Hammer
Es vergingen mehrere Jahre. Sie müssen wohl vergangen sein, denkt Schneemensch: Er kann sich eigentlich an wenig erinnern, außer dass seine Stimme tief wurde und dass ihm Haare am Körper wuchsen. Was damals nicht besonders aufregend war – es wäre allerdings schlimmer gewesen, wenn das nicht passiert wäre. Er kriegte auch ein paar Muskeln. Er hatte die ersten sexuellen Träume und litt unter Antriebsschwäche. Er dachte viel an Mädchen – in abstrakten Begriffen, gewissermaßen Mädchen ohne Kopf – und an Wakulla Price mit Kopf, obwohl sie sich nicht mit ihm abgab. Hatte er Pickel, war es das? Er erinnert sich nicht; aber er weiß noch, dass es in den Gesichtern seiner Nebenbuhler von Pickeln wimmelte.
Korknuss sagte er zu jedem, der ihm auf die Nerven ging. Zu jedem, der kein Mädchen war. Keiner außer ihm und Alex dem Papagei wusste, was Korknuss eigentlich bedeutete, und deshalb war es ein ziemlich vernichtendes Urteil. Es wurde zum Mode-Schimpfwort unter den Jugendlichen im HelthWyzer-Komplex, und Jimmy galt als mittel-cool.
Hey, Korknuss!
Sein heimlicher bester Freund war Killer. Armselig, dass das einzige Wesen, mit dem er wirklich reden konnte, ein Wakunk war. Seinen Eltern ging er so weit wie möglich aus dem Weg. Sein Dad war eine Korknuss und seine Mutter eine Drohne. Er hatte keine Angst mehr vor ihrem negativen Spannungsfeld, er fand sie beide einfach nur öde; das sagte er sich jedenfalls.
In der Schule inszenierte er einen größeren Verrat an seinen Eltern: Er zeichnete Augen auf die Knöchel beider Zeigefinger und bildete eine Faust um den Daumen. Dann bewegte er die Daumen auf und ab, um darzustellen, wie die Münder sich öffneten und schlossen, und ließ diese beiden Handpuppen miteinander streiten. Die rechte Hand war Böser Dad, die linke Selbstgerechte Mom. Böser Dad schwadronierte und schwafelte und spuckte große Töne, Selbstgerechte Mom nörgelte und klagte an. In der Weltanschauung von Selbstgerechter Mom war Böser Dad die alleinige Ursache von Hämorrhoiden, Kleptomanie, globalen Konflikten, Mundgeruch, tektonischen Grabenbrüchen und verstopften Abflussrohren sowie sämtlichen Anfällen von Migräne und Menstruationsschmerzen, unter denen Selbstgerechte Mom je gelitten hatte. Die tägliche Vorstellung während der Mittagspause wurde zum Hit; Trauben von Mitschülern scharten sich um ihn und baten um Zugaben: Jimmy, Jimmy, mach den Bösen Dad! Die Zuschauer trugen allerlei Variationen und Erweiterungen bei, entliehen aus dem Privatleben ihrer eigenen Elterneinheiten. Manche versuchten es selbst und malten sich Augen auf die Fingerknöchel, aber in den Dialogen war Jimmy unschlagbar.
Manchmal hatte er hinterher ein schlechtes Gewissen, wenn er zu weit gegangen war. Er hätte nicht darstellen dürfen, wie Selbstgerechte Mom in der Küche weinte, weil ihre Eierstöcke geplatzt waren; auch diese Sexszene mit dem Fischstäbchen, 20 Prozent echter Fisch, dem Tagesgericht vom Montag, hätte er nicht veranstalten dürfen – Böser Dad, der über das Fischstäbchen herfällt und es wollüstig zerfetzt, weil Selbstgerechte Mom schmollend in einer leeren Twinkies-Schachtel sitzt und sich weigert, herauszukommen. Solche Sketche waren unter der Gürtellinie, aber das war kein Hinderungsgrund. Leider kamen sie auch einer unbequemen Wahrheit sehr nahe, die Jimmy lieber nicht unter die Lupe nehmen wollte. Doch die anderen stachelten ihn an, und gegen den Beifall war er wehrlos.
»War das geschmacklos, Killer?«, fragte er dann. »War das zu infam?« Infam war ein jüngst entdecktes Wort: Selbstgerechte Mom benutzte es in letzter Zeit sehr oft.
