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NEUN
Bonnie hatte fürchterliche Träume. Sie glichen nicht ihren normalen Albträumen, waren weder vage noch surreal. Eher eine überarbeitete Wiedergabe ihres Lebens, als hätte jemand einen Film gedreht, alle guten Stellen herausgeschnitten und nur eine Parade von tragischen, schmerzlichen und demütigenden Momenten übrig gelassen. Als sie aufwachte, fühlte sie sich, als hätte sie kein Auge zugetan.
Syph saß mit gesenktem Kopf in der Ecke des Schlafzimmers.
»O Jupiter!«, stöhnte Bonnie. »Was tust du?«
Die Göttin hob den Kopf. Das Haar fiel ihr übers Gesicht, aber sie sah Bonnie mit einem farblosen Auge an.
Bonnie zog sich die Decke über den Kopf. Sie drehte sich um und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch sie spürte, dass die Göttin sie immer noch ansah. Bonnie wollte nur ein bisschen schlafen, Zuflucht in der Bewusstlosigkeit finden. Aber selbst im Schlaf gab es kein Entrinnen vor Syph.
»Es tut mir leid«, sagte die Göttin. »Wegen der Träume. Irgendwann wirst du dich daran gewöhnen.«
»Das glaubst du«, murmelte Bonnie unter der Decke. Sie hatte nicht vor, sich an irgendetwas zu gewöhnen, und sie würde sich bestimmt nicht dem Einfluss der Göttin ergeben. Sie hatte nicht darum gebeten, Syph nachzufolgen, und es musste einen Ausweg geben.
Der Wecker quäkte.
Sie wollte nicht aufstehen. Sie wollte nur hier liegen und dahinsiechen. Aber das war der Einfluss der Göttin, nicht sie selbst. Bonnie war ein glücklicher Mensch. Sie versuchte, in jeder Lage positiv zu bleiben. Das war nicht immer einfach. Nicht nach dem Tod ihrer Mutter. Oder als sie sich das Bein gebrochen und ihr Stipendium bei der Tanzschule verloren hatte. Oder damals, als ihr Hund von einem Auto überfahren wurde. Und dieser Autounfall, als sie glaubte, vielleicht ein Schleudertrauma zu haben. Und das andere Mal, als …
Bonnie setzte sich auf und stoppte die negativen Gedanken, die ihren Geist überschwemmten.
»Tut mir leid.« Syph stand auf. »Hättest du gern ein Frühstück? Ich kann ein paar Eier machen gehen, wenn du willst.«
»Das wäre nett«, antwortete Bonnie unaufrichtig. Sie war nicht hungrig, aber so schaffte sie sich Syph wenigstens vom Leib.
Nachdem die zerlumpte Göttin den Raum verlassen hatte, fühlte sich Bonnie ein bisschen besser. Sie konnte sich aus dem Bett schleppen und anziehen. Duschen brachte sie zwar nicht über sich, aber sie fuhr sich immerhin mit einem Kamm durch die Haare und brachte die Energie auf, sich die Zähne zu putzen. Es war wichtig, die Routine aufrechtzuerhalten, trotz der Last, die sie niederdrückte. Sie durfte der Hoffnungslosigkeit nicht nachgeben.
Syph hatte einen Teller flüssige Eier, verbrannten Toast und eine Schüssel Müsli auf den Tisch gestellt.
»Iss nicht das Müsli«, sagte sie. »Die Milch ist sauer.«
»Die habe ich grade erst gekauft«, sagte Bonnie.
Syph zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid.«
»Tu mir einen Gefallen, ja? Wenn du nicht vorhast, mich in Ruhe zu lassen, könntest du dann wenigstens aufhören, dich ständig zu entschuldigen?«
Vielleicht war es eine optische Täuschung gewesen, aber Bonnie meinte, Syph beinahe lächeln zu sehen.
»Deine Eier werden kalt.«
Obwohl der Küchengeruch noch frisch in der Luft hing, waren die Eier eiskalt. Bonnie konnte es mit bloßem Auge erkennen, denn auf dem Teller bildete sich Eis. Sie aß sie nicht, rührte sie nicht einmal an. Ein Geschenk von einer Göttin des Herzeleids anzunehmen, hätte ihre Probleme nur noch vergrößert.
