Emma
Ein angenehm frischer Wind kitzelte auf ihrem Arm, den sie aus dem offenen Fahrerfenster baumeln ließ. Lautstark schmetterte sie den neuesten Hit ihrer Lieblingscountryband, während sie durch die Häuserschluchten ihres Viertels raste. Einige Straßenkids, die auf dem Weg in den vor kurzem neu eröffneten Club waren, winkten ihr johlend zu.
Sie bog in ihre Straße, die von hellen Laternen erleuchtet wurde. Die neonrote Leuchtschrift über Giselas Pizzeria wies ihr den Weg. Vor dem Eingang bremste sie ab und sprang aus dem Wagen. Die Luft hatte sich bereits abgekühlt, und obwohl die moderaten Temperaturen nach dem Höllensommer eine Wohltat waren, war sie dankbar für ihre neuen Sportschuhe, die Jens ihr nachträglich zum Geburtstag geschenkt hatte.
Als sie die Pizzeria betrat, empfing sie der vertraute Geruch nach verbranntem Teig und Oregano. Die Tische waren bis auf den letzten gefüllt. Gisela kam hinter dem Tresen hervor und drückte ihr zwei feuchte Küsse auf die Wangen.
„Emma, Liebes. Deine Pizzen sind bereits im Ofen. Mach es dir bequem, ich bring dir deine Cola.“
„Ich bleibe so lange stehen. Der Laden platzt ja aus allen Nähten. Verwendest du etwa wieder Rindfleisch?“
„Jetzt mach dich nicht lächerlich“, sagte sie und führte sie zu einem Tisch am Fenster, verscheuchte die beiden Gäste und drückte sie in den Stuhl. „Und Rindfleisch bekommen nur meine Lieblingsgäste“, flüsterte sie ihr ins Ohr und lachte dann schallend.
„Hey, Emma“, riefen Otto und seine ergrauten Freunde, die in der gegenüberliegenden Ecke des Ladens saßen. „Haste schon gehört? Unser Viertel kriegt 'nen Wellnesszentrum. 'Nen Wellnesszentrum. Da werd ich mich erst mal so richtig schön durchkneten lassen, was Jungs?“ Sein grölendes Lachen überschallte alle anderen Geräusche.
„'Nen bisschen Bewegung würd's wahrscheinlich auch schon tun, Klaus“, bemerkte Emma.
„Mag sein, aber 'ne Massage ist wesentlich bequemer. Außerdem sollen wir doch die Wirtschaft ankurbeln, oder nicht? Das hat doch dein Freund Oliver, dieser neue Präsident, befohlen.“
„Er hat es nicht befohlen, sondern empfohlen“, stellte sie klar.
„Ist doch das Gleiche. Was der Präsident sagt, wird gemacht. Deshalb geh ich zur Massage. Punkt.“ Er prostete ihr zu und nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas.
Sie grinste. Seitdem die alten Männer wieder feste Jobs hatten und gut verdienten, waren sie noch überzeugter von sich geworden. Aber so waren sie nun einmal. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihnen ihre Selbstüberzeugung und ihre Einsatzbereitschaft das Leben gerettet. Sie gehörten praktisch zur Familie.
„Aber ehrlich Emma, ich versteh' ja immer noch nicht, warum du den Präsidentenjob abgelehnt hast. Bist doch bekloppt, Mädchen. Denk nur an das Gehalt! Hättest nach Mitte ziehen und in 'nem Luxuspenthouse auf dein Fußvolk herabschauen können“, rief Heinz zu ihr rüber.
„Aus einem unerfindlichen Grund hab ich mich ja dann doch für diese einzigartige und charmante Straße und ihre Bewohner entschieden“, rief sie zurück.
Die Entscheidung war ihr nicht schwer gefallen. Sie war keine Politikerin. Und aus Geld hatte sie sich noch nie etwas gemacht. Und was sollte sie in Mitte? Alles, was ihr wichtig war, befand sich in dieser Straße.