Killer leckte ihm die Nase. Sie verzieh ihm immer.
Eines Tages fand Jimmy, als er von der Schule nach Hause kam, einen zusammengefalteten Zettel auf dem Küchentisch. Er war von seiner Mutter. Schon beim Anblick der Schrift auf der Außenseite – Für Jimmy, zweimal schwarz unterstrichen – wusste er, um welche Art Nachricht es sich handelte.
Lieber Jimmy, stand darin. Bla bla bla, habe mich lange genug mit Schuldgefühlen herumgequält, bla bla, kann nicht länger eine Lebensweise mittragen, die nicht nur als solche sinnlos ist, sondern auch bla bla. Sie wisse, wenn Jimmy alt genug sei, um die Konsequenzen von bla bla zu bedenken, werde er sie verstehen und ihren Entschluss billigen. Sie werde sich später mit ihm in Verbindung setzen, falls dies irgendwie möglich sei. Bla bla werde zwangsläufig eine Suche erfolgen; Untertauchen deshalb unvermeidlich. Sie sei erst nach eingehender Gewissensprüfung, endlosem Nachdenken und unter Seelenqualen zu dieser Entscheidung gelangt, aber bla. Sie werde ihn immer sehr lieben.
Vielleicht hatte sie Jimmy geliebt, denkt Schneemensch. Auf ihre Weise. Damals hatte er ihr jedenfalls nicht geglaubt. Vielleicht hatte sie ihn auch nicht geliebt. Aber irgendein positives Gefühl ihm gegenüber muss sie doch empfunden haben. Musste es nicht so etwas wie Mutterliebe geben?
PS, stand darunter. Ich habe Killer mitgenommen, um sie zu befreien, denn ich weiß, sie wird glücklicher sein, wenn sie frei und wild im Wald lebt.
Auch das hatte Jimmy nicht geglaubt. Er war fuchsteufelswild gewesen. Wie konnte sie so was tun? Killer gehörte ihm! Und Killer war ein zahmes Tier, in der Wildnis wäre sie hilflos und unfähig, für sich zu sorgen, jeder hungrige Räuber würde sie augenblicklich in schwarz-weiße Fetzen zerreißen. Aber Jimmys Mutter und ihre Gesinnungsgenossen müssen doch Recht gehabt haben, denkt Schneemensch, offensichtlich haben sich Killer und die übrigen freigelassenen Wakunks sehr gut durchgeschlagen – wie sonst wäre zu erklären, weshalb sie sich derart vermehrt und in diesem Wald zu einer regelrechten Landplage ausgewachsen haben?
Jimmy trauerte wochenlang. Nein, Monate. Um wen trauerte er mehr, um seine Mutter oder um ein gentechnisch verändertes Stinktier?
Seine Mutter hatte noch eine zweite Nachricht hinterlassen. Nein, keine Nachricht – eine Botschaft ohne Worte. Sie hatte den Computer zerstört, den Jimmys Vater zu Hause stehen hatte, und keineswegs nur die Daten: Sie hatte ihn mit dem Hammer zertrümmert. Eigentlich hatte sie fast jedes Werkzeug aus dem tadellos geordneten und selten beanspruchten Heimwerkerkasten von Jimmys Vater benutzt, aber der Hammer war dann wohl die Waffe der Wahl gewesen. Sie hatte auch ihren eigenen Computer zerstört, sogar noch viel gründlicher, so dass weder Jimmys Vater noch die CorpSeCorps-Leute, von denen das Haus bald wimmelte, nachvollziehen konnten, welche kodierten Nachrichten sie wohin geschickt, welche Informationen sie eventuell heruntergeladen und mitgenommen hatte.
