04

VIER

Bonnie würde später darüber nachdenken, wie willkürlich dies alles war und wie sich ein ganzes Leben wegen eines gestohlenen Motorrades ändern konnte. Der Dieb wurde nie gefasst. Manchmal gefiel ihr der Gedanke, dass es Schicksal war, dass ein Gesandter des Schicksals sich ihre geliebte Harley als Teil eines höheren Planes geschnappt hatte. Vielleicht wurde das Motorrad jetzt dazu benutzt, die Sonne über den Himmel zu schleppen. Damit konnte sie leben.

Sie wusste es besser. Wenn es eines gab, das ihr Handel mit dem Göttlichen sie gelehrt hatte, dann war es, dass es keinen höheren Plan gab. Das mochte den Sterblichen nicht gefallen. Die Götter mochten es leugnen, so gut sie konnten. Doch Launenhaftigkeit war der wahre Herrscher des Universums. Bonnie hatte ihre Harley aus einer Laune heraus gekauft. Jemand hatte sie aus einer anderen Laune heraus gestohlen. Es war eine Laune der Verkehrsbetriebe, dass es nur einen Häuserblock von ihrer Wohnung entfernt eine Bushaltestelle gab. Und es war eine Laune der Natur, dass der Morgen so schön war, dass sie früher das Haus verließ, um sich auf die Bank zu setzen und das frische Wetter zu genießen.

Eine einsame Frau saß auf der Bank. Sie wirkte ungepflegt und hatte schmutzige, braune Haare. Ihr Kleid war vielleicht vor einem Jahrzehnt schön gewesen, jetzt aber zerfetzt und schmutzig. Sie saß in sich zusammengesunken da. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, außerdem trug sie Handschuhe, sodass Bonnie ihr Alter nicht einschätzen konnte. Sie fragte sich, ob die Frau obdachlos war oder ein ausgebrannter Hippie oder noch etwas ganz anderes. Bonnie hatte mehr Menschen erwartet, es war schließlich die morgendliche Pendlerzeit, aber vielleicht hatte die Frau sie alle vertrieben.

Bonnie wäre auch beinahe gegangen, fand das dann aber voreingenommen. Sie wollte sich nicht von einem vorschnellen Urteil den Tag verderben lassen.

»Hallo«, sagte sie also so warmherzig sie konnte.

Die Frau wandte ihr den Kopf zu. Die Haare fielen ihr über die Augen und verbargen alles bis auf ihr Kinn. Es war glatt und blass. Zu blass. Als wäre ihre Haut nie dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen. Oder überhaupt irgendwelchem Licht. Wie ein Albino. Sie lächelte nicht.

»Hallo.« Ihre ausdruckslose Stimme klang leicht rau.

»Schöner Tag, nicht?«

»Ach ja?« Die Frau hob den Kopf, das Haar klebte ihr am Gesicht. »Hatte ich gar nicht bemerkt.«

Bonnie beschloss, diese Frau sei seltsam, aber harmlos. Wenn sie die anderen Pendler verjagt hatte, bot das Bonnie nur mehr Platz auf der Bank. Sie setzte sich. Ein Frösteln durchlief sie.

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte die Frau kopfschüttelnd.

»Wie bitte?«

»Sie hätten sich nicht da hinsetzen sollen.«

Die Frau seufzte tief, während ein eisiger Wind über die Bank fegte. Das Vogelgezwitscher wurde schrill. Dunkelheit verhüllte die Sonne, da fiel ein grauer Schatten über die Bushaltestelle – und zwar nur über die Bushaltestelle. Der Rest der Welt blieb genauso hell und warm wie vorher, aber die Miniatur-Sonnenfinsternis hüllte die Bushaltestelle in eine rohe, alles verzehrende Hoffnungslosigkeit. Es gab kein anderes Wort dafür.

Die Dunkelheit verging wieder. Sie verklang weniger, sondern strömte vielmehr in den Boden und formte sich zum Schatten der Frau. Die Kälte verringerte sich, verschwand aber nicht. Bonnie sprang von der Bank auf und rieb die Hände aneinander.

»Dafür ist es zu spät«, sagte die zerlumpte Frau.

Bonnies Handy klingelte. Der Klingelton sagte ihr, dass es ihr Freund war.

»Tut mir leid«, sagte die Frau.

Bonnie klappte das Telefon auf. »Hallo, Walter. Du wirst nicht glauben, was mir gerade passiert …«

Er machte mit ihr Schluss. Er war nicht grob, aber er heuchelte auch keine Höflichkeit. Sagte ihr nur, dass es vorbei sei und legte auf. Sie hatte keine Zeit, die Nachricht zu verdauen, ganz zu schweigen davon, eine Antwort zu formulieren. Sie versuchte fünf Mal, ihn zurückzurufen, aber er ging nicht ran.

»Es tut mir leid«, sagte die Frau, »aber ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen sich da nicht hinsetzen.«

»Nein, das haben Sie nicht.«

»Nicht? Sind Sie sich da sicher? Ich weiß es nämlich ziemlich genau.«

»Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie es nicht gesagt haben.«

Bonnie wählte wieder die Nummer ihres Freundes, allerdings mit demselben Ergebnis. Sie hinterließ noch eine Nachricht.