»Danke«, sagte Bonnie, »aber ich komme zu spät. Ich hol mir unterwegs was.«
»Nein, tust du nicht«, antwortete Syph, »aber danke, dass du dir wenigstens eine Ausrede ausgedacht hast.«
Bonnie fuhr mit dem Bus zur Arbeit. Syph folgte ihr nicht aus der Wohnung, schaffte es aber trotzdem, vor Bonnie im Bus zu sein. Sie hatte ihr sogar einen Platz frei gehalten.
Ein korpulenter Mann mit ewig mürrischem Blick saß hinter ihr. Sein Radio plärrte Hardcore-Speed-Metal, bei dem der Gitarrist so schnell spielte, dass die Töne verschmolzen und der Sänger brüllte. Eine halbe Minute, nachdem sie eingestiegen war, begann das Radio, näselnde Countrysongs über gebrochene Herzen und am Boden zerstörte Liebende zu spielen. Der Mann fummelte an den Knöpfen herum, um einen anderen Sender einzustellen und wechselte sogar die CD – ohne Wirkung. Irgendwann gab er auf und schaltete das Gerät aus.
Syph stieg nicht mit Bonnie aus, doch als sie die Buchhandlung erreichte, war die Göttin schon da und studierte die Zeitschriftenabteilung. Bonnie beschloss, ihr Bestes zu tun, Syph zu ignorieren. Wenn sie sie nicht beachtete, würde sie sich vielleicht trollen und jemand anderen belästigen.
Bonnie ging in den Pausenraum und stempelte ein. Ms Carter, die stellvertretende Geschäftsführerin, zog sie beiseite.
»Ich bin mir sicher, es geht Ihnen heute besser, Bonnie.«
Ein Vorwurf lag in ihrer Stimme. Ms Carter war eine Nörglerin. Bonnie arbeitete jetzt seit vier Jahren bei Books ’n’ More und hatte bisher nur einen Tag gefehlt. Das war zufällig Ms Carters erster Tag als stellvertretende Geschäftsführerin gewesen. Jetzt war Bonnie als Faulpelz gebrandmarkt. Ihr Nasenring half vermutlich auch nicht, und sie war sich ziemlich sicher, dass ihre kurzen Haare sie Ms Carters Meinung nach als potenzielle Lesbe auswiesen.
»Viel besser«, antwortete Bonnie.
Es stimmte nicht ganz. Sie war nicht sie selbst, aber sie gewöhnte sich langsam daran. Die Göttin hatte recht gehabt. Gestern – das war hart gewesen. Die vergangene Nacht noch härter. Der heutige Morgen schon gar nicht mehr so schlecht. Sie spürte immer noch das Gewicht auf ihrer Brust, den Wunsch, sich dem Vergessen hinzugeben. Aber das war nicht sie selbst. Das war der Einfluss der Göttin. Dieses Wissen half ihr, damit zu leben.
Die Carter zog ein finsteres Gesicht, aber sie zog immer ein finsteres Gesicht. »Gut, Bonnie. Ich hoffe, wir können darauf vertrauen, dass Sie ein verlässliches Mitglied der Books ’n’ More-Familie sind.«
»Ja, Ms Carter.«
Ihre Chefin ging mit ihrem typischen Kick-Step-Gang davon.
Bonnie entdeckte, dass es nicht so einfach war, Syph zu ignorieren. Die zerlumpte Göttin sprach nicht mit Bonnie und folgte ihr auch nicht. Sie lungerte lediglich im Laden herum, schlich die Regale entlang, trank einen Latte macchiato im Ladencafé, blätterte das Zeitschriftenregal durch und schlug ansonsten wie jede andere Kundin auch die Zeit tot. Aber es gab Probleme.
Eine Kundin warf einen Stapel Brautmagazine auf den Tresen, während Bonnie die Kasse machte.
»Ich möchte die hier zurückgeben«, sagte die Frau.
»Tut mir leid, Zeitschriften nehmen wir nicht zurück«, antwortete Bonnie. »Anweisung von oben.«
»Aber sie sind fehlerhaft.« Die Kundin öffnete die oberste Zeitschrift und zeigte auf eine zufällige Seite. »Schauen Sie!«
Auf den ersten Blick wirkte das Bild in Ordnung. Ein genauerer Blick zeigte jedoch die Anomalie. Die schöne Braut war gar nicht so schön. Sie hatte das perfekte Kleid, die perfekte Frisur und den perfekten Brautstrauß. Aber sie fletschte die Zähne, und die Wimperntusche um ihre tränenden Augen war verschmiert.