Um die Kontrollstellen und Tore zu passieren, hatte sie angegeben, sie müsse wegen einer Wurzelkanalbehandlung einen Zahnarzt in einem der Module aufsuchen. Die entsprechenden Unterlagen sowie sämtliche erforderlichen Sicherheitsbescheinigungen konnte sie vorweisen, und die Geschichte hatte sogar einen realen Hintergrund: Den Wurzelkanalspezialisten der HelthWyzer-Zahnklinik hatte ein Herzinfarkt dahingerafft, und sein Ersatzmann war noch nicht eingetroffen, weshalb Behandlungen auswärts durchgeführt werden durften. Sie hatte sogar einen echten Termin mit dem Modul-Zahnarzt vereinbart, der Jimmys Vater dann eine Rechnung über ein Ausfallhonorar schickte. (Jimmys Vater weigerte sich zu zahlen, mit der Begründung, es sei schließlich nicht sein Termin gewesen; später hatten er und der Zahnarzt deswegen eine lautstarke Auseinandersetzung am Telefon.) Sie hatte sich gehütet, Gepäck mitzunehmen. Für die kurze Strecke durch Plebsland bis zur Umfassungsmauer des Moduls, die im Taxi zurückzulegen war, hatte sie einen CorpSeCorps-Mann als Begleitschutz bestellt; das war so üblich. Niemand fragte sie aus; sie war bekannt, und sie konnte den genehmigten Antrag, den Pass und alles andere vorweisen. Natürlich hatte kein Wächter am Tor des Komplexes einen Blick in ihren Mund geworfen, wo ohnehin nicht viel zu sehen gewesen wäre: Nervenschmerzen sind unsichtbar.
Der CorpSeCorps-Mann muss mit ihr unter einer Decke gesteckt haben oder er war beseitigt worden; jedenfalls kam er nicht zurück und wurde nie gefunden. So hieß es jedenfalls. Und das erregte endgültig Aufruhr, denn es bedeutete ja, dass mehrere Personen in die Sache verwickelt waren. Aber wer waren sie, und was wollten sie? Die Angelegenheit müsse dringend geklärt werden, sagten die Corps-Leute, die Jimmy in die Zange nahmen. Ob seine Mutter ihm gegenüber je irgendetwas erwähnt habe, wollten sie wissen.
Was meinten sie denn mit irgendetwas, fragte Jimmy. Da waren die mit Minimikro abgehörten Gespräche, aber darüber wollte er nicht reden. Dann die gelegentlichen Bemerkungen seiner Mutter, alles sei zerstört und könne nie wieder so werden wie früher, zum Beispiel das Haus am Strand, das ihre Familie besessen hatte, als sie selbst ein Kind gewesen war, und das fortgeschwemmt worden war, zusammen mit allen übrigen Stränden und ziemlich vielen Städten an der Ostküste, als erst der Meeresspiegel so schnell anstieg und später die riesige Flutwelle kam, ausgelöst von dem Vulkan auf den Kanarischen Inseln. (Sie hatten das in der Schule durchgenommen, im Fach Geolonomie; von der Videosimulation war Jimmy ziemlich beeindruckt gewesen.) Sie weinte auch der Grapefruitplantage ihres Großvaters in Florida nach, die vertrocknet war wie eine einzige riesige Rosine, seitdem es dort nicht mehr regnete; im selben Jahr war der Okeechobee-See zu einer stinkenden Schlammpfütze geschrumpft, und die Everglades hatten drei Wochen lang gebrannt.
Aber alle Eltern trauerten der Vergangenheit nach. Wisst ihr noch, wie man überall hinfahren konnte? Wisst ihr noch, wie alle in Plebsland lebten? Wisst ihr noch, wie wir an jeden beliebigen Ort auf der Welt fliegen konnten, ohne Angst zu haben? Erinnert ihr euch an die Hamburger-Lokale, immer echtes Rindfleisch, erinnert ihr euch an die Imbissstände? Erinnert ihr euch an New York, als es noch nicht New-New York war? Erinnert ihr euch an die Zeit, als das Wählen noch etwas bedeutet hat? Lauter Standardthemen für das Handpuppentheater in der Mittagspause. Ach, damals war alles viel besser. Huhu! Jetzt gehe ich in die Ewinkies-Schachtel. Kein Sex heute Abend!
Seine Mutter war einfach eine Mutter, sagte Jimmy zu dem CorpSeCorps-Mann. Sie verhielt sich wie alle Mütter. Sie rauchte viel.
»Hat sie irgendwelchen, äh, Organisationen angehört? Kamen irgendwelche komischen Leute zu euch nach Hause? Hat sie viel mit dem Mobiltelefon telefoniert?«
»Wir wissen alle Informationen zu schätzen, die du beizusteuern hast, mein Junge«, sagte der andere Corps-Mann. Mein Junge gab den Ausschlag. Nein, sagte Jimmy, nicht dass er wüsste.
Jimmys Mutter hatte ein paar neue Kleidungsstücke für ihn zurückgelassen, in Größen, in die er, wie sie sagte, bald hineinwachsen werde. Die Sachen waren eine Strafe, wie alle Kleider, die sie kaufte.
