Oryx
Schneemensch schreckt abrupt aus dem Schlaf. Hat ihn jemand berührt?
Aber es ist niemand da, nichts.
Es ist vollkommen finster, keine Sterne. Anscheinend sind Wolken aufgezogen.
Er dreht sich um, zieht das Laken fester um sich. Er schaudert: Es ist der Nachtwind. Höchstwahrscheinlich ist er noch betrunken; das lässt sich manchmal schwer feststellen. Er starrt in die Dunkelheit hinauf, überlegt, wann es wohl hell werden wird, und hofft, dass er wieder einschlafen kann.
Von irgendwoher tönt der Ruf einer Eule. Diese wilde, heftige Schwingung, ganz nahe und zugleich weit entfernt, wie der niedrigste Ton einer peruanischen Flöte. Vielleicht jagt sie. Was jagt sie?
Er kann jetzt spüren, dass Oryx durch die Luft zu ihm schwebt wie auf weichen, gefiederten Flügeln. Jetzt landet sie, lässt sich nieder; sie ist ihm ganz nahe, liegt neben ihm, seitlich ausgestreckt, nur um Hautbreite entfernt. Wunderbarerweise findet sie neben ihm noch Platz, obwohl die Plattform doch ganz schmal ist. Hätte er eine Kerze oder eine Taschenlampe, könnte er sie sehen, ihre schlanke Silhouette, ein mattes Schimmern vor der Dunkelheit. Streckte er die Hand aus, könnte er sie berühren; aber dann würde sie verschwinden.
»Es war nicht der Sex«, sagt er zu ihr. Sie gibt keine Antwort, aber er spürt, dass sie ihm nicht glaubt. Es macht sie traurig, weil er ihr damit einiges von ihrem Wissen, ihrer Macht nimmt. »Es war nicht nur der Sex.« Ein dunkles Lächeln von ihr: Das ist schon besser. »Du weißt, dass ich dich liebe. Du bist die Einzige.« Sie ist nicht die erste Frau, der er das gesagt hat. Er hätte diese Worte nicht durch zu häufigen Gebrauch in früheren Jahren verschleißen, hätte sie nicht als Werkzeug, als Hebel, als Schlüssel benutzen sollen, um Frauen zu öffnen. Als er dann so weit war, dass er sie ernst meinte, klangen sie in seinen Ohren so falsch, dass er sich schämte, sie auszusprechen. »Nein, wirklich«, sagt er zu Oryx.
Keine Antwort, keine Reaktion. Besonders mitteilsam war sie ja nie, nicht einmal in den besten Zeiten.
»Sag mir nur eines«, fing er oft an, früher, als er noch Jimmy war.
»Stell mir eine Frage«, pflegte sie zu antworten.
Also fragte er, und sie sagte dann: »Ich weiß nicht. Ich hab’s vergessen.« Oder: »Das möchte ich dir nicht sagen.« Oder: »Jimmy, du bist schlimm, das geht dich nichts an.« Einmal hatte sie gesagt: »Du hast eine Menge Bilder im Kopf, Jimmy. Woher eigentlich? Warum denkst du, es wären Bilder von mir?«
Er meinte ihre Unbestimmtheit, ihre ausweichende Art zu verstehen.
»Schon gut«, sagte er dann und strich ihr über die Haare. »Nichts davon war deine Schuld.«
»Nichts wovon, Jimmy?«
Wie lang hatte er gebraucht, um sie aus den Splittern zusammenzusetzen, die er so gewissenhaft gesammelt hatte? Da war Crakes Geschichte von ihr und Jimmys Geschichte von ihr, eine romantischere Version; dann war da ihre eigene Version, die von den beiden anderen erheblich abwich und überhaupt nicht sehr romantisch war. Im Geist blättert Schneemensch in diesen drei Geschichten. Es muss noch andere Versionen geben: die Geschichte ihrer Mutter, die Geschichte des Mannes, der sie gekauft hat, die Geschichte des dritten Mannes – das war der Schlimmste von allen, ein Kerl aus San Francisco, ein scheinheiliger Pseudokünstler; aber diese Geschichten bekam Jimmy nie zu hören.
Oryx war so grazil. Filigran, dachte er, wenn er sich die Knochen in ihrem schmalen Körper vorstellte. Sie hatte ein dreieckiges Gesicht –
große Augen, kleiner Kiefer –, das Gesicht eines Hautflüglers, einer Gottesanbeterin, einer Siamkatze. Eine Haut vom blassesten Gelb, glatt und durchscheinend, wie uraltes, kostbares Porzellan. Wenn man sie ansah, begriff man, dass eine Frau von solcher Schönheit, solcher Schmächtigkeit und bitterarmer Herkunft ein schwieriges Leben geführt haben musste und dass dieses Leben sicher nicht darin bestanden hatte, Fußböden zu schrubben.