Bonnie blätterte die Seiten durch. Es wurde nur noch schlimmer. Artikel waren mit »Wie vergifte ich den betrügerischen Mistkerl?« und »Die 10 besten Gründe, warum du allein sterben wirst« überschrieben. Perfekte Fotobräute zogen finstere Gesichter und wurden auf späteren Bildern zu gekrümmten, welken Gestalten in zerfetzten, fleckigen Kleidern. Das Schlimmste war eine Doppelseite einer Hochzeit, wo der Bräutigam beschlossen hatte, seine zukünftige Braut für die Brautjungfer zu verlassen. Bonnie konnte das verstehen, fand es aber dennoch ein bisschen übertrieben, dass das glückliche Paar seine Liebe im Mittelgang der Kirche vor allen Gästen vollzog.
Die Zeitschrift Modern Homes war voller Fotos von brennenden und einstürzenden Häusern. Alle Pflanzen in den Gartenzeitschriften waren tot. Die Katzenzeitschrift öffnete Bonnie in weiser Voraussicht erst gar nicht.
»Ich will mein Geld zurück«, sagte die Kundin. »Ist mir egal, was Sie für Vorschriften haben.«
»Ja, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Bonnie. »Einen kleinen Augenblick bitte.«
»Hey, Bonnie«, sagte Vince, »hast du die Carter gesehen?«
»Ich glaube, sie ist in ihrem Büro.«
»Da ist sie nicht. Hab nachgesehen.« Er beugte sich über den Tresen und wühlte in der Schublade neben ihr. »Weißt du wenigstens, wo der Schlüssel ist, mit dem man den Radiosender wechseln kann? Ich hab langsam die Schnauze voll davon, ›Copacabana‹ in Dauerschleife zu hören.«
Barry Manilows schmachtender Vortrag seiner tragischen Geschichte hing in der Wiedergabewiederholung fest. Und es schien, als würde Lolas Ende ungefähr alle zehn Minuten noch ein bisschen tragischer. Bonnie konnte sich nicht vorstellen, dass in der Originalversion ein Erdbeben die Erde aufriss und sowohl das Mädchen mit dem gebrochenen Herzen als auch das Copacabana und dazu noch einen Trupp verwaister Pfadfinder verschluckte, die zufällig in dem Nachtclub gewesen waren, um nach dem Weg zu einem Wohltätigkeitspfadfinderlager zu fragen.
»Irgendwer wird da bei diesem Sender seinen Job verlieren«, sagte Vince.
Sie heuchelte Ahnungslosigkeit.
Nachdem sie der Kundin ihr Geld zurückgegeben und die Zeitschriften weggeworfen hatte, um die Beweise loszuwerden, spürte Bonnie Syph im Café auf.
Bonnie sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Was tust du?«
»Ich würde ja sagen, es tut mir leid, aber du hast mich gebeten, das nicht mehr zu tun.«
Die Bedienung stellte eine Tasse Kaffee vor die Göttin hin. »Bitte schön, Ma’am. Leider sind alle unsere Milchprodukte verdorben, deshalb ist er gratis.«
»Oh, danke schön! Ich trinke ihn sowieso am liebsten schwarz. Schwarz wie die endlose Nacht, die am Ende alle sterblichen Seelen einhüllt und verschlingt.«
Bonnie sah sich um, bevor sie sich vorbeugte. »Das kannst du nicht tun«, flüsterte sie. »Ich arbeite hier!«
»Was erwartest du von mir?«
»Geh weg. Geh nach Hause. Wenn du mich nicht in Ruhe lassen kannst, dann geh wenigstens zurück in meine Wohnung und warte dort auf mich.«
»Dort gibt es nichts zu tun.« Syph nippte an ihrem Kaffee. Sie runzelte die Stirn. »Bitterer als ich erwartet hatte, aber andererseits ist er das ja immer.«
»Könnte ich Sie einen Moment sprechen, Bonnie?«, fragte die Carter. »Aber nur, falls Sie nicht zu beschäftigt sind mit Plaudern.«
Bonnie setzte ein falsches Lächeln auf und wandte sich von Syph ab.
