiden. »Lass uns ins Plebsland durchbrennen und in einer Wohnwagensiedlung leben.«

»Also, ich glaube nicht… Das meinst du doch nicht ernst.«

»Was, wenn doch?«

»Du weißt doch, dass du mir wichtig bist. Aber er ist mir auch wichtig, und…«

»Von der Taille abwärts.«

»Bitte?« Sie war eine gebildete Frau, sie sagte Bitte? statt Was?.

»Ich sagte, von der Taille abwärts. Da bin ich dir wirklich wichtig.

Soll ich es dir buchstabieren?«

»Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, du bist so grob in letzter Zeit.«

»Überhaupt nicht mehr lustig.«

»Na ja, ehrlich gesagt, nicht.«

»Dann verpiss dich.«

Danach hatten sie sich gestritten, und sie hatte geweint, worauf Jimmy sich komischerweise wieder besser gefühlt hatte. Danach hatten sie den Scotch leer gemacht. Danach hatten sie noch mal Sex gehabt, und diesmal hatte Jimmy seinen Spaß, sie allerdings nicht, weil er zu rau und schnell gewesen war und ihr nichts Schmeichelhaftes gesagt hatte, wie

er es sonst immer tat. Wunderbarer Arsch, und so weiter und so fort.

Er hätte nicht so kratzbürstig sein sollen. Sie war eine gute Frau mit echten Titten und eigenen Sorgen. Er fragte sich, ob er sie je wieder sehen würde. Höchstwahrscheinlich schon, denn sie hatte diesen Ich-kann-dich-heilen-Blick in den Augen, als sie gegangen war.

Als Jimmy gepinkelt hatte und dabei war, das Bier aus dem Kühlschrank zu holen, summte die Gegensprechanlage. Da war sie, wie aufs Stichwort. Sofort fühlte er sich wieder mürrisch. Er ging hinüber zum Hörer. »Geh weg«, sagte er.

»Hier ist Crake. Ich steh unten.«

»Das glaub ich nicht«, sagte Jimmy. Er tippte die Zahlen für die Videokamera in der Eingangshalle ein: Es war tatsächlich Crake, der ihn den Mittelfinger und sein Grinsen sehen ließ.

»Lass mich rein«, sagte Crake, und Jimmy ließ ihn rein, denn in dem Augenblick war Crake so ziemlich die einzige Person, die er sehen wollte.

Crake war im großen Ganzen derselbe. Er trug dieselbe dunkle Kleidung. Er hatte nicht mal Haar verloren.

»Was zum Teufel machst du denn hier?«, sagte Jimmy. Nach dem ersten Anfall von Freude war es ihm peinlich, dass er noch nicht angezogen war und dass seine Wohnung von Staubflocken, Zigarettenstummeln, schmutzigen Gläsern, leeren Essensschachteln übersät war, aber Crake schien das nicht zu bemerken.

»Schön, dass du dich so freust«, sagte Crake.

»Tut mir Leid. Ist nicht so gut gelaufen in letzter Zeit«, sagte Jimmy.

»Ja, das hab ich gesehen. Deine Mutter. Ich hab dir eine E-Mail geschickt, aber du hast nicht geantwortet.«

»Ich hab meine E-Mails nicht mal angeschaut«, sagte Jimmy.

»Verständlich. Es war auf Brainfrizz: Anstiftung zur Gewalt, Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation, Behinderung der Verteilung von kommerziellen Produkten, Hochverrat. Ich nehme an, der letzte Punkt bezog sich auf die Demos, an denen sie teilgenommen hat. Steine schmeißen oder so was. Zu schade, sie war eine nette Dame.«

Weder nett noch Dame traf Jimmys Ansicht nach zu, aber er war nicht in der Stimmung, das jetzt zu diskutieren, nicht so früh am Tag. »Magst du ein Bier?«, sagte er.

»Nein danke«, sagte Crake. »ich bin nur vorbeigekommen, um dich zu besuchen. Zu schauen, ob es dir gut geht«.

»Mir geht’s gut«, sagte Jimmy.