»Hast du je Fußböden geschrubbt?«, fragte Jimmy einmal.
»Fußböden?« Sie überlegte eine Minute. »Wir hatten keine Fußböden.
Als ich es zu Fußböden gebracht hatte, war nicht ich diejenige, die sie schrubbte.« Eines erzählte sie jedoch aus dieser frühen Zeit, der Zeit ohne Fußböden: Die Böden aus gestampftem Lehm wurden jeden Tag gefegt. Das war wichtig, denn man schlief darauf und saß beim Essen darauf. Niemand wollte mit altem Essen in Berührung kommen.
Niemand wollte Flöhe.
Oryx kam zur Welt, als Jimmy sieben oder acht oder neun war. Wo genau? Schwer zu sagen. An einem fernen, fremden Ort.
Es sei jedenfalls ein Dorf gewesen, sagte Oryx. Ein Dorf mit Bäumen ringsum und Feldern im weiteren Umkreis, möglicherweise Reisfeldern.
Die Hütten waren mit irgendeinem Reet gedeckt – mit Palmwedeln? –, die besten Hütten hatten sogar Blechdächer. Ein Dorf in Indonesien oder in Myanmar? Nein, dort nicht, sagte Oryx, aber sicher war sie nicht.
Indien war es auch nicht. Vietnam?, riet Jimmy weiter. Kambodscha?
Oryx blickte auf ihre Hände, prüfte ihre Fingernägel. Es war unwichtig.
Sie erinnerte sich nicht, welche Sprache sie als Kind gesprochen hatte.
Sie war zu jung, um sie zu behalten, diese allererste Sprache: Die Wörter waren alle aus ihrem Kopf getilgt. Fest stand, dass in der Stadt, in die man sie zuerst brachte, eine andere Sprache gesprochen wurde, nicht nur ein anderer Dialekt: Sie hatte eine ganz neue Art zu sprechen lernen müssen. Daran erinnerte sie sich: die Schwere und Unförmigkeit der Wörter in ihrem Mund, das Gefühl, mit Stummheit geschlagen zu sein.
In diesem Dorf waren alle arm, und es gab sehr viele Kinder, sagte Oryx. Sie selbst war noch ziemlich klein, als sie verkauft wurde. Ihre Mutter hatte mehrere Kinder, darunter zwei ältere Söhne, die bald groß genug sein würden, um auf den Feldern zu arbeiten, was sehr gut war, denn der Vater war krank. Er hustete fast ununterbrochen; dieser Husten skandierte ihre frühesten Erinnerungen.
Irgendeine Lungenkrankheit, hatte Jimmy vermutet. Natürlich rauchten sie alle wie die Wahnsinnigen, wann immer sie an Zigaretten kamen: Rauchen machte das Leben erträglicher. (Er gratulierte sich zu dieser Erkenntnis.) Die Dorfbewohner führten die Krankheit des Vaters auf verseuchtes Wasser, ein widriges Schicksal, böse Geister zurück.
Jeder Krankheit haftete etwas Beschämendes an; niemand wollte von der Krankheit eines anderen angesteckt werden. Deshalb hatte man zwar Mitleid mit Oryx’ Vater, ging ihm aber aus dem Weg und gab ihm insgeheim die Schuld an seiner Lage. Seine Frau pflegte ihn mit stummem Groll.
Allerdings wurden die Glocken geläutet. Es wurden Gebete gesprochen und kleine Bilder im Feuer verbrannt. Das alles half nichts, der Vater starb. Alle im Dorf wussten, was als Nächstes geschehen würde, denn wenn kein Mann in der Familie war, der auf den Reis- oder Getreidefeldern arbeiten konnte, musste das Lebensnotwendige von anderswoher kommen.
Oryx war ein jüngeres, häufig beiseite geschobenes Kind gewesen, aber nun wurde auf einmal viel Aufhebens um sie gemacht, sie bekam besseres Essen als sonst und eine schöne blaue Jacke, denn die anderen Frauen im Dorf halfen mit und wollten, dass sie gesund und hübsch aussah. Kinder, die hässlich, missgebildet oder nicht besonders klug waren oder die nicht gut reden konnten, ließen sich überhaupt nicht oder nur zu viel niedrigeren Preisen verkaufen. Vielleicht wären die anderen Frauen selbst eines Tages zum Verkauf von Kindern gezwungen, und wenn sie jetzt halfen, könnten sie dann ebenfalls mit Hilfe rechnen.
