Fisch

Der Himmel verfärbt sich von Ultramarin zu Indigo. Gott segne die Benenner von Ölfarben und weiblicher Luxusunterwäsche, denkt Schneemensch. Teerose, Karmesin, Rauchblau, Gebrannte Umbra, Aubergine, Indigo, Ultramarin – sie sind Fantasien für sich, solche Wörter und Wendungen. Es ist tröstlich, sich zu erinnern, dass Homo sapiens sapiens einst so erfindungsreich mit der Sprache umging, und nicht nur mit der Sprache. Erfindungsreich in allen Richtungen zugleich.

Affenhirne, war Crakes Kommentar gewesen. Affenpfoten, Affenneugier, das Bedürfnis, alles zu zerlegen, das Innere nach außen zu stülpen, zu beschnüffeln, zu betasten, zu vermessen, zu verbessern, zu zerstören, wegzuwerfen, das alles gehört zum Affenhirn – es mag ein fortgeschrittenes Modell sein, trotzdem ist es ein Affenhirn. Crake hatte keine besonders hohe Meinung von der menschlichen Erfindungsgabe, obwohl er selbst so viel davon besaß.

Vom Dorf her – von dem, was ein Dorf wäre, gäbe es dort Häuser oder Hütten – ertönt Stimmengemurmel. Pünktlich wie immer erscheinen die Männer mit ihren Fackeln und hinter ihnen die Frauen.

Jedes Mal, wenn die Frauen auftauchen, ist Schneemensch von neuem verblüfft. Sie weisen alle bekannten Farben auf, vom tiefsten Schwarz bis zum weißesten Weiß, sie sind unterschiedlich groß, aber jede von ihnen ist bewundernswert wohlgeformt. Jede hat strahlende Zähne und die glatteste Haut. Keine Fettwülste um die Taille, keine Ausbuchtungen und Dellen, keine Orangenhaut an den Schenkeln. Kein einziges Körperhaar, nichts Buschiges. Sie sehen aus wie retuschierte Fotomodelle oder Reklamefotos für teure Fitnessprogramme.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb diese Frauen in Schneemensch nicht den geringsten Anflug von Begehren wecken. Es waren die Fingerabdrücke der Unvollkommenheit, die ihn einst angerührt haben, die kleinen Webfehler: das asymmetrische Lächeln, die Warze neben dem Nabel, das Muttermal, der blaue Fleck. Das waren die Stellen, nach denen er suchte, auf die er den Mund legte. Wollte er damit Trost spenden, die Wunde küssen, um sie zu heilen? Mit Sex war immer ein Stück Melancholie verbunden. Nach der Wahllosigkeit seiner Jugend hatte er traurige Frauen bevorzugt, zarte und zerbrechliche Wesen, Frauen, die verletzt worden waren und die ihn brauchten. Er liebte es, sie zu trösten, sie erst zärtlich zu streicheln, sie zu beruhigen. Sie ein bisschen glücklich zu machen, wenn auch nur für einen Moment. Auch sich selbst natürlich; darum ging es letztlich. Eine dankbare Frau ist zu vielem bereit.

Aber diese neuen Frauen sind weder asymmetrisch noch traurig: Sie sind gleichmütig, wie belebte Statuen. Sie lassen ihn kalt.

Die Frauen bringen seinen wöchentlichen Fisch, »gegrillt«, wie er es ihnen beigebracht hat, und in Blätter gewickelt. Er kann ihn schon riechen, und das Wasser läuft ihm im Mund zusammen. Sie treten auf ihn zu, legen den Fisch vor ihm auf den Boden. Es wird ein Küstenfisch sein, zu dürftig und geschmacklos, als dass seine Spezies begehrt, sein Bestand überfischt und folglich ausgerottet worden wäre, oder auch ein Bewohner des Meeresgrundes, strotzend vor Gift, aber das ist ihm herzlich egal, er würde alles essen.