»Na ja, wenn Sie etwas zu mir gesagt hätten, bevor Sie sich gesetzt haben«, sagte die zerlumpte Frau, »dann hätte ich Sie vielleicht warnen können. Grüßen ist eine Frage der Höflichkeit.«

»Ich habe Hallo gesagt.«

»Haben Sie? Das zählt wohl, denke ich.«

Bonnie wählte wieder, klappte das Telefon aber zu, bevor der Anruf durchging. »Ich habe auch eine Bemerkung über den Tag gemacht. Übers Wetter!«

»Das stimmt wohl«, knurrte sie. »Allerdings klangen Sie nicht, als meinten Sie es ernst.«

»Ich habe es auch nicht ernst gemeint.«

»Dann geben Sie es also zu?«

»Natürlich gebe ich es zu«, sagte Bonnie. »Es ging ums Wetter. Das bedeutet gar nichts. Es ist nur höfliche Konversation.«

»Das gilt wohl in diesem neuen Zeitalter als Höflichkeit der Sterblichen.«

Bonnie tigerte in einem kleinen Kreis herum und starrte ihr Telefon an, um es per Gedankenübertragung zum Klingeln zu bringen.

»Er wird nicht anrufen«, sagte die ramponierte Frau. »Es ist einfacher, ihn loszulassen.«

»Aber wir sind verliebt!«

»Sie waren verliebt, und ich nehme an, Sie sind es immer noch. Jetzt sogar mehr als je zuvor. Aber er wird nie wieder mit Ihnen sprechen.«

Eine mit Händen greifbare Qual ging von ihr aus, eine Welle eisiger Taubheit. Die Bank wurde grau. Ihre Farbe floss die Straße hinab und in einen Gully hinein. Bonnie spürte jedes Quäntchen der aufsteigenden Melancholie. Am liebsten wäre sie gestorben. Einfach zusammenbrechen und dahinwelken, bis sie nur noch Staub war. Dann hoffte sie, die Sonne würde explodieren und die ganze Erde vaporisieren, um auch den letzten Rest dieses Augenblicks aus der Erinnerung der Zeit zu radieren.

Bonnie musste hier weg. Sie rannte in ihre Wohnung zurück, schloss die Tür hinter sich und wischte sich die Tränen ab. Die drückende Last der Verzweiflung hob sich, verschwand aber nicht. Nicht ganz jedenfalls.

Jemand klapperte in der Kochnische herum. Sie wusste, wer es war, ohne hinsehen zu müssen.

Die zerlumpte Göttin schwebte in ihr Blickfeld. Sie trug zwei Gläser Tomatensaft und bot Bonnie eines davon an. »Hier. Trink das. Es wird dein Problem zwar nicht lösen, aber es ist voller Vitamine.«

Bonnie schlug ihr das Glas aus der Hand. Saft spritzte über den Teppich, die Couch, die Wand. »Das warst du! Du hast etwas mit Walter gemacht!«

»Um genau zu sein, habe ich etwas mit dir gemacht«, sagte die Göttin. »Dein Freund war nur ein Kollateralschaden.« Die Göttin nippte an ihrem Saft, der einen roten Schnurrbart auf ihrer bleichen Haut hinterließ. »Und ich habe gesagt, dass es mir leidtut.«

Sie strich sich die schlaffen Haare weg, sodass Bonnie einen kurzen Blick auf das Gesicht der Göttin erhaschen konnte. Ihre großen, traurigen Augen waren ebenso farblos wie der Rest von ihr.

»Nimm es zurück! Bitte, ich tue alles.«

Ihre Beziehung mit Walter war gut gewesen, aber nichts Spektakuläres. Sie liebte ihn, aber nicht Hals über Kopf. Einfach schöne Zeiten und eine verlässliche, tröstliche Vertrautheit. Warum vermisste sie ihn also jetzt so sehr? Sie sehnte sich nach seiner Berührung, seinem Lächeln, dem unbeholfenen, aber kompetenten Sex. Sogar Dinge, die sie irgendwie nervtötend gefunden hatte, erschienen ihr in diesem Augenblick liebenswert.

Sie unterdrückte ein Schluchzen. Ihre Lippe zitterte, doch sie schluckte den Schmerz herunter.

»Das ist gut«, sagte die Göttin. »Vergrab ihn tief. So hältst du länger durch.« Sie seufzte, und ein Bilderrahmen mit Walters Foto, der in ihrer Nähe hing, bekam einen Sprung.

