Jens

 

"Na, wie geht's uns denn heute?"

Jens stöhnte. Schon wieder diese Schmeißfliege. Tobias. Im Grunde war er froh um die Gitterstäbe, die sie voneinander trennten. Die hielten ihn wenigstens davon ab diesen widerlichen Schleimer umzubringen.

"Hat das Frühstück geschmeckt?"

Er machte sich nicht die Mühe seinen Kopf zu heben, doch er konnte sich Tobias ekelerregendes Grinsen auch so gut bildlich vorstellen.

"Immerhin ist es um Längen besser als das, was du sonst so zu dir nimmst. Ich hab gehört, du frisst alles. Hab dich das ein oder andere Mal doch den Belag aus dem Müllcontainer hinter der Schule kratzen sehen."

Atme ganz ruhig. Denk an etwas anderes. An etwas anderes, als deine Finger, die sich langsam und genüsslich um Tobias Hals schließen.

"Wenigstens bin ich nicht so feige mich an kleinen Kindern vergreifen zu müssen. Aber hey, man muss sich an gleichwertigen Gegnern orientieren, was?", entgegnete Jens.

Er streckte seine Füße aus, nahm seine Hände vom Gesicht und stützte sie an der Kante des Betonvorsprunges ab, welcher sein Bett war. Die dünne Decke dämpfte die steinharte Liegefläche nicht ab und sein Hintern schlief regelmäßig ein. Zum Glück war er ein guter Schläfer. Denn etwas anderes außer Schlafen konnte man in dieser mickrigen, düsteren Zelle auch nicht machen.

"Du solltest wirklich netter zu mir sein. Ich könnte ein gutes Wort bei meinem Boss für dich einlegen. Oder ein schlechtes."

Tobias unangenehme Stimme, die offenbar nur eine Tonlage kannte, bereitete ihm Kopfschmerzen. Wenn er im Unterricht einen seiner Monologe abhielt, verließ er grundsätzlich den Klassenraum. Das war hier schlecht möglich.

"Du bist gerade mal seit zwei Wochen dabei, wurdest zum Praktikanten abgestempelt und deine Aufgabe besteht darin, mir täglich mein Essen zu bringen und mich bei Laune zu halten. Ich bezweifle stark, dass du auch nur irgendwo ein Wort mitzureden hast“, sagte er.

"Praktikant im Sicherheitstrakt zu sein ist eine große Ehre", empörte er sich und erhob seine Stimme, was Jens mit einem abermaligen Stöhnen quittierte. "Die wenigsten bekommen als Neumitglied die Ehre solch einen anspruchsvollen Posten anzunehmen. Ich nehme an Befragungen hochrangiger politischer Gefangener teil."

"Folter. Das Wort ist Folter."

"Sie bekommen alle das, was sie verdient haben."

"Ich hoffe, du hast recht."

Er schwieg. Doch die erlösende Stille hielt nicht lange an.

"Du hast auf jeden Fall den Tod verdient."

"Ach ja? Wieso das?"

"Du bist ein Verräter!"

"Weil ich keine wehrlosen Menschen köpfe?"

"Wehrlos! Er war ein Reicher!"

"Und das rechtfertigt seine brutale Ermordung?"

"Du kommst aus der Höllenküche! Unsere Straße ist nichts gegen Eure! Ich will nicht wissen, wie viele Reiche du schon auf dem Gewissen hast, aber bei dem Typen hast du plötzlich Skrupel? Bist du schwul, oder was? Hast du auf Goldmanns reichen Schnösel gestanden?!"

"Ich habe noch niemals …", fuhr Jens ihn wütend an, stockte jedoch. Er wollte eigentlich sagen: Ich habe noch niemals einen Menschen getötet. Doch das wäre nicht die Wahrheit. Nicht mehr. Er hatte getötet.

"Ich habe noch nie einen Reichen getötet. Nicht vor Goldmanns Sohn", sagte er schließlich.

Tobias lachte schallend. "Das ich nicht lache. Jens aus der Höllenküche hat noch nie 'nen Reichen kalt gemacht. Das ist doch eure einzige Beschäftigung. Du hängst doch andauernd mit diesem Eik und seiner Gang am Schulhof ab. Sein Rücken ist von Kerben nur so übersät. Eine Kerbe für einen getöteten Reichen. Zeig mir doch mal deinen Rücken, Jens."

