07

SIEBEN

Die Zivilisation hatte den göttlichen Mächten die Schärfe genommen, sie an der Seite ihrer sterblichen Anhänger reguliert und gezähmt. Die Himmel konnten einen neuen Schub bieten, aber sie schufen keine Großreiche mehr oder radierten Kontinente aus. Die guten alten Zeiten des Plünderns und Brandschatzens von Dörfern und des Opferns von Seelen für die Götter – diese Zeiten waren vorbei. Roger Worthington hatte den Verdacht, er wäre auch mies im Plündern und als Brandschatzer bestenfalls mittelmäßig begabt gewesen, deshalb machte es ihm nichts aus. Aber er wusste auch, dass er – abgesehen davon, dass er halbwegs gut aussah (mit Betonung auf halbwegs) – in keiner Weise außergewöhnlich war. Und wenn er weiterkommen wollte, musste er Blut, Schweiß und Opfergaben darbringen.

Wenn es nicht sein eigenes war – umso besser.

Es gab da draußen immer noch echte Götter, ungezähmte Mächte, die sowohl die sterblichen als auch die unsterblichen Behörden am liebsten vergessen hätten. Sie wurden in den Untergrund gedrängt, von geheimen Kulten in den dunklen Ecken verborgener Tempel angebetet. Ihr Einfluss hatte an Kraft verloren, aber sie wussten immer noch, wie man sich durchsetzte. Und es war ihnen gleichgültig, woher ihr Blut kam.

Worthingtons erster Kult war eine komplette Zeitverschwendung gewesen. Sie folgten einer obskuren Göttin der Weisheit, die versprach, ihren Geist zu öffnen. Am Ende war das nur ein Vorwand gewesen, sich vollzudröhnen und über die Geheimnisse zu reden, die sich enthüllten, wenn man Beatles-Platten rückwärts abspielte. Ein harmloser Spaß, aber Worthington war nicht zum Spaß dabei. Ihm ging es um Macht.

Der nächste Gott war vielversprechender. Sie trafen sich nach Geschäftsschluss im Lagerraum eines Pfannkuchenhauses. Es war zwar kein besonders toller Tempel, aber es genügte. Dort huldigten sie einem verbannten Vulkangott, der versprach, die Erde zu spalten, die Zivilisation zu verschlingen und seine Anhänger an die Spitze einer neuen Weltordnung zu setzen. Es klang verheißungsvoll, und die Erdbeben, die jedes Blutopfer begleiteten, waren eine hübsche Show. Der Höhepunkt kam, als jemand es schaffte, einen Elefanten zu besorgen. Das war allerdings eine Menge Blut. Ihr Gott schlürfte es mit Genuss auf, und ein Erdbeben in Singapur tötete ein paar Tausend Leute. Doch es war weit entfernt vom Sturz der Nationen, und Worthington ertappte sich bei dem Gedanken, ob sein Gott vielleicht die Lorbeeren für den göttlichen Zorn eines anderen einheimste, oder noch ärgerlicher: womöglich nur für ein gewöhnliches Erdbeben. Selbst wenn es das Werk seines Gottes gewesen sein sollte, war höllisch viel Blut nötig, um das Ende der Zivilisation herbeizuführen. Worthington war nicht bereit, so viel Mühe zu investieren.

Er verließ den Kult. Eine Woche später spaltete ein Erdbeben die Erde und verschlang das Pfannkuchenhaus. Die ungezähmten Mächte waren aus gutem Grund verboten. Selbst verglichen mit der kapriziösen Natur der Götter waren sie unberechenbar und gefährlich. Der Kult war vielleicht wegen irgendeiner vermeintlichen Sünde vernichtet worden. Oder aus Langeweile. Oder auch – gut möglich – aus Versehen. Das war immer das Risiko.