»Hier ist dein Fisch, o Schneemensch«, sagt einer der Männer, der Abraham genannt wird. Nach Abraham Lincoln: Crake hat sich einen Spaß daraus gemacht, seine Craker nach herausragenden historischen Gestalten zu benennen. Es wirkte alles ganz harmlos, damals.

»Dies ist der Fisch, der heute Abend für dich ausgewählt wurde«, sagt die Frau, die ihn gebracht hat; es ist Kaiserin Josephine oder Madame Curie oder Sojourner Truth – sie steht im Schatten, und er erkennt nicht, welche es ist. »Dies ist der Fisch, den Oryx dir schenkt.«

Oh, gut, denkt Schneemensch. Die Empfehlung des Chefs.

Jede Woche, entsprechend den Phasen des Mondes – Neumond, erstes Viertel, Vollmond, zweites Viertel – stehen die Frauen in den Gezeitentümpeln und rufen den unglücklichen Fisch beim Namen – nur Fisch, nichts Spezifisches. Dann zeigen sie auf ihn, und die Männer töten ihn mit Steinen oder Stöcken. Auf diese Weise teilen sie sich die unangenehme Aufgabe, und keine einzelne Person macht sich schuldig, das Blut des Fisches vergossen zu haben.

Wäre alles nach Crakes Wünschen verlaufen, gäbe es überhaupt keine Tötung dieser Art mehr – kein menschliches Raubtiertum –, aber er hat nicht mit Schneemensch und seinen tierischen Gelüsten gerechnet.

Schneemensch kann nicht von Klee leben. Die Craker würden selbst nie einen Fisch essen, aber sie bringen ihm jede Woche einen, weil er ihnen gesagt hat, Crake habe es so beschlossen. Sie nehmen seine Monstrosität hin, sie wussten von Anfang an, dass er einer anderen Art angehörte, und waren also nicht weiter überrascht.

Idiot, denkt er. Drei Mal am Tag, hätte ich sagen sollen. Er wickelt den warmen Fisch aus den Blättern und bemüht sich, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er darf sich nicht derart gehen lassen. Aber es passiert ihm immer wieder.

Die Leute halten Abstand und wenden den Blick ab, während er sich mit beiden Händen Fisch in den Mund stopft, die Fischaugen und –

backen aussaugt und vor Behagen grunzt. Vielleicht ist es nicht anders, als einem Löwen beim Fressen zuzuhören, im Zoo, als es noch Zoos gab, als es noch Löwen gab – ein Reißen und Knacken, ein schreckliches Schlingen und Schlucken –, und, wie einst die Besucher der längst verschwundenen Zoos, können auch die Craker nicht anders, als verstohlene Blicke auf ihn zu werfen. Das Schauspiel der Verworfenheit ist sogar für sie interessant, wie es scheint, obwohl sie doch chlorophyllgeläutert sind.

Als Schneemensch fertig ist, leckt er sich die Finger und wischt sie an seinem Laken ab; die Gräten legt er wieder in die Blatthülle, damit sie ins Meer zurückkehren können. Oryx wünsche es so, hat er ihnen gesagt: Sie brauche die Knochen ihrer Kinder, damit sie neue Kinder daraus machen könne. Sie haben seine Erklärung fraglos hingenommen, wie alles, was er über Oryx sagt. In Wahrheit ist das eine seiner klügeren Anweisungen: Es hat keinen Sinn, die Essensreste an Land herumliegen zu lassen, sie hätten nur Wakunks, Hunölfe, Organschweine und andere Aasfresser angelockt.