Crake sah ihn an. »Lass uns in die Plebs fahren«, sagte er. »Durch ein paar Bars bummeln.«

»Das soll ein Witz sein, nicht?«, sagte Jimmy.

»Nein, im Ernst. Ich hab die Passierscheine. Meinen regulären und einen für dich.«

Daran erkannte Jimmy, dass Crake wirklich jemand sein musste. Er war beeindruckt. Mehr noch, er war gerührt, dass Crake sich Sorgen um ihn gemacht hatte, den ganzen langen Weg gekommen war, um ihn zu besuchen. Obwohl sie in letzter Zeit nicht in engem Kontakt miteinander gestanden hatten – Jimmys Schuld –, war Crake immer noch sein Freund.

Fünf Stunden später schlenderten sie durch die Plebs im Norden von New-New York. Sie hatten nur zwei Stunden gebraucht, um dorthin zu kommen – Hochgeschwindigkeitszug zum nächstgelegenen Komplex, dann einen offiziellen Corps-Wagen mit bewaffnetem Fahrer, gestellt von irgendwem, der Crake zu Diensten stand. Der Wagen hatte sie ins Zentrum dessen gebracht, was Crake die Action nannte, und sie dort abgesetzt. Sie würden aber beschattet werden, sagte Crake. Sie würden geschützt. Damit nichts passierte.

Bevor sie losgefahren waren, hatte Crake Jimmy eine Nadel in den Arm gesteckt – ein kurzzeitig wirksamer Allzweckimpfstoff, den er selber zusammengebraut hatte. Die Plebs, sagte er, waren eine riesige Petrischale: Hier wurde jede Menge Schmadder und ansteckendes Plasma verbreitet. Wenn man mit dem ganzen Zeug um einen herum aufwuchs, war man mehr oder weniger immun dagegen, wenn sich nicht gerade eine neue Bioform austobte; aber wenn man von den Komplexen kam und seinen Fuß in die Plebs setzte, wurde man zum Festschmaus.

Es war, als hätte man ein großes Schild an der Stirn mit den Worten: Friss mich.

Crake hatte auch Atemmasken für beide, das neueste Modell, nicht nur um Mikroben auszufiltern, sondern auch um Teilchen auszusondern.

Die Luft war schlechter in Plebsland, sagte er. Der Wind brachte mehr Müll mit sich, es gab weniger Wirbelfiltertürme in der Gegend.

Jimmy war noch nie in Plebsland gewesen, er hatte nur mal über die Mauer geschaut. Es war aufregend für ihn, endlich mal dort zu sein, obwohl er nicht vorbereitet war auf so viele Leute so dicht beisammen, die gingen, sprachen, irgendwo hinliefen. Leute auf den Bürgersteig spucken zu sehen war ein Anblick, den er persönlich gerne ausgelassen hätte. Reiche Plebs in Luxuswagen, arme auf Solarrollern, Nutten in fluoreszierendem Elastan oder in ganz kurzen Hosen oder – sportlicher, weil es ihre festen Schenkel zeigte – auf Motorrollern, mit denen sie sich durch den Verkehr schlängelten. Alle Hautfarben, alle Größen.

Allerdings nicht zu jedem Preis, sagte Crake: Hier seien sie im unteren Bereich. Also könne Jimmy hier einen Schaufensterbummel machen, solle aber nichts kaufen. Das könne er sich für später aufheben.

Die Plebsland-Bewohner sahen nicht aus wie die geistig Zurückgebliebenen, die sich die Komplex-Bewohner gerne vorstellten, jedenfalls die meisten nicht. Nach einer Weile begann Jimmy, sich zu entspannen, das Erlebnis zu genießen. Es gab so viel zu sehen – so viel wurde verhökert, so viel angeboten. Neonschriftzüge, Werbeplakate, Anzeigen überall. Und es gab richtige Penner, richtige Bettlerinnen, genau wie in den alten DVD-Musicals: Jimmy erwartete ständig, dass sie die schiefen Absätze ihrer Stiefel in die Luft warfen und lossangen.

