Toast
In seinem zerschlissenen Laken kauert Schneemensch am Waldrand, wo Gras und Wicken und Seetrauben in Sand übergehen. Seitdem es kühler ist, fühlt er sich weniger niedergeschlagen. Außerdem hat er Hunger.
Ein Gutes hat er ja, der Hunger: Man weiß wenigstens, dass man noch lebt.
In den Blättern über ihm raschelt eine Brise; Insekten schnarren und zirpen; die untergehende Sonne wirft ein rotes Licht auf die Türme im Wasser und beleuchtet hier und dort eine noch unversehrte Glasscheibe
– es sieht aus, als wären ein paar Lampen angeschaltet worden. Mehrere Gebäude, die früher Dachgärten hatten, sind von der wuchernden Vegetation kopflastig geworden. Hunderte Vögel, die zu ihren Schlafplätzen zurückkehren, ziehen über den Himmel, auf diese Gebäude zu. Ibisse? Reiher? Die schwarzen sind Kormorane, das weiß er sicher. Krächzend und streitend lassen sie sich im dunkler werdenden Laub nieder. Falls er je Guano brauchen sollte, weiß er, wo er suchen muss.
Von Süden her kommt ein Kaninchen auf die Lichtung gehoppelt, verharrt, lauscht, knabbert mit seinen Riesenzähnen am Gras. Es leuchtet in der Dämmerung, verbreitet einen grünlichen Lichtschein, den es den Iridozyten einer Tiefseequalle verdankt; das war ein Experiment vor langer Zeit. Im Zwielicht sieht das Kaninchen weich und beinahe durchscheinend aus, wie ein Stück Fruchtgelee; als könnte man seinen Pelz ablecken wie Zucker. Schon in seiner Jugend hat es grün leuchtende Kaninchen gegeben, damals waren sie allerdings noch nicht so groß – aber damals waren sie auch noch nicht ihren Käfigen entkommen, um sich mit der wilden Population zu vermischen und zur Landplage zu werden. Dieses Kaninchen hat keine Angst vor ihm, obwohl es fleischfresserische Gelüste in ihm weckt: Er sehnt sich danach, es mit einem Stein zu erschlagen, mit bloßen Händen aufzureißen und sich das Fleisch samt Fell in den Mund zu stopfen.
Aber Kaninchen gehören zu Oryx’ Kindern und sind Oryx selbst heilig, und es wäre keine gute Idee, die Frauen zu kränken.
Er ist selber schuld. Er muss betrunken gewesen sein, als er die Gesetze festlegte. Er hätte Kaninchen essbar machen sollen, auf jeden Fall essbar für ihn, aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Er kann Oryx beinahe hören, wie sie ihn auslacht, mit nachsichtigem, ein wenig boshaftem Vergnügen.
Oryx’ Kinder, Crakes Kinder. Er hatte sich ja etwas einfallen lassen müssen. Deine Geschichte muss logisch sein, so einfach wie möglich, verwickle dich nicht in Widersprüche: Das war der fachmännische Rat, den Anwälte Verbrechern auf der Anklagebank zu erteilen pflegten.
Crake schuf die Knochen von Crakes Kindern aus den Korallen vom Strand und ihr Fleisch aus Mangos. Aber Oryx’ Kinder schlüpften aus einem Ei, einem riesigen Ei, das Oryx selbst gelegt hatte. Sie legte sogar zwei Eier: das eine voller Säugetiere und Vögel und Fische, das andere voller Wörter. Aber die Wörter schlüpften zuerst, und Crakes Kinder waren bereits erschaffen, und sie aßen alle Wörter auf, weil sie Hunger hatten, und deshalb waren keine Wörter mehr übrig, als das zweite Ei aufbrach. Und das ist der Grund, weshalb Tiere nicht sprechen können.
Eine widerspruchsfreie Geschichte ist am besten. Schneemensch hat das schon früher im Leben gelernt, als Lügen noch eine größere Herausforderung für ihn war. Heute kann er auch einen geringfügigen Widerspruch, der ihm versehentlich unterläuft, plausibel erklären, weil diese Leute ihm vertrauen. Er ist der Letzte, der Crake von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hat, also kann er einen direkten Draht zu ihm beanspruchen. Über seinem Kopf flattert das unsichtbare Banner des Craketums, der Crakigkeit, der Crakeschaft und verklärt alles, was er tut.
Am Himmel erscheint der erste Stern. »Die goldnen Sternlein prangen«, sagt Schneemensch. Eine Grundschullehrerin. Riesenarsch-Sally. Jetzt macht eure Augen ganz fest zu. Noch fester! Ganz fest! Da!