Worthington blieb unbeirrt. Er fand zwei Sorten von Göttern auf seiner Suche. Machtlose Gottheiten, die viel versprachen, aber nie lieferten, und mächtige Kräfte, die sich weigerten zu handeln, weil sie den Zorn der anderen Götter fürchteten. Es dauerte vier Jahre, bis er seine Chance erhielt.

In China entdeckte er einen Totengott-Kult. Die Huldigung war einfach. Einmal im Monat mussten alle Mitglieder Strohhalme ziehen. Der Verlierer wurde dem Gott geopfert. Inzwischen hatte sich Worthington an solche Risiken gewöhnt. Er kletterte die Führungsleiter hinauf, indem er sich zweimal im Monat der Opferlotterie unterwarf, dann einmal in der Woche. Danach zwei- oder dreimal pro Woche. Irgendwann wurde jeder Tag seines Lebens durch einen Münzwurf entschieden. Die anderen waren von seiner Hingabe beeindruckt. Genau wie sein Gott. Und als er schließlich den kurzen Strohhalm zog und auf den Altar gelegt wurde, schlug er vor, dass ein Gott möglicherweise besser beraten wäre, seine am wenigsten enthusiastischen Anhänger zu opfern und nicht seinen ergebensten Diener. Und der Totengott war seiner Meinung.

Danach konzentrierte sich die ganze Macht seines Gottes auf ihn, und er machte ein kleines Vermögen. Es war mehr Arbeit. Und chaotischer. Sein Gott brauchte Blut, und Worthington war der Einzige, der dafür sorgte, dass er es bekam. Doch Worthington entwickelte ein relativ risikoloses System, und sein Wohlstand mehrte sich. Er hätte den Rest seines Lebens komfortabel leben können. Nach fünf Jahren merkte er, dass es nicht genügte.

Er brauchte mehr.

Sein Gott war ein eifersüchtiger Gott und nur zu begierig, alle Seelen zu verschlingen, die sich ihm widersetzten. Doch Worthington hatte etwas aus seinen Geschäften mit den Untergrundkulten gelernt. Es gab zivilisierte Götter. Und es gab ungezähmte Götter. Und, im Verborgenen, beinahe vergessen, mit Namen, die von Sterblichen und Göttern gleichermaßen furchtsam geflüstert wurden, gab es auch noch die wilden Götter. Ihre Macht war zwar riesig, ihre Forderungen aber waren von der primitivsten Variante. Blut und Seelen, Chaos und Irrsinn. Sie wollten Himmel und Erde mit Blut überzogen wissen, wollten sehen, wie Sterbliche und Götter einander in Stücke rissen. Das alles, um in einem einzigen Augenblick unbändigen, urzeitlichen Grauens zu schwelgen. Sie waren sich auch für kleine Opfer nicht zu schade, doch es brauchte etwas Größeres als einen Elefanten, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Zum Glück hatte Worthington die Macht und den Einfluss, so etwas zu besorgen.

Sein alter Gott war über den Wechsel nicht glücklich, aber er machte kein großes Aufheben. Und als der Gott des hässlichen Todes sang- und klanglos vor Worthingtons neuem Herrn zurückwich, wusste Worthington: Er hatte die richtige Entscheidung getroffen.

Er konnte mit einem einzigen Telefonanruf den Präsidenten verschwinden lassen oder Städte mit einer Drei-Wörter-E-Mail zerstören. Jede Frau, die er begehrte, konnte am Abend in seinem Bett und am nächsten Morgen wieder aus dem Weg sein. Keine Schwelgerei, egal wie lächerlich oder absurd, wurde ihm verwehrt. Und obwohl er in Wahrheit gar nicht schwelgte, weil er – abgesehen von seinen Ambitionen – einer von der langweiligen Sorte war, wusste er die Macht um der Macht willen trotzdem zu schätzen.

Der einzige Nachteil war sein sehr launischer Mitbewohner, aber Gorgoz blieb normalerweise im Keller.