Und sie waren zu klein. Er ließ sie in einer Schublade verschwinden.
Sein Vater war ziemlich erschüttert, man sah es ihm an; er hatte Angst.
Seine Frau hatte gegen sämtliche geltenden Regeln verstoßen, offensichtlich hatte sie nebenbei ein Zweitleben geführt, und er hatte nichts davon bemerkt. So etwas warf ein schlechtes Licht auf den Mann.
Er sagte, er habe auf dem zerstörten Computer keine wichtigen Informationen gespeichert, aber das hätte er natürlich so oder so behauptet, und ihm das Gegenteil zu beweisen, war unmöglich. Also wurde er mitgenommen und verhört, ziemlich lange. Vielleicht wurde er gefoltert, wie man in alten Filmen und auf manchen üblen Websites sehen konnte, mit Elektroden und Schlagstöcken und rot glühenden Nägeln, und Jimmy machte sich Sorgen und Vorwürfe. Warum hatte er das alles nicht kommen sehen und beizeiten abgewendet, statt niederträchtig den Bauchredner zu spielen?
Während der Abwesenheit von Jimmys Vater wohnten zwei gusseiserne CorpSeCorps-Frauen im Haus, die sich um ihn kümmern sollten, hieß es. Eine Lächelnde und eine Ungerührte. Sie führten zahlreiche Telefongespräche auf ihren Mobiltelefonen; sie sahen sich die Fotoalben an und durchsuchten die Schränke seiner Mutter und versuchten Jimmy zum Reden zu bringen. Sie ist wirklich hübsch.
Glaubst du, sie hatte einen Freund? War sie öfter in Plebsland? Was hätte sie dort tun sollen, sagte Jimmy, und sie sagten, manchen gefalle es dort. Wieso, fragte Jimmy wieder, und die Ungerührte sagte, manche Leute seien eben seltsam, und die Lächelnde lachte und errötete und sagte, man bekäme dort manches, was es hier nicht gebe. Was zum Beispiel, wollte Jimmy fragen, aber er verzichtete darauf, denn die Antwort hätte ihn nur in weitere Fragen verstrickt, etwa nach den Vorlieben und Wünschen seiner Mutter. Der Verrat, den er in der HelthWyzer-Schulcafeteria an ihr begangen hatte, war schlimm genug; zu mehr war er nicht bereit.
Die beiden machten ihm Omelettes, die zäh wie Leder waren; wahrscheinlich hofften sie, eine Lücke in seine Abwehr zu schlagen, indem sie ihn fütterten. Als das nicht wirkte, gab es Tiefkühlgerichte aus der Mikrowelle und ins Haus gelieferte Fertigpizza. War deine Mutter oft im Einkaufszentrum? Ist sie tanzen gegangen? Oh, ganz bestimmt war sie tanzen. Jimmy hätte sie am liebsten geschlagen. Wäre er ein Mädchen gewesen, hätte er in Tränen ausbrechen und ihr Mitgefühl erregen können, um sie auf diese Weise zum Schweigen zu bringen.
Als Jimmys Vater von seinem unbekannten Aufenthaltsort zurückgekehrt war, nahm er therapeutische Hilfe in Anspruch. Er sah auch aus wie einer, der es nötig hatte, mit grünem Gesicht, die Augen rot und verquollen. Auch Jimmy wurde in die Therapie geschickt, aber das war Zeitverschwendung.
Du bist sicher unglücklich, dass deine Mutter fort ist.
Ja.
Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen, mein Jungt. Es ist nicht deine Schuld, dass sie gegangen ist.
Was meinen Sie damit?
Es ist okay, du kannst deine Gefühle ruhig ausdrücken.
Welche soll ich denn ausdrücken?
Du brauchst nicht feindselig zu sein, Jimmy, ich weiß, wie du dich fühlst.
Wenn Sie sowieso wissen, wie ich mich fühle, wieso fragen Sie mich dann?
Und so weiter.
Jimmys Vater sagte, sie beide müssten jetzt einfach zusehen, dass sie sich so gut wie möglich durchschlugen. Also schlugen sie sich durch.
Sie schlugen sich durch, was das Zeug hielt, schenkten sich morgens Orangensaft ein und stellten das Geschirr in die Spülmaschine, wenn sie daran dachten, und nach ein paar Wochen des Durchschlagens hatte Jimmys Vater seine grüne Farbe verloren und begann wieder Golf zu spielen.