Asymmetrien, Unförmigkeiten: Die Gesichter waren himmelweit entfernt von der Regelmäßigkeit der Komplexe. Es gab sogar schlechte Zähne. Er starrte alles an.

»Pass auf dein Portemonnaie auf«, sagte Crake. »Nicht, dass du Bargeld brauchtest.«

»Warum nicht?«

»Ich lade dich ein«, sagte Crake.

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Du bist nächstes Mal dran.«

»Na, meinetwegen«, sagte Jimmy.

»Da sind wir – das hier ist die so genannte Traumstraße.«

Die Läden hier waren im mittleren bis gehobenen Segment, die Auslagen üppig. Zum in die Luft Gen?, las Jimmy. Versuchen Sie’s mit SnipNFix! Erbkrankheiten hier entfernen lassen. Warum klein sein?

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»Hier wird unser Zeug zu Gold«, sagte Crake.

»Unser Zeug?«

»Was wir bei Rejoov produzieren. Wir und die anderen körperorientierten Komplexe.«:

»Funktioniert das denn alles?« Jimmy war beeindruckt, nicht so sehr von den Versprechungen wie von den Werbesprüchen: Hirne wie das Seine waren hier am Werk gewesen. Seine flaue Stimmung vom Morgen war verschwunden, er fühlte sich ziemlich munter. Es wirkte so viel auf ihn ein, so viel Information; es beanspruchte seinen gesamten Hirnkasten.

»Eine ganze Menge funktioniert«, sagte Crake. »Natürlich ist noch nicht alles perfekt. Aber die Konkurrenz ist mörderisch, insbesondere was die Russen machen und die Japaner und die Deutschen natürlich.

Und die Schweden. Wir halten allerdings mit, wir haben den Ruf, verlässliche Produkte herzustellen. Die Leute kommen aus der ganzen Welt hierher – sie kaufen sich überall ihre Sachen zusammen.

Geschlecht, sexuelle Ausrichtung, Größe, Hautfarbe und Augen – lässt sich alles bestellen, lässt sich alles machen und wieder ändern. Du hast keine Ahnung, wie viel Geld allein auf dieser Straße den Besitzer wechselt.«

»Lass uns was trinken gehen«, sagte Jimmy. Er dachte gerade an seinen hypothetischen Bruder, den, der noch nicht geboren war. Waren sein Vater und Ramona hier einkaufen gegangen?

Sie gingen was trinken, dann was essen – echte Austern, sagte Crake, echtes japanisches Rindfleisch, rar wie Diamanten. Es musste ein Vermögen gekostet haben. Dann gingen sie in ein paar andere Lokale und endeten schließlich in einer Bar, in der Oralverkehr auf Trapezen geboten wurde, und Jimmy trank irgendwas Orangefarbenes, das im Dunkeln leuchtete, und dann noch zwei Mal das Gleiche. Dann erzählte er Crake die Geschichte seines Lebens – nein, die Lebensgeschichte seiner Mutter – in einem einzigen verstümmelten Satz, wie ein Kaugummiband, das einfach immer weiter aus seinem Mund herauskam. Dann waren sie irgendwo anders, auf einem endlos großen grünen Satinbett, auf dem sie von zwei Mädchen bearbeitet wurden, die von Kopf bis Fuß mit Ziermünzen bedeckt waren, die auf ihrer Haut klebten und wie die Schuppen virtueller Fische schimmerten. Jimmy hatte noch nie ein Mädchen gesehen, das sich so attraktiv verdrehen konnte.

War es da oder in einer der anderen Bars vorher, dass Crake ihn auf den Job ansprach? Am nächsten Morgen konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Crake hatte gesagt Job, Du, Rejoov, und Jimmy hatte gesagt Was würd ich da machen, die Klos putzen, und Crake hatte gelacht und gesagt Etwas besser. Jimmy konnte sich nicht erinnern, ob er Ja gesagt hatte, aber das hatte er wohl getan. Er hätte jeden Job angenommen, egal, was es war. Er wollte weg, weiter. Er war bereit für ein ganz neues Kapitel.