Treibgut

Am weißen Strand, zermahlene Korallen und Knochensplitter, geht eine Gruppe Kinder entlang. Sie müssen im Wasser gewesen sein, denn ihre Haut ist noch nass und glänzend. Sie sollten vorsichtiger sein: Wer weiß, womit diese Lagune verseucht ist. Aber sie sind leichtsinnig; anders als Schneemensch, der keine Zehe ins Wasser tauchen würde, nicht einmal nachts, wenn die Sonne ihn nicht erwischen kann.

Korrektur: vor allem nicht nachts.

Voller Neid sieht er ihnen zu; oder ist es Nostalgie? Nein, das kann es nicht sein, er ist als Kind nie im Meer geschwommen, ist nie nackt an einem Strand herumgerannt. Die Kinder suchen den Boden ab, bücken sich, lesen Treibgut auf; dann beraten sie miteinander, behalten manche Fundstücke, werfen andere wieder weg; ihre Schätze stecken sie in einen zerlumpten Sack. Früher oder später – darauf kann er sich verlassen – werden sie ihn aufspüren, in seinem zerlumpten Laken, die Arme um die Schienbeine geschlungen und an seiner Mango lutschend, tief im Schatten der Bäume wegen der mörderischen Sonne. Für die Kinder, die dickhäutig und resistent gegen UV-Strahlen sind, ist er ein Geschöpf des Zwielichts, der Dämmerung.

Da kommen sie schon. »Schneemensch, o Schneemensch«, stimmen sie ihren Singsang an. Sie kommen ihm nie zu nahe. Aus Respekt, wie er gern annähme, oder weil er stinkt?

(Er stinkt tatsächlich, das weiß er sehr gut. Er mieft, er bockelt, er ranzelt wie ein Walross – ölig, salzig, fischig –, nicht, dass er je so ein Vieh gerochen hätte. Aber er hat Bilder gesehen.) Die Kinder öffnen ihren Sack und singen im Chor: »O Schneemensch, was haben wir gefunden?« Sie nehmen Gegenstände heraus, halten sie hoch wie Ware zum Verkauf: eine Radkappe, eine Klaviertaste, ein Stück einer hellgrünen Limonadeflasche, glatt poliert vom Meer. Eine BlyssPluss-Flasche aus Plastik, leer; einen ChickieNobs-Behälter, ebenfalls leer. Eine Computermaus, jedenfalls der zertrümmerte Rest davon, mit langem drahtigem Schwanz.

Schneemensch kommen fast die Tränen. Was soll er ihnen sagen?

Unmöglich kann er ihnen erklären, was diese sonderbaren Gegenstände sind oder waren. Aber sicher haben sie schon erraten, was er sagen wird, er sagt ohnehin immer dasselbe.

»Das sind Sachen von früher.« Er spricht in freundlichem, aber distanziertem Ton. Eine Kreuzung aus Erzieher, Wahrsager und wohlwollendem Onkel – so sollte sein Tonfall sein.

»Können sie uns wehtun?« Manchmal finden sie Motoröl und ätzende Lösemittel in Dosen, Plastikflaschen mit Bleichlauge. Versteckte Bomben aus der Vergangenheit. Er gilt als Experte für mögliche Unfälle: ätzende Flüssigkeiten, Übelkeit erregende Dämpfe, Giftstäube.

Schmerzen sonderbarer Art.

»Diese nicht«, sagt er. »Die sind harmlos.« Daraufhin verlieren sie das Interesse, lassen den Sack sinken. Aber sie gehen nicht weg: Sie stehen da und starren. Die Treibgutsuche ist eine Ausrede. Hauptsächlich wollen sie ihn ansehen, weil er so anders ist als sie. Manchmal bitten sie ihn, die Sonnenbrille abzunehmen und wieder aufzusetzen: Sie wollen sehen, ob er wirklich zwei Augen hat oder drei.

»Schneemensch, o Schneemensch«, singen sie, weniger an ihn gerichtet als an einander. Sein Name bedeutet ihnen nichts, für sie sind es einfach zwei Silben. Sie wissen nicht, was ein Schneemensch ist, sie haben nie Schnee gesehen.

Eine von Crakes Regeln bestand darin, dass kein Name ausgesucht werden durfte, für den sich nicht eine materielle Entsprechung zeigen ließ, und sei sie ausgestopft oder nur noch ein Skelett. Kein Einhorn, kein Drache, kein Mantikor oder Basilisk. Aber diese Regeln gelten nicht mehr, und für Schneemensch war es ein bitteres Vergnügen, sich dieses zweifelhafte Etikett zuzulegen. Der Abscheuliche Schneemensch

– existent und nicht existent, eine flüchtige Erscheinung am Rand eines Schneesturms, ein affenähnlicher Mensch oder menschenähnlicher Affe, verstohlen, ungreifbar, nur Gerüchte gab es und rückwärts gerichtete Fußspuren. Gebirgsstämme, heißt es, hätten ihn gejagt und, wenn es ihnen gelang, getötet. Sie hätten ihn gekocht, gebraten, ein besonderes Fest veranstaltet – umso erregender, nimmt er an, als dieses Mahl an Kannibalismus grenzte.