Im Dorf galt diese Transaktion nicht als »Verkauf«. Immer hieß es, die Kinder gingen fort, um eine Lehre zu machen: Sie lernten, in der weiten Welt ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Damit wurde die Sache versüßt. Außerdem: Was gäbe es denn für sie zu tun, wenn sie blieben, wo sie waren? Vor allem die Mädchen, sagte Oryx. Sie würden nur heiraten und weitere Kinder zur Welt bringen, die dann ihrerseits verkauft werden mussten. Verkauft oder in den Fluss geworfen, der sie ins Meer mitnahm; es war eben nur eine bestimmte Menge an Nahrung da, und die reichte nicht für alle.
Eines Tages kam ein Mann ins Dorf. Es war derselbe wie immer.
Normalerweise kam er mit dem Auto auf der holprigen Lehmstraße, diesmal aber hatte es sehr viel geregnet, und die Straße war schlammig.
Jedes Dorf hatte so einen Mann, der die gefährliche Reise von der Stadt her auf sich nahm; er kam in unregelmäßigen Abständen, aber man wusste es jedes Mal im Voraus, wenn er wieder auf dem Weg war.
»Was für eine Stadt?«, fragte Jimmy.
Aber Oryx lächelte nur. Dieses Gesprächsthema mache sie hungrig, sagte sie. Ob der liebe Jimmy vielleicht den Pizzaservice anrufen wolle?
Champignons, Artischockenherzen, Sardellen, keine Peperoni. »Du auch?«, sagte sie.
»Nein«, sagte Jimmy. »Warum sagst du’s mir nicht?«
»Warum interessiert es dich?«, fragte Oryx. »Mich interessiert es nicht. Ich denke nicht mal dran. Es ist alles so lang her.«
Dieser Mann – sagte Oryx, musterte die Pizza, als wäre sie ein Puzzle, und klaubte die Pilze herunter, die sie gern als Erstes aß – kam immer in Begleitung von zwei anderen, die seine Diener waren und Gewehre hatten, um Banditen abzuwehren. Er trug teure Kleider, und abgesehen von Schlamm und Staub – auf dem Weg ins Dorf wurde jeder schlammig und staubig – war er sauber und gepflegt. Er hatte eine Uhr, ein glänzende goldfarbene Uhr, auf die er häufig blickte, indem er ostentativ den Ärmel hinaufschob, damit auch alle sie sahen; diese Uhr war beruhigend, ein Qualitätssiegel. Vielleicht war sie sogar echt Gold: Das behaupteten manche.
Der Mann galt nicht als Krimineller irgendeiner Art, sondern als ehrenwerter Geschäftsmann, der nicht betrog, jedenfalls nicht sehr, und bar bezahlte. Deshalb wurde er respektvoll behandelt und gastfreundlich aufgenommen, schließlich wollte sich kein Dorfbewohner bei ihm unbeliebt machen. Was, wenn er seine Besuche einstellte? Was, wenn eine Familie ein Kind verkaufen musste und er es nicht kaufen wollte, weil er bei einem früheren Besuch beleidigt worden war? Er war die Bank der Dorfbewohner, ihre Versicherungspolice, ihr wohlwollender reicher Onkel, ihr einziger Talisman gegen Unglück. Und er wurde immer öfter benötigt, denn das Wetter war so seltsam geworden und ließ sich überhaupt nicht mehr vorhersagen – zu viel Regen oder bei weitem nicht genug, zu viel Wind, zu viel Hitze –, und die Ernten litten darunter.
Der Mann lächelte viel und begrüßte etliche Männer aus dem Dorf beim Namen. Stets hielt er eine kleine Rede, jedes Mal dieselbe. Alle sollten glücklich sein, pflegte er zu sagen. Er wolle Zufriedenheit auf beiden Seiten und nirgendwo böses Blut. Habe er sich nicht ein Bein für sie ausgerissen und auch Kinder genommen, die reizlos und dumm waren, eine Last in seinen Händen, nur um ihren Eltern einen Gefallen zu tun? Falls sie mit seinem Geschäftsgebaren nicht einverstanden seien, sollten sie es nur sagen. Aber niemand äußerte Kritik, obwohl hinter seinem Rücken viel gemurrt wurde: Nie zahle er mehr als das absolute Minimum, hieß es. Allerdings wurde er dafür auch bewundert, denn es zeigte, dass er sein Geschäft verstand und die Kinder bei ihm in kompetenten Händen waren.