Es stimmte, was er sagte. Eik und seine Freunde prahlten mit der Ermordung von Reichen und jede Tötung war ein Triumph. Und er hing tatsächlich ab und zu mit ihnen ab. Sie kamen aus seiner Straße und er legte viel Wert auf gute Nachbarschaft. Ganz abgesehen davon, dass es bei ihnen lebenserhaltend war mit Eik und den anderen auf gutem Fuß zu sein. Aber niemals würde er an ihren Aktionen teilnehmen. Er hatte damit nichts zu tun. Bei ihm ging die Kriminalität nicht über gelegentliche, kleine Raubzüge hinaus. Und niemals, niemals tötete er einen Menschen. Es sei denn, es war Selbstverteidigung.

War die Tötung der beiden Wachleute, die Oliver in ihrer Wohnung gefoltert hatten, Verteidigung gewesen? Er hatte Oliver das Leben gerettet, aber war es gerechtfertigt gewesen? Und hätte er den Tod von Goldmanns Sohn noch verhindern können? Tief im Inneren wusste er, dass er nichts hätte tun können. Doch er fühlte sich dadurch nicht im Geringsten besser.

"Jetzt tu doch nicht so als wärest du etwas Besseres. Ich kenn deine Schwester. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, schätze ich."

"Halt die Fresse, Schleimer."

Vielleicht, wenn er nur schnell genug wäre, könnte er mit der Hand durch das Gitter greifen und ihn erwischen.

"Die hat mal gedroht meinen Schädel mit der Autotür ihrer Schrottkiste zu zertrümmern, nur weil ich zu langsam die Straße überquert hab. Die ist doch nicht mehr ganz dicht."

Langsam drehte Jens seinen Kopf zu ihm um. Sein Nacken war steif und schmerzte bei jeder Bewegung. "Ich schwöre dir, wenn du nicht die Klappe hältst, dann werde ich deinen Schädel zertrümmern. Warte nur ab, bis ich hier herauskomme."

Über Tobias Gesicht huschte so etwas wie Furcht. Er war für Jens kein ernstzunehmender Gegner. Mit einer einzigen Handbewegung hätte er ihn von den Beinen gefegt. Und Tobias wusste das.

"Aber du wirst hier niemals wieder herauskommen. Du wirst hier drinnen verrotten. So wie es einem Verräter gebührt."

"Du bist doch nicht dumm, Schleimer. Gut, du bist keine Leuchte, aber du kannst doch vernünftig denken. Merkst du eigentlich nicht, dass die dich nur benutzen? Damit sie ihre angeblich gerechte Selektion offiziell machen können?"

"Es ist die einzig wahre Selektion!"

"Sagt wer?"

"Das natürliche Gesetz der Gerechtigkeit."

"Dir ist schon klar, dass die GSD von Reichen gegründet wurde? Du sitzt doch überall in der ersten Reihe, da musst du doch so was im Unterricht mitgekommen."

"Unser Gründer hat sich gegen das System aufgelehnt. Er war ein Reicher und hat sich selber transformiert. Er hat am Ende verstanden, was gerecht ist und was nicht. Er ist für unsere Überzeugung gestorben. Er hat uns allen die Augen geöffnet. Wage es nicht, sein Abbild zu beschmutzen. Wenn er noch leben würde, wäre er auf unserer Seite. Er wäre stolz auf uns und das, was wir erreicht haben“, sagte Tobias ehrfurchtsvoll.

"Klar, er war ein psychopathischer Massenmörder“, bemerkte Jens.

"Er war ein Held!"

Jens seufzte und lehnte seinen Kopf gegen die kühle Betonwand. Das war der einzige Vorteil in diesem Kellerloch. Er war nicht der unerträglichen Hochsommerhitze ausgesetzt.

"Hey, Schleimer, mach dich vom Acker", hörte er auf einmal die erlösende Stimme seines besten Freundes und setzte sich auf.

Matze marschierte mit schweren Schritten auf seine Zellentür zu und stieß Tobias einfach beiseite. Dieser strauchelte protestierend.

"Oh Mann, du erlöst mich. Noch eine Minute länger mit diesem Irren und ich hätte mich an meinem Unterhemd erhängt", sagte Jens und sah seinen Freund erleichtert an. Tobias wusste, dass sie befreundet waren. Kein Grund etwas vorzuspielen.

"Meininger will dich sehen", wendete sich Matze an Tobias und sperrte die Gittertür auf.

Tobias blieb einen kurzen Moment unschlüssig stehen, dann drehte er sich um und lief eilig davon. Wenn der Boss rief, rannte er. Gefolgt von einer dicken, fetten Schleimspur.