Die Leute rücken näher, Männer und Frauen scharen sich um ihn, und ihre grünen Augen leuchten im Halbdunkel wie das Kaninchen: Sie tragen dasselbe Quallengen. Wenn sie alle so zusammensitzen, riechen sie wie eine Kiste Zitrusfrüchte – auch dies eine Eigenschaft, die sie Crake verdanken: Er meinte, die chemischen Substanzen müssten abschreckend auf Mücken wirken. Vielleicht hatte er Recht, denn wie es aussieht, stechen sämtliche Mücken im Umkreis von mehreren Meilen ausschließlich Schneemensch. Er widersteht dem dringenden Bedürfnis, nach ihnen zu schlagen: Sein frisches Blut erregt sie nur noch mehr. Er schiebt sich etwas nach links, so dass er mehr im Fackelrauch sitzt.

»Schneemensch, erzähl uns von Crakes Taten.«

Eine Geschichte wollen sie, eine Geschichte als Gegenleistung für jeden geschlachteten Fisch. Na ja, ich bin’s ihnen schuldig, denkt Schneemensch. Gott der Lügengeschichten, lass mich nicht im Stich.

»Welchen Teil wollt ihr heute Abend hören?«, sagt er.

»Am Anfang«, gibt eine Stimme das Stichwort. Sie lieben Wiederholungen, sie lernen alles auswendig.

»Am Anfang war das Chaos«, sagt er.

»Zeig uns das Chaos, bitte, o Schneemensch!«

»Zeig uns ein Bild des Chaos!«

Am Anfang hatten sie mit Bildern gekämpft – Blumen auf Sonnenschutzflaschen, die sie im Müll fanden, Früchte auf Getränkedosen. Ist das echt? Nein, es ist nicht echt. Was ist das – nicht echt? Nicht Echt kann uns etwas über Echt sagen. Und so weiter. Aber jetzt scheinen sie das Prinzip begriffen zu haben.

»Ja! Ja! Ein Bild vom Chaos!«, rufen sie.

Er hat damit gerechnet – alle Geschichten beginnen mit Chaos – und ist vorbereitet. Er greift hinter sein Betonplattenversteck und holt einen seiner Funde hervor – einen orangefarbenen Plastikeimer, inzwischen zu rosa verblasst, aber sonst unbeschädigt. Er versucht, sich nicht vorzustellen, was mit dem Kind geschehen ist, das ihn einst besessen hat. »Bringt mir ein bisschen Wasser«, sagt er und hält ihnen den Eimer hin. Es kommt Bewegung in den Kreis der Fackeln: Hände werden ausgestreckt, Füße hasten davon in die Dunkelheit.

»Im Chaos war alles durcheinander gemischt«, sagt er. »Es gab zu viele Menschen, und deswegen waren die Menschen alle mit Schmutz vermischt.« Der Eimer kehrt schwappend zurück und wird im Lichtkreis abgestellt. Er wirft eine Hand voll Erde hinein, rührt mit einem Stock um. »Bitte sehr«, sagt er. »Chaos. Ihr könnt es nicht trinken…«

»Nein!« Im Chor.

»Ihr könnt es nicht essen…«

»Nein, das kann man nicht essen!« Gelächter.

»Ihr könnt nicht darin schwimmen, ihr könnt nicht darauf stehen…«

»Nein! Nein!« Diesen Teil lieben sie.

»Die Menschen im Chaos waren selbst voller Chaos, und das Chaos zwang sie, böse Dinge zu tun. Ständig brachten sie andere Menschen um. Und sie aßen Oryx’ Kinder auf, entgegen den Wünschen von Oryx und Crake. Jeden Tag aßen sie Oryx’ Kinder. Sie töteten und töteten und aßen und aßen. Sie aßen sie auch dann, wenn sie gar nicht hungrig waren.«

Entsetztes Luftholen, geweitete Augen: Es ist immer ein dramatischer Augenblick. Oh, diese Schlechtigkeit! Er fährt fort: »Und Oryx hatte nur einen Wunsch – sie wollte, dass die Menschen glücklich sind und in Frieden leben und aufhören, ihre Kinder zu essen. Aber die Menschen konnten nicht glücklich sein, weil das Chaos herrschte. Und da sagte Oryx zu Crake: Lass uns das Chaos beseitigen. Und da nahm Crake das Chaos und goss es weg.« Schneemann demonstriert es, schüttet das Wasser zur Seite, dann stellt er den Eimer verkehrt herum ab. »So. Leer.