Gisela bracht ihr die Cola und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Gott sei Dank! Was hätten wir hier nur ohne dich und unseren neuen Superstar gemacht? Wo ist der eigentlich? Schon zu berühmt um in seiner alten Pizzeria zu essen?“
„Die Band spielt heute in dem neuen Club unten an der neunten Ecke.“
Jens hat sich sehr schwer getan mit Matzes Tod. Glücklicherweise hatten Oliver und Ben seine beiden Freunde, Dennis und Sascha, nach ihrer Stürmung des GSD Hauptquartieres wohlbehalten wieder nach Hause bringen können. Zu anfangs hatten sie ihre Instrumente nicht angerührt und ihre Band schleifen lassen. Doch ausgerechnet Eik und Seb entdeckten ihre musikalische Ader und schlugen die Gründung einer neuen Band vor. Wenige Wochen später waren sie die neuen Stars am Musikhimmel und wurden praktisch von der einen auf die andere Nacht zu Superstars. Sie war froh, dass er endlich wieder Spaß an der Musik hatte und langsam mit den Ereignissen abschloss. Er war noch jung, es würde schneller gehen als bei ihr.
„Mit Sicherheit wird die gesamte Bandcrew später bei dir einfallen und deine Einnahmen explodieren lassen. Mach dir mal keine Sorgen“, beruhigte sie Gisela.
„Ich weiß doch, Liebes. Er ist ein guter Junge. Ist er immer gewesen.“ Sie zwinkerte Emma zu und verschwand in der Küche.
Emma starrte verträumt in ihre Flasche und blendete die Geräuschkulisse aus. Als sie Jens neuesten Song aus den Lautsprechern schallen hörte, lächelte sie still vor sich hin.
„Was gibt's zu lachen?“ Bens tiefe Stimme holte sie aus ihren Gedanken. Er beugte sich über sie und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange.
„Nichts“, sagte sie, stand auf, legte ihre Hände auf seiner Brust ab und lächelte ihn an.
„Nichts?“, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.
„Nichts.“ Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. Seine Lippen schmeckten vertraut, nach Whiskey und Kaffee. Er umfasste ihre Taille und zog sie näher an sich heran.
„Ach ja, einmal noch jung sein“, unterbrach Gisela den Moment und hielt ihnen zwei große Teller mit dampfenden Pizzen entgegen. Sie zwinkerte ihnen zu. „Aber wollt ihr nicht erst einmal essen?“ Sie schob sich zwischen sie und stellte die Teller auf den Tisch.
„Wir dachten, dass wir die lieber mit nach Hause nehmen. Der Laden bricht ja sowieso aus allen Nähten“, versuchte Emma es noch einmal.
„Ach, Quatsch. Ihr bleibt schön hier sitzen. Immerhin bist du jetzt eine Berühmtheit, Emma. Das ist gut für mein Geschäft.“ Sie zog den Stuhl vor und drückte Emma darauf. Sie ließ es seufzend geschehen und warf Ben einen vielsagenden Blick zu, bevor auch er von Gisela auf seinen Platz dirigiert wurde.
„Wartet, ich bring euch noch eine Flasche von dem italienischen Wein, der heute Morgen angeliefert wurde. Also ehrlich, ich muss mich wirklich bei diesem neuen Präsidenten bedanken. Seitdem die Grenzen geöffnet worden sind, haben wir Zugriff aus Nahrungsmitteln, von denen ich noch nie was gehört hab. Oder kennt ihr Parmesankäse? Da kann unser Analogkäse einpacken.“
Sie wischt ein paar Krümel von der weißen Spitzentischdecke, dann eilte sie in die Küche.
„Eine Schande, dass Gisela keine Position in der Regierung annehmen wollte. Sie wäre eine ideale Ministerin für Militärangelegenheiten geworden“, bemerkte Ben.
