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ZWANZIG
Vor Bonnies Apartment hatte sich eine Schlange gebildet. Als sie hineingehen wollte, hielt ein Mann sie am Arm zurück.
»Hey! Nicht vordrängeln!«
»Ich wohne hier«, sagte Bonnie.
»Ja, klar.«
»Ja, klar!« Sie entriss ihm ihren Arm und drängelte sich in die Wohnung.
»Sie haben es gerade auf die Liste geschafft!« Er zog Notizblock und Stift heraus. »Wie heißen Sie?«
Sie drängelte sich an der Menge vorbei und quetschte sich durch die Tür. Die anderen warfen ihr böse Blicke zu, aber sie war jetzt nicht in der Stimmung, sich zu erklären.
Ihre Wohnung war gerammelt voll. Sie musste um jeden Schritt kämpfen, war aber sauer genug, um kein Problem damit zu haben, die Ellbogen einzusetzen. Nachdem sie jemanden gebissen hatte, der zu aufdringlich wurde, wagte es keiner mehr, sich ihr in den Weg zu stellen.
Die Schlange endete in ihrer kleinen Küche. Syph saß am Tisch und trank Tee mit einer Frau, deren Haare zu blond und deren Haut zu gebräunt war, was ihr das Aussehen einer Barbiepuppe mittleren Alters verlieh, die gerade genug in plastische Chirurgie investiert hatte, um beinahe menschlich auszusehen, aber eine Operation von dem Punkt entfernt war, an dem es kein Zurück mehr gab.
»Jetzt bin ich dran!«, sagte die Frau.
»Das ist meine Küche«, knurrte Bonnie. »Was zum Henker ist hier los?«
»Ich erkläre es dir sofort«, sagte Syph. »Wir sind gleich fertig.«
Die Frau ließ ein herablassendes Lächeln aufblitzen, während Syph fortfuhr.
»Sterbliche, deine Geschichte hat mein Herz angerührt. Dein Exmann und seine neue Frau sollen mit Furunkeln geschlagen werden, die einen fauligen Gestank verströmen. Im Gegenzug wirst du mir ein Tieropfer bringen und dich selbst geißeln.«
»Ja, dazu wollte ich noch etwas sagen«, sagte die Frau. »Ich bin nicht besonders gut in Tieropfern.«
»Es muss kein niedliches Tier sein. Es kann eine Schlange oder ein Frosch oder ein anderes widerwärtiges Ding sein.«
»Ich mag Schlangen.«
»Du magst Schlangen?«
Die Frau nickte kaum merklich, als müsste sie ein Verbrechen zugeben.
»Wer mag schon Schlangen?« Syph warf Bonnie einen Blick zu und wiederholte die Frage: »Wer mag schon Schlangen?«
»Mir sind sie egal«, antwortete Bonnie.
»Ich möchte lieber gar keine Tiere töten«, sagte die Frau leise, »wenn es dir nichts ausmacht.«
Syph fragte: »Ist Selbstgeißelung dann okay für dich? Denn ich mache das hier nicht zum Spaß. Ich muss eine Entschädigung erwarten. Furunkel sind nicht so einfach, wie du vielleicht denkst.«
»Dafür braucht man eine Peitsche oder so etwas, ja?«
»Ist das ein Problem?«
»Ich habe keine Peitsche.«
»Dann kauf eine«, sagte Syph. »Ich bin mir sicher, die werden auch heute noch verkauft.«
»Sie könnten vielleicht eine aus einem Springseil machen«, schlug Bonnie vor, die im Kühlschrank nach etwas zu trinken suchte.
»Ich hatte gehofft, ich könnte dir einfach ein bisschen Bargeld opfern«, sagte die Frau und zog ein dickes Bündel Scheine aus ihrer Geldbörse. »Wie wäre es mit tausend Dollar? Ist das genug?«
»Verkauft«, sagte Bonnie und schnappte sich das Geld.
»Hey, das ist mein Opfer!«, beschwerte sich Syph.
»Tja, wenn du meine Wohnung als deinen Tempel vermietest, finde ich, ich sollte auch etwas dafür bekommen.« Bonnie blätterte fünfhundert Dollar ab, steckte sie sich in die Tasche und gab den Rest der Göttin.
»Na schön. Dieser Tribut ist akzeptabel. Zusätzlich verlange ich aber, dass du dir die Hand in der Autotür einklemmst. Tu das, dann bin ich zufrieden. Aber die Furunkel werden nur zwei Wochen anhalten. Ich bin keine Wohltätigkeitsorganisation.«
»Ja, Göttin. Du bist so weise und schön, wie du …«
»Ja, ja.« Syph winkte ab. »Jetzt geh, bevor ich es mir anders überlege.«
Die Frau ging. Bonnie stellte sich vor den Mann, der als Nächstes in der Schlange stand. »Eine Sekunde, bitte.«
Der Mann wollte gerade protestieren, als Syph sagte: »Schon gut. Sie ist die … Hohepriesterin.«
»Ja«, stimmte Bonnie zu. »Private Kirchengeschäfte. Also lassen Sie uns einen Augenblick allein.«
Der Mann gehorchte. Bonnie übte ihre priesterliche Autorität aus und schob die Warteschlange so weit zurück, wie es die Menge erlaubte, um halbwegs ungestört mit Syph sprechen zu können.