Zu gegenwärtigen Zwecken hat er den Namen abgekürzt. Er nennt sich nur Schneemensch. Das Abscheuliche hat er für sich behalten, sein heimliches härenes Hemd.

Nach kurzem Zögern hocken sich die Kinder im Halbkreis nieder, Jungen und Mädchen gemeinsam. Ein paar von den Jüngeren kauen noch an ihrem Frühstück, der grüne Saft rinnt ihnen über das Kinn.

Entmutigend, wie schnell man verkommt, ohne Spiegel. Trotzdem sind sie immer noch erstaunlich anziehend, diese Kinder: jedes nackt, jedes perfekt, jedes von anderer Hautfarbe – schokoladebraun, rosig, teefarben, butter-, krem-, honiggelb –, aber alle mit grünen Augen.

Crakes Ästhetik.

Erwartungsvoll sehen sie Schneemensch an. Anscheinend hoffen sie, dass er mit ihnen spricht, aber er ist heute nicht in Stimmung. Allenfalls wird er sie seine Sonnenbrille aus der Nähe sehen lassen oder seine glänzende, stehen gebliebene Uhr, oder seine Baseballmütze. Die Mütze gefällt ihnen, aber sie verstehen nicht, wozu er so etwas braucht –

abnehmbare Haare, die aber keine Haare sind –, und er hat noch keine Geschichte dazu erfunden.

Eine Zeit lang sind sie still, starren, denken nach; dann fängt der Älteste an. »O Schneemensch, bitte erzähl – was ist das für ein Moos, das aus deinem Gesicht herauswächst?« Die anderen fallen ein. »Bitte erzähl, bitte erzähl!« Kein Quengeln, kein Kichern: Die Frage ist ernst.

»Federn«, sagt er.

Sie stellen diese Frage mindestens einmal in der Woche. Er gibt immer dieselbe Antwort. Schon in einem so kurzen Zeitraum – zwei Monate?

drei? Er hat den Überblick verloren – haben sie sich einen Vorrat an Mythen, an Mutmaßungen über ihn zugelegt: Schneemensch war einmal ein Vogel, aber er hat das Fliegen verlernt, und die meisten Federn sind ihm ausgefallen, deshalb friert er und braucht eine zweite Haut, er muss sich einwickeln. Nein: Er friert, weil er Fische isst, und Fische sind kalt.

Nein: Er wickelt sich ein, weil ihm sein männliches Ding fehlt, und er will nicht, dass wir das sehen. Deswegen geht er auch nicht schwimmen.

Schneemensch hat Falten, weil er früher unter Wasser gelebt hat, und davon ist seine Haut runzelig geworden. Schneemensch ist traurig, weil die anderen, die so waren wie er, über das Meer davongeflogen sind, und jetzt ist er ganz allein.

»Ich möchte auch Federn«, sagt der Jüngste. Eine vergebliche Hoffnung: Unter Crakes Kindern gibt es keine männlichen Bärte. Crake fand Bärte irrational; außerdem ärgerte ihn das ständige Rasieren, und deshalb schaffte er die Notwendigkeit kurzerhand ab. Natürlich nicht für Schneemensch: Für ihn war es zu spät.

Jetzt fangen sie alle auf einmal an. »O Schneemensch, o Schneemensch, können wir auch Federn haben? Bitte?«

»Nein«, sagt er.

»Warum nicht, warum nicht?«, singen die beiden Kleinsten.

»Wartet einen Moment, ich werde Crake fragen.« Er hält seine Uhr zum Himmel hinauf, dreht sie rund um das Handgelenk, dann legt er sie ans Ohr, als lauschte er. Sie beobachten gebannt jede Bewegung.

»Nein«, sagt er. »Crake meint, nein. Keine Federn für euch. Jetzt verpisst euch.«

»Verpisst euch? Verpisst euch?« Sie sehen einander an, dann ihn. Er hat einen Fehler gemacht, er hat etwas Neues gesagt, hat einen Begriff verwendet, der unmöglich zu erklären ist. »Pissen« ist für sie nichts Anstößiges. »Was heißt verpissen!«

»Geht weg!« Er wedelt mit einem Zipfel des Lakens in ihre Richtung, und sie stieben davon, rennen den Strand entlang. Sie sind immer noch unschlüssig, ob sie sich vor ihm fürchten sollen, und wie sehr. Soweit man weiß, hat er noch keinem Kind etwas zu Leide getan, aber sein Wesen ist nicht ganz zu begreifen. Unmöglich, sein Verhalten vorherzusagen.