„Ich glaube nicht, dass sie ihre geliebte Pizzeria jemals im Stich gelassen hätte. Außerdem wäre sie wahrscheinlich als allererstes in Italien einmarschiert und hätte alle Weinberge erobert.“
„Wahrscheinlich.“
Sie nahm die ganze Pizza in die Hand und biss hinein. „Hm, ok, der Käse schmeckt echt gut“, sagte sie anerkennend. „Und wie war es auf der Arbeit? Kriegen unsere Freunde und Helfer langsam die Kurve?“
Ben zog an einem langen Käsefaden, wodurch er nur noch länger wurde.
„Es wird“, sagte er. „Versuch du mal zehn Jahre Untätigkeit aufzuholen. Zumindest ist das Durchschnittsgewicht der Beamten inzwischen auf unter 100 Kilogramm gesunken.“
„Na das ist doch schon mal was.“
Es gab wahrscheinlich niemanden, der besser für die Aufgabe des Polizeipräsidenten geeignet gewesen wäre als Ben. Wenn er es nicht schaffte, aus dem trägen Haufen ein paar respektable Kämpfer zu machen, dann konnte es niemand.
„Und auf der Straße? Alles beim Alten?“, fragte er.
„Die Menschen sind nicht unbedingt dafür prädestiniert sich zu ändern.“
„Da hast du wohl recht.“
„Aber zumindest scheinen die Bürger im Großen und Ganzen zufrieden zu sein. Die Gespräche mit meinen Fahrgästen handeln inzwischen weniger von Mord und Totschlag als von dem neuesten Kinofilm aus den Staaten.“
„Die Öffnung der Grenzen war eine gute Entscheidung.“
„Ich bin Anhänger dieser Sichtweise, seitdem ich in den Genuss kam, meinen ersten echten Kaffee zu kosten. Ernsthaft, wie haben wir nur vorher gelebt? Warum zur Hölle haben wir uns jemals abgeschottet? Denk nur, was wir alles verpasst haben.“
„Die Ironie des Ganzen ist, dass Deutschland von der Überbevölkerung am meisten betroffen war. Die Abriegelung hat es nur noch verschlimmert. Ein Blick über die Grenze hätte der alten Regierung nicht geschadet.“
„Na ja, jetzt bringt es auch nichts mehr über vergangene Fehler nachzugrübeln. Ich bin nur froh, dass Oliver weiß was er tut. Ich wäre gnadenlos überfordert gewesen. Ich hoffe nur, dass die Menschen nicht enttäuscht sind, dass ich das Amt an einen Reichen übergeben habe.“
„Ich glaube sie sind dir dankbar, dass du das Amt übergeben hast.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte sie gespielt empört.
„Nun ja, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber als Diplomatin bist du nicht unbedingt geboren worden. Bei der erstbesten Meinungsverschiedenheit würdest du dem amerikanischen Präsidenten wahrscheinlich an den Hals springen.“ Er grinste.
„Hey! Ich hab mich ja wohl in letzter Zeit schon sehr verbessert. Zumindest ist es lange her, dass ich das letzte Mal jemandem ins Gesicht geboxt habe.“
„Schade eigentlich. Ich mochte dich immer so wie du bist.“
„Jetzt versuch nicht abzulenken.“
Er verdrehte die Augen. Dann griff er über den Tisch und nahm ihre Hände in seine. Sie versuchte ein trotziges Gesicht aufzusetzen, doch ihr Ärger verflog augenblicklich.
„Bleib einfach so wie du bist, ok?“, sagte er.
„Wenn du drauf bestehst.“
„Emma! Entschuldige, wenn ich euch störe. Aber hast du Katerina gesehen?“ Hannah stützte sich halb außer Atmen auf ihrem Tisch ab und sah sie panisch an.
„Ganz ruhig, Hannah“, versuchte Emma sie zu beschwichtigen. „Sie ist auf Jens Konzert gegangen. Ich hab sie vor einigen Stunden hingebracht. Aber ich hatte dir das doch gestern erzählt?“
Hannah atmete erleichtert aus und strich sich ihre langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Scheiße, das hab ich ja völlig vergessen. Ich war nur so erschrocken, als sie heute Abend nicht zu Hause war. Kinder zu haben ist wirklich nicht einfach.“
„Wem sagst du das!“, murmelte Emma.