Worthington war gerade mitten beim Abendessen, als Gorgoz seine Glocke läutete. Zuerst ignorierte Worthington es, weil er davon ausging, dass sich der Butler um Gorgoz’ Forderungen kümmern werde. Nach fünf Minuten wurde das Dröhnen der Glocke nachdrücklicher. Er stand auf und ging durch sein exquisit und geschmackvoll eingerichtetes Haus. Er hatte genug Inneneinrichter bezahlt, um das zu wissen, auch wenn er selbst nichts davon verstand. Aber es galt auch gar nicht ihm. Er hatte nie Gäste. Doch falls er welche hätte, war er sicher, wären sie beeindruckt. Es gab ungefähr ein Dutzend Räume, die er sich nie angesehen, sondern lediglich vor dem Bau als Skizzen gesehen hatte.

Unterwegs trat er beinahe auf eine gepunktete Schabe und eine gefleckte, blutrote Schlange. Er war an den steten Strom von Katzen, Nagern, Reptilien und Insekten gewöhnt, die rund um die Uhr sein Haus betraten und wieder verließen. Er hatte Haustierklappen einbauen lassen, um es Gorgoz’ Spionen – Seelen, die zu Gorgoz’ Diensten abgezogen worden waren – einfacher zu machen. Die Knechtschaft endete nicht mit dem Tod. Die glücklichen Diener wurden in gestaltwandelnde Spione verwandelt, die als Gorgoz’ Augen und Ohren die Welt durchstreiften. Worthington hatte nicht vor, sein Leben nach dem Tod als gefleckte Hauskatze zu verbringen. Er hatte nichts für Sterblichkeit übrig und hatte Pläne in Gang gesetzt, den Tod zu vermeiden. Im momentanen Stadium war es noch nichts Spezifisches, aber für einen Mann, der bereit war, die richtigen Risiken einzugehen und die richtigen Verträge zu schließen, war alles möglich.

Die Glocke und die Schlange wiesen ihm den Weg, sonst hätte er sich womöglich in seinem eigenen Haus verlaufen.

»Komme!«, schrie Worthington. »Ich komme!«

Er stieg die Treppe hinab. Gorgoz hielt den Keller dunkel, mit nur einer einzelnen hängenden Glühbirne und einem Großbildfernseher, der die ganze Schäbigkeit beleuchtete. Er lümmelte auf seinem Fernsehsessel mit der fünfstufigen Massagefunktion. Diesen Komfort verließ er selten. Noch seltener wechselte er seine Kleidung, und nie duschte er. Der Raum roch nach Formaldehyd, Seetang und Nachos.

»Warum dauert das so lange?«, fragte er, ohne das schiefe Gesicht vom Fernseher abzuwenden. Dessen Licht spiegelte sich in seinen vorstehenden Fischaugen.

»Ich war ganz auf der anderen Seite des Hauses«, antwortete Worthington.

Gorgoz schnaubte. Ein Klümpchen neonblauer Rotz schoss aus seinen Nasenlöchern und klatschte an den Bildschirm. Er hob die Glocke und schüttelte sie ärgerlich. »Biere mich!«

»Ja, Herr.« Worthington zögerte. Er kannte die Antwort schon, musste aber trotzdem fragen. »Du hast nicht zufällig Montoya gesehen, oder?«

»Wen?«

»Den Butler. Den, den ich bezahle, um dich zu … bieren.«

»Oh, der.« Gorgoz tippte mit den langen, schwarzen Krallen gegen seine Stoßzähne. »Ich habe ihn gefressen. Ist das ein Problem?«

»Nein, nein. Eigentlich nicht. Es ist nur … Montoya war ein ziemlich guter Butler, und gutes Personal ist schwer zu finden.«

»Ich hatte schon bessere«, erwiderte Gorgoz. »Der, den wir vor ein paar Wochen hatten, der Chinamann …«

»Man nennt sie jetzt Asiaten«, unterbrach ihn Worthington.