Jedes Mal, wenn der Mann mit der Golduhr ins Dorf kam, nahm er mehrere Kinder mit, die in der Stadt auf der Straße Blumen an die Touristen verkaufen sollten. Die Arbeit sei leicht, und die Kinder würden gut behandelt, versicherte er den Müttern: Er sei kein gemeiner Gangster oder Lügner und natürlich auch kein Zuhälter. Sie würden ordentlich ernährt und bekämen einen sicheren Schlafplatz, würden gewissenhaft beaufsichtigt und erhielten einen bestimmten Geldbetrag, den sie ihrer Familie schicken oder selbst behalten könnten, das sei ihnen überlassen. Dieser Betrag sei der Lohn ihrer Arbeit abzüglich der Ausgaben für Kost und Logis. (Im Dorf kam nie Geld an. Das wussten alle.) Für die kindlichen Lehrlinge werde er den Vätern beziehungsweise verwitweten Müttern einen guten Preis bezahlen. Er sagte jedenfalls, es sei ein guter Preis; und wenn man bedachte, was die Leute sonst so gewöhnt waren, war er wirklich ganz anständig. Mit Geld aus dem Verkauf eines Kindes konnten die Mütter ihren übrigen Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Das versicherten sie einander.
Jimmy war empört, als er zum ersten Mal davon hörte. Er befand sich damals in seiner Empörungsphase. Und in der Phase, in der er sich bei allem, was Oryx betraf, zum Narren machte.
»Das verstehst du nicht«, sagte Oryx. Sie saß im Bett und war noch mit der Pizza beschäftigt; dazu gab es Cola und als Beilage Pommes frites. Mit den Champignons war sie fertig und verspeiste jetzt die Artischockenherzen. Den Teigrand ließ sie stets übrig. Essen wegzuwerfen, sagte sie, gebe ihr das Gefühl, steinreich zu sein. »Das haben viele getan. So war es Brauch.«
»Ein Scheißbrauch«, sagte Jimmy. Er saß auf einem Stuhl neben dem Bett und beobachtete ihre rosige Katzenzunge, mit der sie sich die Finger ableckte.
»Jimmy, du bist schlimm, du sollst doch nicht fluchen. Magst du die Peperoni? Du hast zwar keine bestellt, aber sie haben trotzdem welche drauf gelegt. Wahrscheinlich haben sie dich falsch verstanden.«
»Scheiße zu sagen ist kein Fluchen. Es ist allenfalls eine plastische Beschreibung.«
»Na gut, ich meine trotzdem, du solltest das nicht sagen.« Inzwischen war sie bei den Sardellen angelangt, die sie immer bis zuletzt aufsparte.
»Ich würde den Kerl am liebsten umbringen.«
»Welchen Kerl? Möchtest du den Rest Cola? Mir wird es zu viel.«
»Den Kerl, von dem du erzählt hast.«
»Ach Jimmy, wär’s dir lieber, wenn wir alle verhungert wären?«, fragte Oryx mit ihrem kleinen plätschernden Lachen. Dieses Lachen fürchtete er am meisten, denn dahinter verbarg sich eine belustigte Verachtung. Es ließ ihn frösteln: ein kalter Windhauch auf einem mondbeschienenen See.
Natürlich war er mit seiner Empörung zu Crake gerannt. Er hatte auf Möbel eingedroschen: Das war die Phase, in der er auf Möbel eindrosch. Was Crake zu sagen hatte, war Folgendes: »Jimmy, sieh’s realistisch. Eine minimale Ernährungslage und eine ständig wachsende Bevölkerung lassen sich auf Dauer nicht unter einen Hut bringen. Homo sapiens ist offensichtlich nicht in der Lage, auf ständige Reproduktion zu verzichten. Er ist eine der wenigen Spezies, die angesichts schwindender Ressourcen ihre Fortpflanzung nicht einschränken. Mit anderen Worten – und bis zu einem gewissen Grad natürlich –, je weniger wir essen, desto mehr vögeln wir.«
»Worauf führst du das zurück?«, sagte Jimmy.