»Haben Sie das gesehen?« Die Carter hob einen Roman mit dem Titel Die leeren Versprechungen der Liebe hoch. Das Cover war klassisch, nur dass die Motive nicht besonders attraktiv wirkten. Der langhaarige Held war schwabbelig, während die rothaarige Heldin schielte und einen Buckel hatte. Sie hatten einander den Rücken zugewandt, und die wirkliche Schande war, dass sie auf diese Weise nicht merkten, dass eine panische Rinderherde auf sie zustürmte.
»Ich glaube, hier geht etwas vor sich.« Ms Carter deutete über Bonnies Schulter auf die Göttin. »Und ich glaube, es hat mit dieser Kundin da zu tun. Ich glaube nicht, dass sie eine normale Frau ist.«
»Wahrscheinlich nur eine Obdachlose«, sagte Bonnie. »Sie könnte gefährlich sein. Ich werde mich um sie kümmern. Sie sind viel zu wertvoll für das Unternehmen, um das Risiko einzugehen …«
Ms Carter drängte sich an Bonnie vorbei. »Entschuldigen Sie bitte, Miss. Ich muss Sie leider bitten, das Geschäft zu verlassen.«
Syph nahm noch einen Schluck. »Das kann ich nicht. Nicht ohne sie.«
Die Carter folgte dem Blick der Göttin, der zu Bonnie flog.
»Ich kann das erklären, Ms Carter. Wirklich. Das ist alles nur ein Missverständnis.«
»Kein Missverständnis. Ich bin ihre Göttin.«
»Nein, ist sie nicht! Ist sie nicht! Ich habe nicht um ihre Gunst gebeten und auch nicht darum, ihr nachzufolgen.«
»Du hast Hallo gesagt«, bemerkte Syph.
»Ich sage dir ständig, das zählt nicht!«
Die Göttin zuckte mit den Schultern.
Ms Carters Blick wurde noch finsterer. »Bonnie, das Gesetz verbietet es Books ’n’ More, jemanden allein wegen der Wahl seines Gottes oder seiner Göttin zu diskriminieren …«
»Sie ist nicht meine Göttin!«, sagte Bonnie mit ein bisschen mehr Nachdruck, als sie vorgehabt hatte.
Ms Carters Stirn runzelte sich zu einem missbilligenden Blick. Wahrscheinlich würde dieser Ausbruch seinen Weg in Bonnies Personalakte finden.
Sie zog die Carter enger an sich und flüsterte: »Das ist nur vorübergehend. Ich unternehme Schritte, um sie loszuwerden.«
Carters Kiefermuskeln spannten sich. »Die Politik von Books ’n’ More beruht auf dem Geist der Toleranz gegenüber seinen Angestellten und den gewählten göttlichen Mächten, denen sie sich anschließen möchten, vorausgesetzt, diese Orientierung hat keine negativen Auswirkungen auf ihre Arbeitsleistung.« Sie hob den Roman hoch. »Sieht das aus, als hätte es keine Auswirkungen auf Ihre Arbeit, Bonnie?«
»Hören Sie, ich nehme jetzt meine Pause«, sagte Bonnie.
Sie nahm der Carter das Buch aus der Hand. Es ging augenblicklich in Flammen auf. Sie ließ es fallen und schlug die Flammen mit einer fehlerhaften Zeitschrift aus.
Die Carter räusperte sich.
»Ich mache eine frühe Mittagspause«, sagte Bonnie mit einem Lächeln. »Sie kommt mit mir, und wenn ich zurückkomme, dann allein. Alles wird gut. Ich verspreche es!« Sie packte Syphs Hand, ignorierte den kalten Schauder, der sie überlief, und zerrte die Göttin zur Tür.
Es gab ein Burger Town etwas weiter die Straße entlang. Bonnie bestellte ihr Mittagessen, dann setzte sie Syph an einen Tisch.
»Wir müssen reden«, sagte sie. »Ich weiß, du bist eine Göttin – und dass ich dich allein nicht loswerde. Aber ich glaube, wir wissen beide, dass ich von den Göttlichen Angelegenheiten todsicher eine einstweilige Verfügung bekomme. Warum ersparst du mir also nicht die Mühe, eine Klage einreichen zu müssen und …«
»Das wird dich nicht retten. Du glaubst doch nicht, du seist die Erste, die zu den Behörden rennt, oder?«
»Aber du musst den Urteilen des Gerichts folgen«, sagte Bonnie.
