Wanderung
Nach einer Stunde Fußmarsch kommt Schneemensch aus dem ehemaligen Park heraus. Er bahnt sich seinen Weg weiter landeinwärts, zieht entlang der verwahrlosten Boulevards, Haupt-, Durchgangs- und Seitenstraßen von Plebsland. Solarautowracks sind reichlich vorhanden, manche von ihnen sind zu Massenkarambolagen aufgetürmt, einige ausgebrannt, einige stehen noch intakt da, so als wären sie nur vorübergehend geparkt. Es sind auch Lastwagen und Vans zu sehen, von der alten benzin- oder dieselgetriebenen Sorte, und Geländewagen.
Ein paar Fahrräder, ein paar Motorräder – keine schlechte Entscheidung, wenn man bedenkt, dass sich das Verkehrschaos tagelang hingezogen haben muss. Mit einem Zweirad wäre man in der Lage gewesen, sich zwischen den größeren Fahrzeugen durchzuschlängeln, bis man von jemandem angeschossen oder angefahren wurde oder vom Sitz fiel.
Das hier war mal eine gemischte Gewerbe- und Wohngegend – Läden im Erdgeschoss, inzwischen verwüstet; kleine lichtlose Wohnungen darüber. Die meisten Schilder hängen noch an ihrem Platz, trotz der Einschusslöcher in ihnen. Die Leute hatten die alten Bleipatronen aus der Zeit vor den Energiewaffen gehamstert, obwohl Schusswaffen in Plebsland generell verboten waren. Bislang hat Schneemensch keine Patronen gefunden; nicht, dass er eines der rostigen alten Gewehre besessen hätte, mit der man diese Munition hätte verwenden können.
Die Gebäude, die nicht abgebrannt oder in die Luft geflogen sind, stehen noch, auch wenn sich die Botanik durch jeden Riss drängt. Im Laufe der Zeit wird sie den Asphalt aufbrechen, die Wände zum Einsturz bringen, die Dächer beiseite drücken. Irgendeine Art von Schlingpflanze wächst überall, legt sich über die Fensterbretter, klettert durch die zerbrochenen Fenster in die Häuser und die Stäbe und Gitter hoch. Bald wird dieser Bezirk ein dichtes Gestrüpp von Pflanzenwuchs sein. Wenn er seinen Ausflug noch länger hinausgezögert hätte, wäre der Rückweg unpassierbar geworden. Es wird nicht lange dauern, bis alle Spuren menschlicher Behausung verschwunden sind.
Aber angenommen – nur mal angenommen, denkt Schneemensch –, er ist nicht der Letzte seiner Art. Angenommen, es gibt noch andere. Er erweckt sie kraft seines Willens zum Leben, diese möglichen Reste, die in isolierten Enklaven überlebt haben könnten, abgeschnitten durch den Ausfall der Kommunikationsnetze. Mönche im Wüstenversteck, weitab jeder Ansteckungsgefahr; Ziegenhirten in den Bergen, die sich nie mit den Leuten im Tal vermischt hatten; verlorene Stämme im Dschungel.
Überlebenskünstler, die rechtzeitig Radio gehört, alle Neuankömmlinge erschossen, sich in ihrem unterirdischen Bunker verschanzt hatten.
Hinterwäldler, Menschenscheue; umherziehende Spinner, in ihre eigenen schützenden Halluzinationen gehüllt. Gruppen von Nomaden, die ihre uralten Lebensformen praktizierten.
Wie ist das passiert?, werden ihre Nachkommen fragen, wenn sie auf die Spuren stoßen, die Ruinen. Die ruinösen Spuren. Wer hat diese Dinge gebaut? Wer hat in ihnen gewohnt? Wer hat sie zerstört? Den Tadsch Mahal, den Louvre, die Pyramiden, das Empire State Building –
Zeug, das er im Fernsehen gesehen hat, in alten Büchern, auf Postkarten, bei Blut & Rosen. Man stelle sich vor, darauf zu stoßen, dreidimensional, in Lebensgröße, ohne Vorbereitung – man würde ausrasten, man würde weglaufen, und hinterher brauchte man eine Erklärung. Zunächst wird es heißen, Riesen oder Götter, aber früher oder später wird man die Wahrheit wissen wollen. So wie er werden alle noch ihr neugieriges Affenhirn besitzen.
Vielleicht werden sie sagen: Diese Dinge sind nicht echt. Das sind Hirngespinste. Sie wurden von Träumen ins Leben gerufen, und jetzt, wo sie niemand mehr träumt, verfallen sie.
»Lass uns mal im Rahmen unserer Diskussion annehmen«, sagte Crake eines Abends, »dass die Zivilisation, so wie wir sie kennen, zerstört wird. Magst du Popcorn?«
»Ist das echte Butter?«, sagte Jimmy.