Sie setzte sich an den Tisch. »Was ist hier los?«
»Ich komme drüber weg«, sagte Syph. »War das nicht dein Vorschlag?«
»Dann ruinierst du jetzt also die Leben anderer Leute? Ist das deine Art, die Sache hinter dir zu lassen?«
Ein perplexer Ausdruck huschte über Syphs Gesicht. »Ich bin die Göttin des Herzeleids und der Tragödie. Das ist mein Job. Was erwartest du sonst von mir?«
Bonnie musste zugeben, dass sie darüber nicht nachgedacht hatte. Sie hatte bemerkt, dass die überwältigende Furcht und Qual der letzten Tage verblasst war. Wahrscheinlich weil die Göttin nicht mehr all ihren Einfluss auf eine einzige Sterbliche konzentrierte. Jetzt hatte Syph reichlich Ziele, auf die sie ihr Elend richten konnte.
Das brachte Bonnie ein bisschen in die Zwickmühle. Wenn sie Syph davon abbrachte, im Namen ungerecht behandelter Sterblicher Rache auszuüben, lud sie sich alles selbst auf. Aber wenn sie es nicht tat, erlaubte sie Syph, Menschen wehzutun. Und es war sogar noch komplizierter. Bonnie war sich nicht sicher, ob dieser Vorgang überhaupt legal war. Sie war nicht auf dem Laufenden, was die neuesten Regelungen für göttliche Strafen anging.
»Muss es so öffentlich passieren?«, fragte Bonnie.
»Die Sache ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen«, gab Syph zu, »aber ich versuche, die verlorene Zeit aufzuholen. Ich habe eine Menge Zorn zu verteilen.«
»Du bringst keine Leute um.« Bonnie beugte sich vor und flüsterte. »Das tust du doch nicht, oder?«
»Sei nicht albern. Das wäre gegen das Gesetz. Und es wäre eine viel zu leichte Strafe für Sünder gegen die heiligen Gaben der Liebe.«
Sie lachte. Es war nicht viel, aber es war der erste echte Augenblick der Freude, den Bonnie bei der Göttin erlebte. Syph war immer noch farblos, strahlte noch immer eine merkliche Kälte aus und lud die Atmosphäre mit einem Anflug von Trübsinn auf. Doch der lauwarme Tee der Göttin war nicht zu einem Eisklotz gefroren, und nichts in der Küche ging plötzlich kaputt oder in Flammen auf. Das war kein schlechtes Zeichen.
»Wie war dein Tag?«, unterbrach Syph Bonnies Gedankengang.
»Nicht gut. Ich war bei deinem Waschbärgott, um mit ihm zu reden.«
»Wo warst du?«, krächzte Syph.
»Beruhige dich. Er war nicht da. Also habe ich mit seinen Anhängern gesprochen. Nette Leute. Na, jedenfalls kamen dann zwei Idioten mit Waffen hereingeplatzt und versuchten, uns ihrem Gott als Blutopfer darzubringen. Bla, bla, bla. Am Ende sind sie angeschossen worden. Ich bin rausgekommen, als die Cops da waren. Übrigens hast du eine Akte beim Büro für Göttliche Angelegenheiten. Ich habe dich angezeigt, wo sie schon mal da waren.«
Bonnie war sich der Gefahren, eine Göttin zu sticheln, zwar bewusst, aber es war ihr egal. Wahrscheinlich deshalb, weil sie sich plötzlich so verdammt gut fühlte, nachdem die schreckliche Bürde der Göttin des Herzeleids von ihren Schultern genommen worden war. Sie war zwar noch nicht ganz verschwunden, aber ein guter Teil davon war jetzt vermutlich anderswo und stellte böse Dinge mit anderen Leuten an. Jetzt war es nicht Verzweiflung, die sie im Griff hatte, sondern ein heiteres Unwohlsein. Der Ausdruck hätte noch vor ein paar Stunden wie ein Paradoxon gewirkt, aber alles war relativ.
Syph sagte: »Und diese zwei Männer … haben sie zufällig den Namen ihres Gottes erwähnt?«
»Gorgoz. Warum? Schon mal von ihm gehört?«
»Nein. Der Name sagt mir nichts.«
Das ungeduldige Murren der Menge war stetig lauter geworden.
»Wir wissen beide, dass ich dich nicht hinauswerfen kann«, sagte Bonnie. »Also tu dir keinen Zwang an und halte Hof, bis das BGA in die Puschen kommt und sich darum kümmert. Ich besorge mir was zu essen, vielleicht geh ich auch ins Kino. Wenn ich zurückkomme, wäre es schön, wenn du für heute Feierabend gemacht hättest.«
Sie erwartete beinahe, von der rachsüchtigen Göttin zu Staub zermahlen zu werden, doch Syph nickte nur. »Natürlich.«
»Wir arbeiten die Terminplanung später detaillierter aus«, sagte Bonnie.
Syph nickte wieder leicht. Doch dieses Nicken warnte Bonnie, ihr Glück nicht herauszufordern.
»Ich komme spät nach Hause. Viel Spaß dabei, Leuten zu helfen, ihre gehässige Natur auszuleben.«
Syph hob ihre Tasse in Bonnies Richtung. »Den habe ich immer.«