»Du kapierst es nicht, oder? Ja, wenn das Gericht es anordnen würde, müsste ich dich als meine Anhängerin entlassen. Aber es kostet Zeit, einen Fall vor Gericht zu bringen; Zeit, bis ein Urteil gesprochen wird. Mindestens ein paar Monate. Und keiner meiner Anhänger hat so lange durchgehalten.«
Sie seufzte. Eine Taube flog neben ihnen gegen die Scheibe und brach sich das Genick.
Bonnie stopfte sich eine Handvoll Pommes frites in den Mund. Unter Syphs Einfluss waren sie kalt und matschig. So würde Bonnies Leben also für eine absehbare Zeit aussehen. Ein unablässiges Sperrfeuer metaphorischer matschiger Pommes. Kein einziger Tropfen Freude. Nur Unhappy Ends. Eine endlose Depression, die irgendwann ihre Seele auffressen würde.
»Wie viele Monate habe ich?«, fragte Bonnie.
»Vier, vielleicht fünf«, sagte Syph. »Einer hat fast ein halbes Jahr durchgehalten, bis er den Lebenswillen verlor. Sein Herz hörte einfach auf zu schlagen, und er wurde zu Stein. Wirklich schade um ihn. Ich mochte ihn eigentlich ganz gern.«
Bonnie legte den Kopf auf den Tisch und hätte fast geweint. Fast.
»Nein!« Sie setzte sich auf und knallte die Handflächen auf den Tisch. »Ich gebe nicht auf! Ich werde hier nicht herumsitzen und zulassen, dass du mich umbringst!«
Überrascht riss Syph die Augen auf. Es war das erste Mal, dass Bonnie Syph irgendwie anders als deprimierend resigniert erlebte.
»Es muss einen Weg geben, das in Ordnung zu bringen«, sagte Bonnie. »Sterbliche haben auch früher schon erfolgreich die Götter herausgefordert.«
»Nicht sehr lange. Das Zeitalter der Sagen ist schon eine Weile vorbei. Ein Jammer. Das waren noch Zeiten.«
Syph lächelte und seufzte wehmütig. Bonnie wappnete sich gegen einen weiteren toten Vogel oder den eisigen Wind oder eine symbolische spontane Selbstentzündung. Stattdessen bewegte sich die dunkle Wolke, die die Sonne verbarg, zur Seite und erlaubte es ein paar warmen Strahlen, auf Bonnie und ihre Göttin herabzuscheinen. Der Augenblick dauerte nicht lange. Die Wolke sprang sofort wieder an ihren Platz vor der Sonne, und eine Küchenschabe kroch unter Bonnies Burgerbrötchen hervor.
Sie schnippte sie weg. »Was ist gerade passiert?«
»Hmmm?«
»Ich fühle mich plötzlich besser.« Bonnie biss von einer Fritte ab. Es war immer noch geschmacksneutral, aber da war jetzt doch ein kleines bisschen Knusprigkeit. »Und du auch. Leugne es nicht. Ich habe dich lächeln sehen.«
»Vielleicht habe ich das getan. Darf ich nicht ab und zu mal lächeln? Muss ich immer mürrisch sein?«
»Ich weiß nicht, musst du? Du bist die Göttin der Tragik und Hoffnungslosigkeit, oder nicht?«
»Das war ich nicht immer.« Syph sprach leise und peinlich berührt. »Vor langer Zeit … na ja, das ist wohl jetzt nicht mehr wichtig.« Sie sank in sich zusammen, und ein Riss erschien in der Scheibe. »Ist nicht der Rede wert.«
Da war sich Bonnie nicht so sicher.
»Götter können ihren Zuständigkeitsbereich ändern?«, fragte sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das könnt.«
Syph nickte.
»Warum änderst du dich dann nicht einfach? Du bist doch offensichtlich nicht besonders glücklich als Göttin der Tragik.«
»So läuft das nicht. Ich kann nicht beschließen, mich zu ändern. Ich kontrolliere das nicht.«
»Wie?«
»Es ist nicht wichtig. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
»O nein. So leicht kommst du mir nicht davon!«
Überrascht zog Syph die Augenbrauen hoch.
»Das ist so lange her, ich erinnere mich kaum noch daran, als ich nicht die war, die ich jetzt bin.« Ein widerstrebendes Lächeln ging über Syphs Gesicht. Die Wolke rückte beiseite und ließ die halbe Sonne scheinen.