Und in diesem Moment öffnete sich die Ladentür und Jens fiel mit seiner Band und einer Gruppe Groupies, unter denen sich auch Hannahs Tochter befand, lautstark in der Pizzeria ein. „Wenn man vom Teufel spricht“, sagte sie zu Hannah und winkte ihm zu. Er grinste breit zurück.
Die Jungs gaben ihre gigantische Bestellung bei einer sichtlich erfreuten Gisela auf und kamen dann an ihren Tisch.
„Na, alles klar?“, fragte sie und gab ihrem Bruder die Faust.
„Yo“, gab er zurück und legte seinen Arm um Katerinas Schultern.
Das war ihr neu. Wenigstens war Katerina ein anständiges Mädchen. Trotzdem würde sie ihr noch auf den Zahn fühlen müssen. Immerhin hatte Jens nur die besten Mädchen verdient.
„Der Auftritt war der Hammer. Wir haben die Bühne gerockt. 1A Soundqualität in dem Schuppen, was Jungs?“
Seine Freunde gaben zustimmende Laute von sich. Eik spielte mit seiner Zunge an den zahlreichen Piercings in seiner Lippe und grinste zufrieden. Dass er seine Pistole mal gegen ein Schlagzeug austauschen würde, hätte sie auch nie für möglich gehalten.
„Macht mal Platz, Kinder“, rief Gisela und schob sich zwischen den Fans hindurch, die sich in der Zwischenzeit um sie herum angesammelt hatten. Sie hatte zwei Weinflaschen in der Hand und einen Flaschenöffner zwischen den Zähnen. Sie stellte die Flaschen auf ihrem Tisch ab und machte sich daran sie zu öffnen. „Das verlangt nach dem besten Fusel, meint ihr nicht auch?“, fragte sie in die Runde und erntete lautes Gegröle.
Sie sah Ben fragend an und er zuckte grinsend mit den Schultern. Wenn es schon einmal was zu feiern gab, sollte man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Außerdem – wie oft konnte man schon behaupten, mit einem Superstar anstoßen zu können.
Sie knuffte Jens in die Seite und er lachte sie stolz an. Er war glücklich. Und allein das war all die Scheiße wert gewesen, durch die sie hatten gehen müssen.
Gisela drückte ihr ein echtes Weinglas in die Hand und goss der Reihe nach ein, bis jeder zumindest einen kleinen Schluck des edlen Gesöffs vor sich hatte. Dann hielt sie ihr eigenes Glas in die Höhe und blickte mit vor Aufregung knallrotem Gesicht stolz in die Runde.
„Auf die Ninjas!“, rief sie. „Die beste Band der Welt. Meine Jungs.“
„Auf die Ninjas!“, johlte die Menge und reckte ihre Gläser in die Höhe.
Und als sie mit ihren Freunden, mit ihrer Familie, anstieß, und in das Lachen mit einstimmte, wurde ihr mit einem Mal eine Sache bewusst.
Sie hatte nie Angst gehabt vor dem Tod. Bis zu dem Moment, als es fast so weit gewesen war. Es war ein unerträgliches Klischee, doch die Nahtoderfahrung hatte sie aufgerüttelt.
Sie wollte leben. Und nicht nur für Jens. Nicht um sich an irgendjemand zu rächen oder ein Versprechen einzulösen, dass sie ihrer Mutter vor derer Hinrichtung gegeben hatte. Sondern für sich selber.
Man hatte ihr immer gesagt, sie sei eine Überlebenskünstlerin. Doch erst jetzt erkannte sie, dass ihr Überleben nicht reichte. Weder das schlagende Herz noch die funktionsfähigen Lungen waren das, was zählte. Es war das, was man mit den Jahren oder Wochen oder Tagen anstellte, die man hatte.
Denn letzten Endes wollten sie doch alle nur eines. Und das war nicht das Überleben. Es war das glückliche Ende.