»Würdest du bitte damit aufhören?«, fragte Bonnie. »Hör auf zu seufzen!«

»Tut mir leid. Ich kann nicht anders. Und ich kann dir nicht helfen.«

Bonnie schlug der Göttin das zweite Glas aus der Hand. Der Saft überzog Bonnies Schuhe, aber kein einziger Tropfen traf die Göttin. »Verschwinde aus meiner Wohnung, verdammt noch mal!«

»Das kann ich nicht. Du hast mich in dein Leben eingeladen, und hier muss ich bleiben, bis …«

Die Göttin seufzte, und Walters Foto ging in Flammen auf. Bonnie trat die Flammen aus, aber nicht schnell genug, um einen Brandfleck auf dem Teppich zu vermeiden. Der Verlust ihrer Kaution machte ihren Tag nicht freudvoller. »Was muss ich tun, um dich loszuwerden?«, fragte sie.

»Du kannst nichts tun.« Die Göttin schwebte zur Couch und setzte sich.

»Aber du sagtest gerade, du wärest in meinem Leben, bis …«

Die Göttin schaltete den Fernseher ein. »Oh, sehr gut. Du hast Kabel. Die Letzte hatte keines.«

»Lenk nicht vom Thema ab! Du sagtest, ich würde dich nicht loswerden, bis …« Bonnie hielt inne, um der Göttin die Gelegenheit zu geben, den Satz zu beenden, doch sie tat ihr den Gefallen nicht.

»Harry und Sally kommt«, sagte die Göttin. »Ich hasse diesen Film. Das ist so tragisch, wenn sie bei diesem Autounfall sterben.«

»Das passiert in dem Film doch überhaupt nicht«, sagte Bonnie.

»Wenn ich ihn ansehe, schon.«

Bonnie stellte sich vor den Fernseher und starrte die Göttin wütend an.

»Dein Schmerz wird enden, Bonnie. Irgendwann. Mit der Gnade, die allen menschlichen Schmerz beendet.«

»Der Tod? Willst du damit sagen, dass ich dich am Hals habe, bis ich sterbe?«

Die Göttin zuckte mit den Achseln. »Es tut mir leid. Wenn es dir ein Trost ist: Für mich ist es noch schlimmer. Du bist nur ein Opfer des Herzeleids, aber ich bin seine Göttin.«

»Warum tust du mir das an?«

»Wie ich dir immer wieder sage – ich habe keine Wahl. Glaubst du denn, es macht mir Spaß, dein Leben zu ruinieren? Oder das von irgendeinem anderen? Ich war nicht immer so. Früher einmal war ich … anders. Aber das ist lange her. Jetzt bin ich, was ich bin, und ich bringe allen, die mich in ihr Leben lassen, nichts als Schmerz und Leid.«

»Aber ich habe nur Hallo gesagt!«

»Und du hast dich auf die Bank gesetzt.«

»Das ist absurd. Willst du mir wirklich sagen, nur weil ich mich neben eine Göttin des Herzeleids auf eine Bank gesetzt habe, ist mein ganzes Leben ruiniert?«

Die Göttin hätte beinahe geseufzt, fing sich diesmal aber rechtzeitig. »Ich weiß, es ist unfair. Du wolltest nur nett sein. Du solltest diese Bürde nicht tragen müssen, aber sieh es mal so: Indem du den Schmerz empfindest, ersparst du ihn einem anderen Menschen. Durch dein Opfer können andere Liebe und Freude kennenlernen. Es wird nicht vergeblich sein.«

»Na, herzlichen Dank!«

Bonnie stürmte in die Küche und trank Tomatensaft direkt aus der Packung. Er kleckerte über ihre Bluse. Das war ihr egal.

»Nichts würde mich glücklicher machen, als dich in Ruhe zu lassen«, sagte die Göttin aus dem Wohnzimmer. »Na ja, etwas würde mich schon glücklicher machen, aber halten wir uns nicht mit Unmöglichkeiten auf.«

Bonnie lehnte sich an den Kühlschrank. Die Leere in ihr würde bleiben, das wurde ihr jetzt klar. Eine gähnende, alles verzehrende Kälte, die sie schließlich von innen auffressen würde. Sie schnappte sich ein schmutziges Steakmesser aus der Spüle und hielt es so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Sie musste es beenden.

Die Göttin stand im Türrahmen der Küche. »Es tut mir leid, Bonnie. Ehrlich.«

»Hör auf, das zu sagen!«

Bonnie griff an. Sie drückte die Göttin auf den Boden und stach ihr ins Herz. Sie versenkte die Klinge immer und immer wieder. Jeder Stich schürte die Flammen der Raserei, befeuert von dem Bedürfnis, etwas zu fühlen – außer dem Nichts. Fünf Minuten später verrauchte ihre Wut, aber die Leere blieb.

Auf dem Gesicht der Göttin hatte sich Langeweile ausgebreitet, als sie jetzt zu Bonnie aufblickte.

»Bist du fertig?«

An dem Messer war kein Tropfen Blut, und auf der Haut der Göttin zeigte sich keine Spur des Angriffs. Bonnie ließ die Waffe fallen und schleppte sich zum Sofa. Die Göttin setzte sich neben sie.

Das Geräusch eines Autounfalls lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Film im Fernseher und die Darstellung von verbogenem Stahl und zerbrochenem Glas. Und Blut. So viel Blut.

Die Göttin öffnete den Mund.

»Nicht«, unterbrach Bonnie sie. »Sag es einfach nicht.«