Bonnie biss in ihren Burger, nachdem sie ihn auf Schaben untersucht hatte, und entdeckte, dass er nicht absolut furchtbar war. Er war zwar nicht gut, aber sie hatte auch nicht das Bedürfnis, ihn auszuspucken. Sie klammerte sich an jede mögliche Lösung ihres Göttinnenproblems. Zumindest linderte es ihr Leiden, wenn sie Syph dazu brachte, darüber zu sprechen. Das musste etwas zu bedeuten haben.
»Du hast mich da hineingezogen«, sagte Bonnie. »Du schuldest mir was.«
»Ich wüsste nicht, warum das relevant sein sollte.«
Bonnie lächelte freudlos. »Sei so nett.«
Syph dachte kurz darüber nach. Es musste ihren Tag versüßt haben, denn die Wolke verpuffte.
»Das ist lustig. Bis jetzt hat mich noch nie jemand danach gefragt. Es hat keinen jemals interessiert.«
Bonnie interessierte es auch nicht. Zumindest die Göttin selbst nicht. Aber wenn Syph sich dadurch besser fühlte und Bonnies Leben dabei besser machte, war sie absolut bereit mitzuspielen. Sie tätschelte über den Tisch hinweg Syphs Hand. Die war kalt, aber nicht mehr so kalt wie vorher.
»Du würdest es mir nicht zutrauen, wenn du mich jetzt siehst«, sagte Syph, »aber einst war ich die Göttin der Liebe. Ich brachte allen um mich herum nur Freude und Hoffnung, machte die Welt zu einem schöneren Ort. Alles, was ich berührte, wurde durch meine Anwesenheit erhellt, und meine Gunst wurde von Königen und Bauern gleichermaßen begehrt.
Doch mein Einfluss endete nicht bei den Sterblichen. Mir wurde von den besten Göttern der Hof gemacht. Die mächtigsten Gottheiten suchten meine Gesellschaft. Es gab keinen Gott, den ich nicht allein mit einem prüden Lächeln und einem koketten Seitenblick verführen konnte.«
Bonnie musterte die farblose, eisige Göttin, die ihr da gegenübersaß. Es war schwer vorstellbar.
»Und ich bin mit ihnen allen ausgegangen«, sagte Syph. »Vom unbedeutendsten Sterblichen bis zum mächtigsten der Göttlichen. Ich habe meine Freude fröhlich und sorglos über Himmel und Erde verstreut und hätte das bis ans Ende der Zeiten auch weiterhin getan.«
»Und was ist passiert?«
Syph seufzte. Die Wolke kam zurück, größer und schwärzer als zuvor.
»Ich habe mich verliebt.«
Bonnie wartete auf eine weitere Erklärung, doch Syph saß nur da. Sie biss sich auf die Unterlippe, während eine einzelne blutrote Träne über ihre Wange lief.
»Ich verstehe nicht«, sagte Bonnie. »Hätte das nicht etwas Gutes bedeuten sollen?«
Syph gluckste. Oder versuchte es zumindest. Was aus ihrer engen Kehle kam, war aber mehr ein erstickter Grunzlaut.
»Würde es einer Totengöttin nützen, selbst zu sterben? Oder einer Kriegsgöttin, zu sehen, wie die Welt der Sterblichen in einem nuklearen Holocaust verzehrt wird? Die Bedürfnisse und das Wohlergehen der Götter hängen nicht allein von einem einzelnen Beweggrund ab.«
»Daran hatte ich nicht gedacht«, gab Bonnie zu.
»Die meisten Sterblichen denken nicht daran. Ihr glaubt, es sei so leicht, ein Gott zu sein. Aber wir sind genauso fehlbar und töricht wie die Sterblichen. Vielleicht sogar noch mehr, denn unsere Unsterblichkeit führt oft zu Langeweile, und Langeweile führt zu Leichtfertigkeit. Und es ist einfach, leichtfertig zu sein, wenn die Unsterblichkeit uns normalerweise davor bewahrt, uns mit den Konsequenzen unserer Taten auseinandersetzen zu müssen.« Sie lachte wieder bitter auf. Die Wolke grollte und wuchs über den halben Himmel.