»Der Asiate war knuspriger.« Gorgoz zerquetschte seine leere Bierdose und warf sie zu Boden, auf den Haufen mit den anderen. »Ich mag sie knusprig.«

»Ja, ja.«

»Stellst du mein Urteil infrage, Roger?«

»Nein, niemals.«

»So eine Anmaßung verdient eine sofortige Strafe. Du hast Glück, dass gerade Mary im Fernsehen kommt.« Gorgoz’ lange Zunge schnellte heraus und leckte den Rotz vom Fernseher. Er schluckte ihn am Stück und gab den Blick auf das lächelnde Bild von Mary Tyler Moore frei. »Wenn das hier nicht die Folge mit dem Clownsbegräbnis wäre, würde ich aufstehen und dir das Rückgrat brechen.«

Worthington unterdrückte ein Lächeln. Gorgoz klopfte große Sprüche, aber er brauchte Worthington. Dafür hatte dieser gesorgt. Der Umgang mit Göttern unterschied sich nicht von anderen Geschäftskontakten. Alles drehte sich um Druckmittel. Gorgoz hatte viele Anhänger, aber keiner kam dem gleich, was Worthington anzubieten hatte. Heimlich geweihte Schlachthäuser sorgten für einen steten Blutstrom. Millionen Dollar wurden jedes Jahr im Namen seines Gottes verbrannt. Und weitere Millionen wurden benutzt, um kleinere Kulte zu unterstützen, die über die ganze Welt verstreut waren. Doch Worthington sorgte dafür, dass keiner dieser Kulte autark war und sie ohne sein Geld verschwinden würden. Ohne Worthington gab es keinen Tempel des Gorgoz.

Der wilde Gott hatte schon Tausende Jahre – größtenteils vergessen und ohne Einfluss – existiert, bevor Worthington ihn angenommen hatte. Er konnte jederzeit neu anfangen, aber dazu hätte er seinen Hintern aus dem Fernsehsessel bewegen müssen.

»Übrigens, Roger«, sagte Gorgoz, »hast du Lenny irgendwo gesehen? Nimmt normalerweise die Gestalt eines Eichhörnchens an.«

»Hier gehen jeden Tag eine Menge Eichhörnchen aus und ein«, bemerkte Worthington.

»Lenny war einer meiner Lieblinge, weißt du? Er diente mir gut im Leben, aber noch besser im Tod. War immer zuverlässig.«

»Ich bin mir sicher, er ist nur ein bisschen spät dran.«

»Hoffen wir’s«, knurrte Gorgoz, nicht an Worthington gerichtet, sondern einfach allgemein verärgert. Er hob die Glocke und schüttelte sie energisch. »Ich sehe mein Bier nicht, Sklave!«

In der Küche fand Worthington ein blutüberströmtes und kaputtes Eichhörnchen, das sich übers Linoleum schleppte. Es hätte tot sein müssen, doch ein übernatürlicher Wille zwang es zurückzukehren, selbst wenn es sich mit seiner einzigen noch funktionierenden Gliedmaße dahinschleppen musste.

»Du musst Lenny sein.«

Das Eichhörnchen hob den Kopf und spuckte keuchend Blut.

»Er ist unten im Keller. Wo sonst?«

Worthington warf mehrere Dosen Bier in eine Plastiktüte und band sie an Lennys Schwanz. »Lass ihn nicht warten.« Das kriechende Eichhörnchen schleppte seinen Kadaver über den Küchenboden und hinterließ eine verschmierte Spur aus Blut und Fell. Jemand würde die Schweinerei wegputzen müssen. Er wusste nicht wer, aber solche Details waren ihm auch egal. Schließlich hatte er dringlichere Probleme.

Worthington war bereit, viele Opfer für seinen Gott zu bringen. Kalt gewordenen Kalbsbraten zu essen gehörte nicht dazu.