»Nur das Beste bei Watson-Crick«, sagte Crake. »Wenn sie erst einmal dem Erdboden gleich gemacht wäre, könnte man sie nie wieder aufbauen.«
»Und warum nicht? Hast du Salz da?«
»Weil alle verfügbaren Oberflächenmetalle bereits abgebaut sind«, sagte Crake. »Und ohne die gibt es keine Eisenzeit, keine Bronzezeit, kein Zeitalter des Stahls und der ganze Rest. Es gibt tiefer unten Metalle, aber die hoch entwickelte Technik, die es braucht, um die rauszuholen, wäre ausgelöscht.«
»Sie könnte ja wieder zusammengesetzt werden«, sagte Jimmy beim Kauen. Es war schon so lange her, dass er derart gutes Popcorn gegessen hatte. »Man hätte doch immer noch die Baupläne.«
»Hätte man nicht«, sagte Crake. »Es ist nicht wie beim Rad, es ist inzwischen alles zu komplex. Angenommen, die Baupläne hätten überlebt, angenommen, es gäbe noch Leute, die wüssten, wie man die liest. Solche Leute wären hier und da verstreut, und sie hätten keinerlei Werkzeug. Vergiss nicht, keinen Strom. Und dann, wenn diese Leute gestorben sind, das wär’s dann. Sie hätten keine Lehrlinge, sie hätten keine Nachfolger. Willst du ein Bier?«
»Ist es kalt?«
»Alles, was es braucht«, sagte Crake, »ist die Beseitigung einer einzigen Generation. Einer Generation von allem. Käfer, Bäume, Mikroben, Wissenschaftler, Leute mit Französischkenntnissen, was auch immer. Wenn man das zeitliche Bindeglied zwischen einer Generation und der nächsten unterbricht, heißt es für immer: Spiel aus.«
»Apropos Spiel«, sagte Jimmy, »du bist dran.«
Das Gehen ist für Schneemensch zu einem Hindernislauf geworden: An mehreren Stellen hat er Umwege machen müssen. Jetzt befindet er sich in einer engen Seitenstraße, die von Schlingpflanzen überwuchert ist, sie haben sich quer über die Straße gehängt, von Dach zu Dach. Durch die Spalten im Grünzeug über ihm kann er eine Hand voll Geier sehen, die ruhig am Himmel kreisen. Sie können ihn ebenfalls sehen, sie haben die Sehkraft von zehn Vergrößerungsgläsern, diese Viecher können einem das Kleingeld in der Tasche zählen. Er weiß so einiges über Geier.
»Noch nicht«, ruft er zu ihnen hoch.
Aber warum sie enttäuschen? Sollte er stolpern und hinfallen, sich offene Schnittwunden holen, sich bis zum Umfallen verausgaben, dann von Hunölfen oder Organschweinen angefallen werden, wen würde das schon kümmern außer ihn selbst? Den Crakern geht es gut, die brauchen ihn nicht mehr. Eine Zeit lang werden sie sich fragen, wo er wohl abgeblieben sein mag, aber dafür hat er bereits eine Antwort geliefert: Er ist losgezogen, um bei Crake zu sein. Er wird ein Nebenspieler in ihrer Mythologie werden, so wie schon jetzt – eine Art Reserve-Demiurg. Man wird ihn in falscher Erinnerung haben. Man wird nicht um ihn trauern.
Die Sonne steigt höher, ihre Strahlen werden intensiver. Er fühlt sich schwindlig. Eine dicke Ranke schlängelt sich züngelnd davon, als sein Fuß neben ihr aufkommt. Er muss besser aufpassen. Sind irgendwelche der Schlangen giftig? Hatte der lange grüne Schwanz, auf den er beinahe getreten ist, einen kleinen pelzigen Körper vorne dran? Er hat es nicht genau gesehen. Er hofft jedenfalls, dass es nicht so war. Sie haben behauptet, alle Schlatten seien vernichtet worden, aber es brauchte lediglich ein Paar von ihnen. Ein Paar, Schlatten-Adam und Schlatten-Eva, und irgendeinen rachsüchtigen Knallkopf, der sie bitten würde, seid fruchtbar und mehret euch, dem der Gedanke Vergnügen bereiten würde, wie diese Dinger sich die Abflussrohre hochschrauben. Ratten mit langen schuppigen Schwänzen und den Giftzähnen von Klapperschlangen. Er beschließt, nicht weiter darüber nachzudenken.
Stattdessen beginnt er zu summen, sich selbst aufzumuntern. Welche Melodie ist das? »Winter Wunderland«. Das haben sie immer zu Weihnachten in den Einkaufszentren gespielt, noch lange nachdem es das letzte Mal geschneit hatte.
Was für’n Spaß wir mit Herrn Schneemann haben, bis die anderen Kinder ihn zerstören…
Vielleicht ist er letzten Endes gar nicht der Abscheuliche Schneemensch. Vielleicht ist er die andere Art von Schneemann, der grinsende Tollpatsch, der zum Spaß gebaut und zum Zeitvertreib umgeworfen wird, wobei sein Kohlenmund und seine Möhrennase zu Hohn und Spott einladen. Vielleicht ist das sein wahres Ich, der letzte Homo sapiens – die weiße Illusion eines Menschen, heute dort, morgen fort, so einfach umzukippen, der, wenn der Sonne überlassen, schmilzt, dünner und dünner wird, bis er sich verflüssigt und gänzlich zerfließt.