»Zuerst war es großartig. Ich, die Göttin der Liebe, hatte die Liebe entdeckt. Wahre Liebe. Meine Macht mehrte sich, und eine Weile glaubte ich, ich wäre vielleicht sogar in der Lage, auf Erden und in den Himmeln ein goldenes Zeitalter herbeizuführen.«
»Was ist passiert?«
Syph senkte den Kopf und murmelte vor sich hin.
»Was?«, fragte Bonnie.
Syph zog ihre Hand weg und musterte ihre Fingernägel. »Er hat mich sitzen lassen.«
Ein Gewitter materialisierte sich über Burger Town. Menschen rannten und suchten Schutz, als winzige, herzförmige Hagelkörner herabregneten. Beim Aufprall zerplatzte jedes Korn genau in der Mitte.
»Und?«, fragte Bonnie.
Syph blickte ihr in die Augen. »Und was?«
»Und was dann? Es muss ja noch etwas passiert sein, um dich zu verändern.«
»Du verstehst es immer noch nicht, oder? Ich wurde abserviert.«
»Warte mal«, sagte Bonnie. »Springt ihr Götter und Göttinnen nicht die ganze Zeit von einem zum anderen? Habt ihr nicht kurze Schwärmereien, gefolgt von hohlen Beziehungen? Ihr betrügt euch doch immer gegenseitig, oder nicht?«
»Nicht immer.«
»M-hm«, sagte Bonnie skeptisch.
»Also gut, normalerweise stimmt das. Obwohl es schon echte und lange haltende Ehen unter den Göttern gibt. Wenn auch nicht viele, muss ich zugeben. Unsterblichkeit und Langeweile sind selten gesund für Langzeitbeziehungen.«
»Was ist dann das Problem?«, wollte Bonnie wissen. »Er hat mit dir Schluss gemacht. Das ist unter Unsterblichen doch an der Tagesordnung, oder?«
»Nein. Nicht die Tagesordnung. Das Richtige wäre gewesen, mich zu heiraten. Selbst wenn er mich nicht liebte, hätte er mich besitzen wollen müssen, denn ich wurde von anderen begehrt. Oder er hätte warten können, bis genug Zeit vergangen wäre und wir uns auf natürliche Weise auseinandergelebt hätten. Aber er hat mich abserviert. Mich. Die Göttin der Liebe – zurückgewiesen von ihrer ersten wahren Liebe. Es war meine Blütezeit, und er war nur ein geringer Gott. Aber ich habe ihn auserwählt, trotz Dutzender anderer Anträge von viel einflussreicheren und begehrenswerteren Gottheiten. Zeus höchstpersönlich gehörte zu meinen Verehrern.«
»Du hättest fast Zeus geheiratet?«
»Geheiratet? Nein, nicht geheiratet. Darüber wäre Hera nicht sehr glücklich gewesen. Aber er hat mir angeboten, mir eine Eigentumswohnung auf dem Olymp zu kaufen, zusammen mit einem großzügigen Taschengeld.«
Bonnie lächelte. »Willst du mir sagen, dass du beinahe eine göttliche Mätresse geworden wärst?«
»Es war ein sehr großzügiges Angebot. Ich habe es allerdings nicht in Erwägung gezogen. Nicht ernsthaft. Aber es war schön, gefragt zu werden.«
Der Sturm löste sich auf. Die Sonne strahlte. So ungern Bonnie der Göttin die Stimmung und das Wetter auch vermiesen wollte, sie brauchte doch Antworten.
»Wie wäre es, wenn du mir von dem Kerl erzählst?«
Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst, aber es war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Die kleine Wolke bedeckte die Sonne, und ihre restlichen Pommes waren plötzlich von einem haarigen orangefarbenen Pilz überzogen.
»Warum willst du das wissen?«, fragte Syph.
»Vielleicht geht es dir ein bisschen besser, wenn du darüber redest.« Und wenn es dir besser geht, fügte Bonnie in Gedanken hinzu, geht es mir auch besser.
Sie verbrachte den Rest ihrer Mittagspause damit, Syph zuzuhören, die sich an ihre verlorene Liebe zurückerinnerte. Wenn die Erinnerungen gut waren, war der Himmel klar und die Vögel sangen. Wenn sie schlecht waren, schwiegen dieselben Vögel, und auf der nahe gelegenen Kreuzung passierten Unfälle. Niemand wurde ernsthaft verletzt, wenn auch einmal jemand einem Blinden über den Fuß fuhr. Das tat Bonnie zwar leid, aber sie ermunterte Syph fortzufahren.