Matze grinste breit und betrat mit einer Schüssel in der Hand, die sein Mittagessen in Form von pürierten Kartoffeln enthielt, die Zelle. Er stellte sie neben ihn auf den Bettvorsprung, wobei er seinen Blick nur einen Augenblick länger als nötig auf der Schüssel verweilen ließ. Jens folgte seinem Blick und bemerkte etwas Weißes und Kantiges, das nur einen Millimeter unter der Schüssel herauslugte.

"Der Brei schmeckt heute besonders gut", sagte Matze und zwinkerte ihm zu.

Dann drehte er sich schnell wieder um. Eine Unterhaltung war zu gefährlich. Das Gefängnis wurde videoüberwacht. Doch Jens hatte auch so verstanden. Unter der Schüssel befand sich irgendetwas, was ihm hier heraushelfen würde. Er hatte gewusst, dass Matze einen Weg finden würde. Die GSD hatte sich mit den Falschen angelegt.

Matze ließ die Tür krachend ins Schloss knallen, dann hüstelte er und Jens schaute auf. Sein Freund drehte mehrmals den Schlüssel um, wobei er ihn jedoch bedeutsam ansah. Ihm fiel auf, dass er den Schlüssel öfter im Schloss umdrehte, als nötig. Dann nickte er ihm knapp zu und verließ ihn.

Hatte er eben die Tür wieder aufgeschlossen? War er etwa frei?

Verstohlen schielte er zu der Überwachungskamera in der Ecke des Raumes.

Er sollte sich beeilen. Vielleicht hatte jemand etwas mitbekommen.

Unauffällig zog er die Schüssel heran und schob den Gegenstand, der sich darunter befand, unter seinen Oberschenkel. Es war eine Karte. Wie diejenigen, welche die Reichen zum Bezahlen oder zur Öffnung von Türen benutzten. Sie war sein Weg hier heraus.

Er tat so, als würde er sich am Hintern kratzen und ließ die Karte in die Gesäßtasche seiner Baggy-Hose gleiten. Dann stand er auf und lief zielstrebig zur Tür. Es hatte keinen Sinn es langsam anzugehen. Wenn sie sahen, dass er die Zelle verließ, waren sie ihm auf den Fersen. Er musste sich beeilen.

Hoffnungsvoll stieß er gegen das Gitter und hätte beinahe laut aufgelacht, als sie nach außen aufschwang.

Matze, du bist echt nicht ganz dicht.

Es war so dumm wie genial. Er brauchte einfach nur ganz viel Glück und schnelle Beine. Normalerweise hatte er beides.

Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er musste. Also rannte er einfach in jene, in welche Matze verschwunden war. Der Gang war so düster wie sein Zellenraum, links und rechts reihte sich eine Zelle an die anderen. Soweit er das erkennen konnte, waren alle leer. Die GSD hielt wohl nicht gerne Gefangene. Und er begriff, wie glücklich er sich schätzen konnte. Und fragte sich gleichzeitig, warum er so wertvoll war.

Barfuß rannte er bis zum Ende des Flurs und zog die Karte über das Lesegerät neben der Metalltür. Es blinkte ein grünes Licht auf und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken. Er stieß sie breit auf und stolperte die Treppen hinauf. Er kam an zwei weiteren Stockwerken vorbei, welche von eben einer solch schweren Metalltür verschlossen wurden. Er konzentrierte sich nur auf die großen, schwarzen Ziffern, welche auf der Wand aufgemalt waren. U3. U2. U1.

Als er an der Tür mit einem großen E ankam, zog er abermals die Karte über das Lesegerät und stürmte hindurch. Er hastete durch den langen, staubigen Flur und kam schließlich in einem riesigen Foyer an, wo er für einen Augenblick stehen blieb und durchatmete. Erst jetzt bemerkte er, dass er kein Dach über seinem Kopf hatte. Der Boden war von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt, überall lagen Trümmerstücke verteilt. Ab und an zog sich eine Fußspur durch den schwarzgrauen Staub. Nur noch an einer Seite befand sich eine Mauerwand, die übrigen Wände waren zerstört, Betonstücke in allen Größen und Formen lagen aufgetürmt außerhalb der Ruine, rostige Metallstangen stachen wie überdimensionale Nadeln heraus.