So wie Schneemensch gerade. Er hält inne, wischt sich den Schweiß vom Gesicht, trinkt seine Wasserflasche halb leer. Er hofft, dass er Trinkwasser findet, und zwar bald.
Da vorne lichten sich die Häuser und verschwinden von der Bildfläche.
Es folgt ein Abschnitt mit Parkplätzen und Lagerschuppen, dann Stacheldraht, der zwischen Betonpfosten gespannt ist, ein aufwändiges Tor, aus den Angeln gehoben. Das Ende urbaner Bebauung und die Stadtgrenze des Plebslands, Anfang des Komplex-Geländes. Hier ist die Endstation für die Hochgeschwindigkeitszüge, die in die abgeschotteten schreiend bunten Tunnel fuhren. Keine Gefahr hier, sagen die Farben.
Ein Kinderspiel.
Aber jetzt kommt der gefährliche Teil. Bisher hat er stets etwas zum Raufklettern oder Hochhangeln gehabt, oder etwas, hinter dem er sich ducken konnte, für den Fall eines Flankenangriffs, aber nun kommt eine freie Fläche ohne Schutz und mit wenigen Senkrechten. Er zieht sich sein Laken über seine Baseballmütze, um sich vor der grellen Sonne zu schützen, wickelt sich ein wie ein Araber und schleppt sich weiter, beschleunigt den Gang, so gut er kann. Er weiß, er wird sich selbst durch das Laken hindurch einen Sonnenbrand holen, wenn er lange genug hier draußen bleibt: Er legt seine ganze Hoffnung in die Geschwindigkeit. Er muss bis Mittag, wenn der Asphalt vor Hitze nicht mehr begehbar ist, Schutz gefunden haben.
Jetzt hat er den Komplex erreicht. Er kommt am Abzweig zu Cryojeenyus vorbei, einem der kleineren Unternehmen: Er wäre ja gerne eine Fliege an der Wand gewesen, als die Lichter ausgingen und zweitausend eingefrorene Millionärsköpfe, die auf ihre Wiederauferstehung warteten, im Dunkeln zu schmelzen begannen. Als Nächstes kommt das Gebäude von Genie-Gnomes mit dem Elfenmaskottchen, dessen Kopf mit den spitzen Ohren in ein Reagenzglas rein und wieder raus geht. Das Neonlicht war an, fiel ihm auf: Die Solaranlage funktionierte offenbar noch, wenn auch nicht einwandfrei. Diese Schilder sollten eigentlich nur nachts angehen.
Und schließlich RejoovenEsense. Wo er so viele Fehler gemacht, so viel missverstanden hat, seine letzten Abenteuer erlebt hat. Größer als Organlnc Farms, größer als HelthWyzer. Das Größte von allen.
Er kommt an der ersten Straßensperre mit den abgebrochenen Sensoren für Körperwärme und den eingeschlagenen Suchscheinwerfern vorbei, dann am Wachhäuschen des Kontrollpostens. Ein Wachposten liegt halb drinnen, halb draußen. Schneemensch ist nicht allzu überrascht, dass der Kopf fehlt: In Krisenzeiten können einem die Gefühle schon mal durchgehen. Er sieht nach, ob der Mann noch seine Energiepistole hat, aber nichts.
Als Nächstes kommt ein Streifen, den man unbebaut gelassen hatte.
Niemandsland, hat Crake immer dazu gesagt. Es gibt hier keine Bäume: Man hatte alles, hinter dem man sich hätte verstecken können, abgemäht, das Gelände hatte man in Quadrate mit Reihen von Wärme-und Bewegungsmeldern eingeteilt. Dieser unheimliche Schachbretteffekt ist bereits verschwunden; Unkraut ist überall auf der flachen Oberfläche aufgeschossen wie Bartstoppeln. Schneemensch nimmt sich ein paar Minuten Zeit, das Feld mit den Augen abzusuchen, doch abgesehen von einer Gruppe dunkler Vögel, die sich um irgendeinen Gegenstand am Boden zanken, regt sich nichts. Dann geht er los.
Jetzt ist er auf der eigentlichen Zufahrtsstraße. Eine Spur von Gegenständen, die Leute auf der Flucht fallen gelassen haben müssen, zieht sich den Straßenrand entlang, wie eine Schnitzeljagd. Ein Koffer, ein Rucksack, aus dem sich Kleidung und Nippes ergossen haben; eine Reisetasche, aufgerissen, daneben eine verloren wirkende rosa Zahnbürste. Ein Armband; eine Haarklemme in Form eines Schmetterlings; ein Heft, die Seiten durchweicht, die Handschrift unleserlich.
Die Flüchtlinge müssen am Anfang noch Hoffnung gehabt haben. Sie müssen gedacht haben, sie würden diese Sachen später gebrauchen können. Dann hatten sie es sich anders überlegt und alles fallen lassen.