Man merkte ihm an, dass er sich insgeheim nicht allzu mies fühlte, seitdem das Schlimmste vorbei war. Er fing an, beim Rasieren zu pfeifen. Er rasierte sich öfter. Nach einer Anstandsfrist zog Ramona ein.
Von nun an verlief das Leben in völlig anderen Bahnen; dazu gehörten auch kichernde, knurrende Sexorgien hinter verschlossenen, aber nicht schalldichten Türen, während Jimmy seine Musik laut aufdrehte und sich bemühte, wegzuhören. Er hätte das Schlafzimmer der beiden verwanzen können, um sich die gesamte Show zu gönnen, aber das widerstrebte ihm zutiefst. Eigentlich war es nur peinlich. Einmal kam es zu einer unangenehmen Begegnung in der oberen Diele, Jimmys Vater in ein Badehandtuch gewickelt, die Ohren vom Kopf abstehend, die Wangen gerötet von der letzten erotischen Tollerei, Jimmy selbst rot vor Scham und bemüht, so zu tun, als wäre nichts. Die beiden hormonberauschten Turteltauben hätten wenigstens so viel Anstand haben können, sich in die Garage zurückzuziehen, statt Jimmy ihr Liebesleben ständig unter die Nase zu reiben. Er hatte das Gefühl, unsichtbar zu sein. Aber das wollte er auch sein.
Seit wann war das denn schon zwischen den beiden gelaufen, fragt sich Schneemensch jetzt. Hatten sie es schon hinter den Organschweinboxen getrieben, im Bioanzug und mit ihren sterilen Masken? Das kann er sich nicht vorstellen: Sein Vater war ein Computerfreak, kein Betrüger.
Obwohl man natürlich beides sein konnte. Aber sein Vater – das glaubt er jedenfalls – war zu wenig durchtrieben und ein zu schlechter Lügner, um sich auf Verrat und Betrug einzulassen, ohne dass seine Mutter es merkte.
Aber vielleicht hatte sie es ja gemerkt. Vielleicht war das der Grund für ihre Flucht, jedenfalls einer von mehreren Gründen. Man fällt nicht mit dem Hammer – zu schweigen vom Elektroschraubenzieher und von der Rohrzange – über den Computer eines anderen her, ohne ziemlich wütend auf ihn zu sein.
Aber sie war eher allgemein wütend gewesen: Ihr Zorn hatte jeden einzelnen Anlass weit überstiegen.
Je mehr Schneemensch darüber nachdenkt, desto mehr ist er überzeugt, dass Ramona und sein Vater sich zurückgehalten hatten. Sie warteten, bis Jimmys Mutter in einem Pixelschauer verschwunden war, ehe sie einander in die Arme fielen. Sonst hätte es dieses ausgiebige, ernste, schuldlose Einander-Anstarren in Andre’s Bistro bei Organlnc nicht gegeben. Hätten sie schon damals eine Affäre gehabt, so hätten sie sich in der Öffentlichkeit kurz angebunden und geschäftsmäßig verhalten oder wären einander überhaupt aus dem Weg gegangen; sie wären in finsteren Ecken zu hastigen, schmutzigen Begegnungen zusammengekommen, hätten sich zwischen abgeplatzten Knöpfen und verhakten Reißverschlüssen auf dem Büroteppich gewälzt, hätten einander auf öffentlichen Parkplätzen ins Ohrläppchen gebissen und sich diese antiseptischen Verabredungen zum Lunch erspart, bei denen sein Vater auf die Tischplatte starrte, während Ramona Karotten verflüssigte. Sie hätten sich nicht bei Grünzeug und Organschweinpastete nacheinander verzehrt und Klein-Jimmy dabei als lebenden Schild benutzt.
Aber Schneemensch fällt keine Urteile. Er weiß, wie so etwas abläuft oder abgelaufen ist. Er ist jetzt erwachsen und hat weit Schlimmeres auf dem Gewissen. Mit welchem Recht könnte er ihnen Vorwürfe machen?
(Er macht ihnen Vorwürfe.)