Und so hat Crake die Große Neuordnung bewerkstelligt und die Große Leere geschaffen. Er beseitigte den Schmutz, er schuf Raum…«

»Für seine Kinder! Für Crakes Kinder!«

»Richtig. Und für…«

»Und für Oryx’ Kinder auch!«

»Richtig«, sagt Schneemensch. Nehmen seine schamlosen Erfindungen denn nie ein Ende? Wieder ist ihm zum Weinen zu Mute.

»Crake schuf die Große Leere…«, sagen die Männer.

»Für uns! Für uns!«, sagen die Frauen. Es wird allmählich eine Liturgie daraus. »Oh, guter, freundlicher Crake!«

Ihre Anbetung Crakes ist Schneemensch ein Ärgernis, obwohl er selbst daran schuld ist. Der Crake, den sie anbeten, ist sein eigenes Machwerk, ein Machwerk nicht ohne Ironie: Crake war gegen jeden Begriff von Gott, von Göttern aller Art, und es wäre ihm sicher zutiefst zuwider gewesen, wenn er seine allmähliche Vergöttlichung hätte sehen können.

Er kann es aber nicht. Er ist nicht hier, und Schneemensch geht es auf die Nerven, sich diese völlig unangebrachte Schleimerei anhören zu müssen. Warum preisen sie nicht lieber ihn? Guter, freundlicher Schneemensch, der die Verherrlichung eher verdient hat – viel eher: Wer hat sie denn herausgeholt, wer hat sie hierher gebracht, wer hat die ganze Zeit auf sie aufgepasst? Einigermaßen jedenfalls. Sicher nicht Crake! Wieso kann Schneemensch die Mythologie nicht revidieren?

Dankt nicht ihm, dankt mir! Kitzelt mein Ego stattdessen!

Aber vorerst muss er seine Bitterkeit herunterschlucken. »Ja«, sagte er.

»Guter, freundlicher Crake.« Er verzieht den Mund zu einem, wie er hofft, huldvollen, gütigen Lächeln.

Anfangs hat er improvisiert, aber jetzt verlangen sie Dogmen: Jede Abweichung von der Orthodoxie wäre gefährlich für ihn. Sein Leben würde er vermutlich nicht verlieren – diese Menschen neigen nicht zu Gewalt oder zu blutrünstigen Racheakten, bis jetzt jedenfalls nicht –, wohl aber sein Publikum. Sie würden ihm den Rücken kehren, sich von ihm abwenden. Er ist Crakes Prophet geworden, ob er will oder nicht; und auch Oryx’ Prophet. Prophet oder gar nichts. Und gar nichts zu sein, zu wissen, dass er nichts ist, das hielte er nicht aus. Er will, dass man ihm zuhört, er will gehört werden. Er will wenigstens die Illusion haben, dass er verstanden wird.

»O Schneemensch, erzähl uns, wie Crake geboren wurde«, sagt eine der Frauen. Das ist eine neue Forderung, und er ist nicht darauf vorbereitet, obwohl er damit hätte rechnen müssen. Für diese Frauen sind Kinder von großem Interesse. Vorsicht, ermahnt er sich. Liefert er ihnen erst einmal eine Mutter und eine Geburtsszene und einen Säugling Crake, werden sie die Details wissen wollen. Sie werden wissen wollen, wann Crake seinen ersten Zahn bekam und sein erstes Wort sprach und seine erste Wurzel aß und andere Banalitäten dieser Art.

»Crake wurde nie geboren«, sagt Schneemensch. »Er fuhr vom Himmel herab wie Donner. Geht jetzt bitte, ich bin müde.« Er wird diese Fabel später ausschmücken. Vielleicht stattet er Crake mit Hörnern und feurigen Schwingen aus. Und einem Schweif als Dreingabe.