Seht ihr den Wunschstern? Wir wünschen uns jetzt alle das Eine, das wir am allermeisten auf der ganzen weiten Welt haben wollen. Aber pssst – ihr dürft es niemandem sagen, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.
Schneemensch kneift die Augen zu, gräbt die Fäuste hinein, zieht das ganze Gesicht zusammen, und da erscheint tatsächlich der Wunschstern: Er ist blau. »Ich wünsche mir, ich wünsche mir, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht…«
Keine Chance.
»O Schneemensch, warum redest du, wenn niemand da ist?«, sagt eine Stimme. Schneemensch öffnet die Augen: Drei der älteren Kinder stehen vor ihm, knapp außerhalb seiner Reichweite, und mustern ihn interessiert. Sie müssen sich in der Dunkelheit angeschlichen haben.
»Ich rede mit Crake«, sagt er.
»Aber mit Crake redest du doch durch dein glänzendes Ding! Ist es kaputt?«
Schneemensch hebt den linken Arm, hält ihnen die Uhr hin. »Damit höre ich Crake. Mit ihm reden geht anders.«
»Warum redest du über Sterne mit ihm? Was erzählst du Crake, o Schneemensch?«
Ja, was?, denkt Schneemensch. Im Umgang mit Eingeborenen, sagt das Buch in seinem Kopf – ein moderneres Buch diesmal, spätes zwanzigstes Jahrhundert, vorgetragen von einer selbstsicheren Frauenstimme –, müssen Sie versuchen, ihre Traditionen zu respektieren und Erklärungen auf einfache Begriffe zu beschränken, die innerhalb ihrer Weltanschauung verständlich sind. Eine ernsthafte Entwicklungshelferin in khakibraunem Dschungel-Outfit, mit Netzen unter den Armen und hundert Taschen. Herablassende, selbstgerechte Kuh, bildet sich ein, sie hätte auf alles die Antwort. Am College hat er solche Mädchen gekannt. Wäre sie hier, brauchte sie eine ganz neue Vorstellung von eingeboren.
»Ich habe ihm erzählt«, antwortet Schneemensch, »dass ihr zu viele Fragen stellt.« Er hält sich die Uhr ans Ohr. »Und er sagt, wenn ihr nicht damit aufhört, werdet ihr Toast.«
»Bitte, o Schneemensch, was ist Toast?«
Wieder ein Fehler, denkt Schneemensch. Er sollte geheimnisvolle Metaphern vermeiden. »Toast«, sagt er, »ist etwas ganz, ganz Schlimmes. Es ist so schlimm, dass ich es nicht einmal beschreiben kann. Jetzt ist Schlafenszeit für euch. Geht weg.«
»Was ist Toast«, sagt Schneemensch zu sich, als sie fortgelaufen sind.
Toast ist, wenn ihr ein Stück Brot nehmt – was ist Brot? Brot ist, wenn ihr soundso viel Mehl nehmt – was ist Mehl? Den Teil lassen wir aus, das ist zu kompliziert. Brot ist etwas, das man essen kann, es besteht aus einer gemahlenen Pflanze und ist geformt wie ein Stein. Man erhitzt es… Bitte, warum erhitzt man es? Warum isst man nicht einfach die Pflanze? Das ist jetzt egal – passt auf. Man erhitzt es, dann schneidet man es in Scheiben, dann steckt man eine Scheibe in einen Toaster, das ist ein Kasten aus Metall, der mit Strom aufgeheizt wird – Was ist Strom? Zerbrecht euch darüber nicht den Kopf. Während die Scheibe im Toaster ist, holt ihr die Butter heraus – Butter ist ein gelbes Fett aus dem Euter von – vergesst die Butter. Also, der Toaster macht die Brotscheibe auf beiden Seiten schwarz, Rauch kommt heraus, und dann schießt dieser ›Toaster‹ die Scheibe in die Luft, und sie fällt auf den Boden…
»Vergiss es«, sagt Schneemensch. »Versuchen wir’s noch mal.« Toast war eine sinnlose Erfindung des Finsteren Zeitalters. Toast war ein Folterwerkzeug, das alle, an denen es angewandt wurde, zwang, die Sünden und Verbrechen ihres früheren Lebens in verbaler Form auszuspeien. Toast war ein rituelles Objekt, das Fetischisten verschlangen, weil sie sich von ihm eine Verbesserung ihrer kinetischen und sexuellen Energie versprachen. Toast lässt sich nicht rational erklären.
Toast ist ich.
Ich bin Toast.