Ramona forderte Jimmy auf, sich zu ihr zu setzen, musterte ihn mit ihren riesigen, schwarz umrahmten, verschmierten, aufrichtigen Augen und sagte, sie wisse, dass es sehr schwer für ihn sei. Es sei für sie alle ein Trauma, auch für sie sei es nicht leicht, obwohl er das vielleicht, na ja, ein bisschen anders sehe, und sie sei sich bewusst, dass sie seine echte Mutter nie ersetzen könne, aber sie hoffe, sie könnten vielleicht Freunde sein? Jimmy sagte: Klar, wieso nicht, denn abgesehen von ihrer Verbindung mit seinem Vater mochte er sie ganz gern und wollte nett zu ihr sein.
Sie bemühte sich wirklich. Sie lachte über seine Witze, ein bisschen verspätet manchmal – sie war schließlich kein Wortmensch, rief er sich in Erinnerung –, und manchmal, wenn Jimmys Vater fort war, machte sie ein Mikrowellen-Abendessen nur für sie beide; Lasagne und Caesar Salad waren ihre Standardgerichte. Manchmal saß sie neben ihm auf der Couch und sah sich DVD-Filme mit ihm an, machte vorher eine Schüssel Popcorn, goss geschmolzenen Butterersatz darüber und griff mit fettigen Fingern hinein, die sie während der grausigen Szenen ableckte, und Jimmy bemühte sich währenddessen, nicht auf ihre Brüste zu starren. Sie fragte ihn, ob es irgendetwas gebe, das er wissen wolle, über, äh, na ja. Sie und seinen Vater und was mit der Ehe seiner Eltern passiert sei. Er sagte nein.
Insgeheim, nachts, sehnte er sich nach Killer. Und auch – in irgendeinem Winkel, den er sich selbst nicht ganz eingestehen konnte –
nach seiner echten, sonderbaren, unzulänglichen, unglücklichen Mutter.
Wohin war sie verschwunden, in welcher Gefahr war sie? Dass sie in Gefahr war, schien ihm sicher. Man hatte nach ihr gesucht, das wusste er, und an ihrer Stelle würde er nicht gefunden werden wollen.
Aber sie hatte gesagt, sie werde sich mit ihm in Verbindung setzen –
warum tat sie es nicht? Nach einer Weile bekam er tatsächlich mehrere Postkarten, mit Briefmarken aus England, später Argentinien. Sie waren unterzeichnet mit »Tante Monika«, aber er wusste, dass sie von ihr waren. »Hoffentlich geht’s dir gut«, stand darauf, mehr nicht. Sicher wusste sie, dass jede Karte von hundert Schnüfflern gelesen wurde, bevor sie bei Jimmy ankam, und sie hatte Recht, denn mit jeder Karte kamen auch die Corps-Leute und fragten, wer Tante Monika sei. Das wisse er nicht, sagte Jimmy. Er glaubte nicht, dass sich seine Mutter in einem der Länder aufhielt, aus denen die Postkarten kamen, so dumm war sie nicht. Wahrscheinlich ließ sie die Karten von anderen verschicken.
Traute sie ihm nicht? Offenbar nicht. Er hatte das Gefühl, dass er sie enttäuscht, sie in einem entscheidenden Punkt im Stich gelassen hatte.
Er hatte nie begriffen, was von ihm erwartet wurde. Wenn er nur noch eine Chance bekäme, sie glücklich zu machen.
»Ich bin nicht meine Kindheit«, sagt Schneemensch laut. Er hasst diese Wiederholungen. Er kann sie nicht abschalten, er kann nicht das Thema wechseln, er kann nicht aus dem Zimmer gehen.
Was er braucht, ist mehr innere Disziplin oder eine mystische Silbe, die er dauernd wiederholen könnte, um sich auszublenden. Wie nannte man das? Ein Mantra. Das hatten sie in der Grundschule. Religion der Woche. Also gut, Kinder, ihr seid jetzt mäuschenstill, damit bist vor allem du gemeint, Jimmy. Heute tun wir so, als ob wir in Indien lebten, und beschäftigen uns mit einem Mantra. Ist das nicht schön? Wir suchen uns jetzt alle ein Wort aus, jeder ein anderes, so dass jeder sein spezielles Mantra hat.
»Halt die Wörter fest«, schärft er sich ein. Die sonderbaren Wörter, die alten Wörter, die seltenen Wörter. Karniese. Norne. Gelichter.
Lüsternheit. Wenn sie aus seinem Kopf verschwunden sind, diese Wörter, sind sie verloren, überall, für immer. Als hätte es sie nie gegeben.