»Vorstellungskraft«, sagte Crake. »Die Menschen können sich ihren Tod vorstellen, sie können ihn herannahen sehen, und der bloße Gedanke an den bevorstehenden Tod wirkt wie ein Aphrodisiakum. So verhält sich kein Hund, kein Kaninchen. Oder sieh dir die Vögel an – in mageren Zeiten reduzieren sie die Zahl der Eier oder paaren sich überhaupt nicht, sondern verwenden ihre Energie darauf, selber am Leben zu bleiben, bis wieder bessere Zeiten kommen. Der Mensch dagegen hofft, er könnte seinem Nachwuchs, einer neuen Version seiner selbst, seine Seele weitergeben und auf diese Weise ewig leben.«
»Als Spezies weiht uns also die Hoffnung dem Untergang?«
»Du kannst das Hoffnung nennen – oder Verzweiflung.«
»Aber ohne Hoffnung sind wir genauso verloren«, sagte Jimmy.
»Nur als Individuen«, antwortete Crake vergnügt.
»Beschissen, finde ich.«
»Jimmy, werd endlich erwachsen.«
Crake war nicht der Erste, von dem er das zu hören bekam.
Der Mann mit der Golduhr blieb mit seinen Dienern und ihren Gewehren über Nacht, er aß mit den Männern des Dorfs, trank mit ihnen. Schachtelweise verteilte er Zigaretten, in Gold- und Silberverpackung, noch mit der Zellophanhülle. Am Morgen sah er sich die zum Verkauf stehenden Kinder an und stellte ein paar Fragen – ob sie Krankheiten gehabt hätten, ob sie gehorsam seien. Und er prüfte ihre Zähne. Sie brauchten gute Zähne, sagte er, denn sie müssten viel lächeln. Dann traf er seine Auslese, Geld wechselte den Besitzer, er verabschiedete sich, und überall gab es höfliches Nicken und Verbeugungen. Er nahm drei oder vier Kinder mit, nie mehr; das war die Zahl, die er bewältigen konnte. Das bedeutete, er konnte sich die besten Exemplare aussuchen. Genauso ging er in allen anderen Dörfern seines Reviers vor. Er war bekannt für seinen guten Geschmack und sein Urteilsvermögen.
Oryx sagte, es sei mit Sicherheit sehr schlimm für ein Kind gewesen, wenn es abgelehnt wurde. Das Leben im Dorf wurde danach schwerer, das Kind verlor an Wert, bekam weniger zu essen. Sie selbst sei als Allererste ausgesucht worden.
Manchmal weinten die Mütter und auch die Kinder, aber die Mütter sagten den Kindern, sie täten etwas Gutes, seien eine Stütze für ihre Familie und sollten mit dem Mann gehen und alles tun, was er ihnen sagte. Wenn sie eine Zeit lang in der Stadt gearbeitet hätten und die Lage wieder besser sei, könnten sie ins Dorf zurückkehren, sagten die Mütter. (Kein Kind kam je zurück.)
Das alles wurde verstanden und wenn nicht gebilligt, so doch verziehen. Trotzdem, wenn der Mann wieder fort war, fühlten sich die Mütter, die ihre Kinder verkauft hatten, traurig und leer. Es kam ihnen vor, als wäre ihre Entscheidung, die sie doch aus freien Stücken getroffen hatten – niemand hatte sie gezwungen, niemand hatte sie bedroht –, gegen ihren Willen gefallen. Sie fühlten sich auch betrogen, als wäre der Preis zu niedrig gewesen. Warum hatten sie nicht mehr verlangt? Aber, sagten sich die Mütter, sie hatten ja keine andere Wahl gehabt.
Oryx’ Mutter verkaufte zwei ihrer Kinder gleichzeitig. Sie tat es nicht nur, weil sie in Bedrängnis war, sondern weil sie dachte, die beiden könnten einander Gesellschaft leisten, könnten sich umeinander kümmern. Das andere Kind war ein Junge, ein Jahr älter als Oryx. Es wurden weniger Jungen verkauft als Mädchen, was aber nicht bedeutete, dass sie deshalb höher geschätzt wurden.
(Oryx deutete den Doppelverkauf als Beweis, dass ihre Mutter sie geliebt hatte. Sie hatte keine Bilder für diese Liebe. Sie konnte keine Anekdoten vorweisen. Es war weniger eine Erinnerung als ein Glaube.) Der Mann sagte, er erweise Oryx’ Mutter einen besonderen Gefallen, denn Jungen machten mehr Ärger, sie gehorchten nicht und rissen häufiger aus, und wer werde ihn dann für die Scherereien bezahlen?
Dieser Junge habe auch nicht die richtige Einstellung, das sei auf den ersten Blick klar, er hatte einen schwarzen Schneidezahn, das gebe ihm einen kriminellen Ausdruck. Aber da er wisse, dass sie das Geld brauche, wolle er großzügig sein und ihr den Jungen abnehmen.