Sein Blick ging in die Ferne, über weitere Ruinen ehemals mächtiger Gebäude, die trübe Luft war von der Mittagssonne auf ein Maximum angeheizt und es hing ein gelblicher Nebel über dem apokalyptisch anmutenden Ort. Es war totenstill. Überall ragten Metallgitter aus der Erde, welche genauso aussahen wie die Tür seiner Zelle.

Es musste ein altes Gefängnis gewesen sein. Alle Gefängnisse sind in der Anfangsphase der Anarchie von der GSD zerstört worden. Samt der Insassen. Im Namen der gerechten Selektion.

Seine Sicht wurde versperrt durch eine unüberwindbare, bestimmt zehn Meter hohe Mauer, an deren Spitze sich dicke Rollen Maschendrahtzaun befanden. Er drehte sich einmal um sich selbst und musste zu seinem Pech feststellen, dass sie den gesamten Ort umgab und es kein Entkommen gab.

Nach einem kurzen Blick zurück auf den langen, noch überdachten Flur, aus dem er gekommen war, rannte er weiter. Niemand folgte ihm. Die GSD war doch nicht dumm. Sie hatten mit Sicherheit bemerkt, dass er die Zelle unerlaubterweise verlassen hat.

Er ließ das ehemalige Foyer hinter sich und sprang über Trümmer und Krater im Asphalt, immer wieder tauchten Fußspuren auf, die nirgendwohin führten. Er stieß auch auf Reifenspuren, welche in Richtung Mauer führten.

Außer Atem folgte er ihnen und achtete nicht auf die Splitter und Steinchen, die sich in seine nackten Fußsohlen bohrten. Das Atmen fiel ihm schwer. Emma hatte zwar für sie beide vor einigen Jahren in eine Genmanipulation investiert, welche einen resistenter gegen CO² machte und den Körper an eine geringere Sauerstoffkonzentration in der Luft anpasste, doch der immer dichter werdende Smog über der Stadt legte sich auf jede Faser der Lunge und schien sie zu verstopfen.

Er stolperte durch die unerträgliche Hitze, der Schweiß lief ihm über das Gesicht und den Nacken herunter. Die drei Tage in der Zelle hatten ihm körperlich nicht gut getan. Er war völlig außer Form.

Er erreichte die Mauer und sah sich einem schweren Metalltor gegenüber, an dessen Seite sich ein Lesegerät befand. Er wischte die schweißnasse Karte an seinem T-Shirt ab und zog sie über den Scanner. Doch anstatt des erwarteten grünen Lichts, erschien ein wild blinkendes rotes Licht, welches weithin über dem Tor leuchtete. Gleichzeitig ging eine ohrenbetäubende Sirene los, welche von den Ruinen widerhallte und in seinen Ohren dröhnte.

Gehetzt blickte er sich um und sah bereits mehrere Männer auf sich zukommen, die wie von Zauberhand aus dem Boden aufzusteigen schienen. Er beobachtete, wie einer von ihnen eine Luke hinter sich zu fallen ließ und dabei eine riesige Staubwolke aufwirbelte.

Verzweifelt suchte er die Mauer nach einem Ausweg ab, doch sie war aus glattem Gestein und das Tor fest verschlossen. Es gab kein Entkommen. Er wollte davonrennen, doch die Männer kamen nun von allen Seiten und richteten mächtige Maschinengewehre auf ihn. Schließlich ließ er sich resigniert gegen die Mauer sinken und wartete zähneknirschend ab, bis sie ihn erreicht hatten. Wortlos legten sie ihm Handschellen an und führten ihn zu einem der Bodenluken und mit einem Waffenlauf an seinem Hinterkopf stieg er in den Untergrund.

 

"Hast du wirklich gedacht, dass dir eine Flucht gelingen würde?", fragte Wagner und verzog seine dünnen Lippen zu einem emotionslosen Lächeln.

Der Anführer der GSD saß ihm gegenüber und durchbohrte ihn mit seinen durchdringenden, hellblauen Augen. Seine aschblonden Haare waren streng zurückgekämmt. Er wirkte sichtlich entspannt und hatte seine Arme locker auf die Lehnen seines luxuriösen Chefsessels abgelegt.

"Ich dachte, dass ich es wenigstens einmal versuchen sollte", gab Jens zurück und versuchte seinen Augen auszuweichen. Er hasste es, wie sie versuchten direkt in seine Seele zu blicken. Trotz seines eher unscheinbaren Aussehens hatte dieser Mann eine Ausstrahlung, die einen in seinen Bann zu ziehen schien. Er war der perfekte Parteiführer.

"Selbstverständlich. Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet." Das Lächeln wirkte auf seinem Gesicht wie festgefroren. Seine Augen waren eiskalt. Schnell blickte Jens auf seine Hände.

"Und was wollen Sie jetzt mit mir machen? Wenn Sie mich töten wollen, dann tun Sie es endlich. Sie haben doch bestimmt auch noch andere Dinge zu erledigen. Jetzt, wo Sie die Welt erobern wollen und so“, sagte er.

"Du kannst mir glauben, dass, wenn ich dich hätte töten wollen, du nicht mehr unter den Lebenden weilen würdest“, antwortete Wagner.

"Das glaub ich Ihnen gerne. Und warum lassen Sie mich am Leben? Zum Spaß? Damit Ihre hirnlosen Mitglieder was zu tun haben? Damit Ihre sadistischen Neigungen befriedigt werden können?"

"Es ist eine wahre Schande, dass du dich für den Verrat entschieden hast. Du hättest eine glänzende Zukunft bei uns haben können. Ich hatte so viele Pläne für dich." Wagner sah ihn beinahe wehleidig an.

"Ist ja nett. Zum Glück habe ich noch einen eigenen Willen. Und Ihre Vorgehensweise ist nicht unbedingt das, was ich unter einer besseren Zukunft verstehe."

"Ohne Opfer kann sich diese Welt nicht verändern. Nicht auferstehen aus dem Sumpf der Anarchie. Das wirst auch du noch irgendwann verstehen."

"Wenn man töten und Angst verbreiten muss, um die Bevölkerung von seiner Ideologie zu überzeugen, dann läuft irgendetwas gewaltig schief. Eine überzeugende Vision braucht keine Gewalt."

Wagners Lächeln wurde breiter und seine Lippen noch schmaler, sodass sie beinahe nicht mehr zu sehen waren. "Mein Junge, du musst noch sehr viel lernen. Ich hoffe, dass du noch so lange leben wirst. Das hoffe ich wirklich."

Jens zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. "Ach wirklich?"

"Wirklich."

Wagner gab einem der Wachmänner, die rechts und links der Tür positioniert waren, einen Wink und dieser verließ kurz das Büro. Als er wiederkam, zog er den laut protestierenden Matze hinter sich her. Seine Hände waren hinter dem Rücken mit Handschellen befestigt. Als er Jens erblickte, sackten seine Schultern herunter. Er wirkte enttäuscht.

"Du hast es nicht geschafft", stellte er fest.

Jens schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. "War ein Versuch wert."

Der Wachmann führte Matze zu Wagners Schreibtisch und hielt seinen Arm fest umgriffen. Er schien auf einen Befehl zu warten.

"Hören Sie, bestrafen Sie Matze nicht deswegen. Ich hab ihn überredet mir zu helfen. Er wollte es nicht. Es ist nicht seine Schuld", log Jens.

"Aber genau das ist es. Es ist deine Schuld, Jens. Matthias war ein anständiges, fleißiges Mitglied. Du hast ihn zu einem Verräter gemacht." Wagners Augen ruhten ohne Unterbrechung auf ihm. Er fing an, ihn nervös zu machen. Er wirkte so freundlich, so zuvorkommend, so verständnisvoll. Doch dahinter war nur eine eisige, berechnende Kälte.

"Er ist kein Verräter. Ich bin einer. Lassen Sie ihn gehen“, beharrte Jens.

"Lass nur, Jens. Ich hab eh keine Lust mehr auf den Scheiß. Ich will aussteigen. Das ist doch ein total kranker Verein hier", warf Matze ein.

Wagner beachtete ihn gar nicht. "Du hast mich abermals enttäuscht, Jens", sagte er mit seiner leisen, hohen, aber den Raum einnehmenden Stimme. Dann hob er die Hand und gab dem Wachmann einen weiteren Wink, ohne seine Augen von Jens abzuwenden.

Bevor er verstand, was geschehen würde, hörte er dicht an seinem Ohr einen Schuss. Instinktiv duckte er sich und als er keinen weiteren Schuss vernahm, blickte er auf. Der Mann hatte seine Waffe wortlos wieder weggesteckt, drehte sich auf dem Absatz um und stellte sich wieder kerzengerade neben die Tür.

Jens starrte wie elektrisiert auf den leblosen Körper seines besten Freundes zu seinen Füßen. Dünnflüssiges, hellrotes Blut floss von der Schusswunde in seiner Schläfe in seine Richtung und tränkte seine verdreckten Zehen. Wie benebelt beobachtete er, wie sich eine immer größer werdende Pfütze um ihn ausbreitete. Ihm wurde übel. Er glaubte sich übergeben zu müssen, doch er konnte sich nicht rühren.

So viele Mordopfer hatte er in seinem Leben gesehen, so viele Leichen in den unterschiedlichsten Stadien ihrer Verwesung, so viel Leid und so viel Gewalt. Doch es änderte nichts. Nichts konnte einen darauf vorbereiten. Auf den Tod eines geliebten Menschen. Er hatte die Leiche seines Vaters nie zu Gesicht bekommen. Emma hatte ihm den Anblick erspart. Jetzt war er ihr unendlich dankbar.

"Gehe ich richtig in der Annahme, dass wir uns verstehen?", hörte er Wagners Stimme zu sich durchdringen.

"Was?", fragte er abwesend. Das Blut floss in die Zwischenräume der weißen Fliesen und verteilte sich langsam im ganzen Raum.

"Der einzige Weg, uns zu verlassen, ist der Tod. Du fragst, warum du noch am Leben bist? Weil wir dich brauchen. Du wirst uns helfen."

"Helfen?" Langsam wendete er den Blick von seinem toten Freund ab. Wagner lächelte immer noch. Als wäre nichts geschehen.

"Ja, helfen. Du wirst für uns spionieren. Wir werden dir einen Chip implantieren, dich freilassen und du wirst zu Goldmann gehen und ihm sagen, dass du aus unserer Gefangenschaft fliehen konntest. Du wirst mit ihm zusammenarbeiten und dir nichts anmerken lassen. Dreimal am Tag wirst du uns Rückmeldung geben. Du bekommst ein eigenes Handy, von dem du ausschließlich mit mir kommunizieren wirst." Er schob ihm ein schickes, schmales Handy über dem Schreibtisch entgegen. "Du wirst mich über jegliche Neuigkeit, mag sie auch noch so unbedeutend sein, informieren. Du berichtest mir, wann Goldmann isst, wann er schläft und wann er aufs Klo geht."

Jens nahm das glatte, kühle Handy in seine Hand. Das Blut rauschte in seinem Kopf. Sein Magen fühlte sich leicht an. Er nahm Wagners Worte auf. Doch sein Verstand kam nicht hinterher.

"Solltest du ein weiteres Mal versuchen, mich zu hintergehen oder sollte jemand herausfinden, dass du mein Spion bist oder solltest du eine andere Dummheit machen, dann wird sich die Zahl der Menschen, die du auf deinem Gewissen hast, noch deutlich erhöhen. Glücklicherweise bist du recht beliebt. Da habe ich beinahe die Qual der Wahl. Als erstes würden mir da Namen einfallen wie Dennis, Sascha, Ben - Emma."

Jens hob ruckartig seinen Kopf.

"Ich sehe schon, wir verstehen uns. Wunderbar. Dann wollen wir auch gar keine weitere Zeit verschwenden."

Er drückte auf einen Knopf an dem Telefon neben seinem Computerbildschirm und verlangte nach Sicherheitspersonal. Die Tür öffnete sich und drei weitere Wachmänner betraten den Raum.

"Fahren Sie diesen Jungen auf die A100. Lassen Sie ihn am Westkreuz raus. Lassen Sie es aussehen, als habe er einen heftigen Kampf hinter sich. Aber sehen Sie zu, dass er überlebt."

Die Männer nahmen ihn zwischen sich, ihre Hände umfassten seine Arme wie Schraubstöcke. Dann zogen sie ihn mit sich, wobei er beinahe auf Matzes ausgestreckte Hand trat und bei dem Versuch ihr auszuweichen über seinen Kopf stolperte. Bevor er mit dem Gewehrlauf im Rücken aus dem Büro gestoßen wurde, drehte er sich noch ein letztes Mal zu Wagner um. Er hatte sich bereits wieder seinem Bildschirm zugewendet.

Langsam erwachte Jens aus seiner Schockstarre und begann sich zu wehren, wollte diesen Wichser von Wagner anbrüllen und sich auf ihn stürzen, doch als er sich gerade aus dem Griff des einen Wachmannes befreit hatte und ihm einen heftigen Haken verpasste, vernahm er einen dumpfen Schlag auf seinen Hinterkopf und dann wurde alles schwarz.