Emma
"Wann hast du eigentlich das letzte Mal geschlafen?"
Sie spürte Bens prüfenden Blick, doch ignorierte seine besorgte Frage und kämpfte unbeirrt weiter mit dem Touchpad seines Laptops, während sie vergeblich versuchte in die digitale Stadtkarte Berlins zu zoomen.
"Brauchst du Hilfe?"
"Nein", gab sie knapp zurück und hämmerte mit ihren beiden Zeigefingern auf den Plastiksensor.
"Das sieht aber nicht so aus", bemerkte er trocken und ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen. Seine Schenkel berührten ihre nackten Beine und sie rutschte ein Stück von ihm weg.
"Was willst du denn machen?", fragte er.
Sie seufzte. Sie hasste es, nach Hilfe zu fragen. Wieso kam sie mit so einem simplen technischen Schickschnack nicht zurecht?
"Ich will näher an diesen Punkt hier." Sie zeigte auf eine große Freifläche inmitten eines Industriegebiets im Norden der Stadt.
Ben wischte einmal über das Touchpad, so schnell, dass sie gar nicht erkannte was er überhaupt machte, und sofort war das gewünschte Gebiet so stark vergrößert, dass sie verschiedenfarbige Flächen, kleine Wege und Gebäude erkennen konnte.
"Danke", sagte sie und kniff ihre Augen zusammen, um den Plan eingehender zu betrachten. Die Helligkeit des Bildschirms schmerzte in ihren Augen. Sie war so etwas nicht gewöhnt. Seitdem die direkte Sonne verschwunden war, und Elektrizität bei ihnen nur sporadisch zur Verfügung stand, hatte sie sich an konstant schummriges, trübes Licht gewöhnt.
"Warte, ich bring dir eine normale Maus", sagte Ben und sprang wieder vom Sofa auf. Mit ihm ging sein Geruch nach Schweiß, Kaffee und Whiskey.
Sie nahm einen großen Schluck pechschwarzen Kaffee und nahm die Unterlagen zur Hand, die ihr Goldmann überlassen hatte. Dort waren angeblich alle Informationen verzeichnet, die er über die GSD in den letzten Jahren gesammelt hatte. Sie traute ihm nicht ein Stück weit über den Weg, daher nahm sie an, dass es nur ein Bruchteil von dem war, was er wirklich wusste. Es sollte sie wahrscheinlich nur beschäftigen, solange die Suche nach Jens anhielt.
"Hier, damit geht's einfacher." Ben stöpselte eine Maus in einen der Schlitze am Laptop, nahm sich dann einen von Goldmanns Ordnern und setzte sich ihr gegenüber auf den Couchtisch.
Sie scrollte mit dem Rädchen und war froh, als sich die Karte heraus- und hereinzoomte. Schließlich war sie nicht ganz unwissend was Computer anging. Sie hatten nie den Luxus besessen, einen zu besitzen und so war ihr auch das Internet nicht vertraut, doch sie kannte zumindest das Konzept. An ihrer Schule hatte sie damals ab und an die Gemeinschaftslaptops benutzen dürfen. Das war, als die Standardschulen noch die Grundausstattung vom Staat bekamen. Als sich noch irgendjemand um dieses Land gekümmert hatte.
"Kann man was markieren?", fragte sie und suchte in der Menüleiste vergeblich nach einer entsprechenden Funktion.
"Warte, ich drucke dir die Karte aus. Das ist einfacher."
Er holte aus einem grauen Metallschrank aus der Standard-Kollektion einen kleinen, handlichen Drucker heraus, nahm ihr den Laptop ab, drückte zwei Tasten und schon ratterte das Ding los.
"Der Typ kann mir nicht erzählen, dass er nicht mindestens eine Karte besitzt, auf der die möglichen Standorte der GSD verzeichnet sind. Wo er doch angeblich der mächtigste Mann ist, der auf Erden weilt und sich Experten und Lakaien einkauft wie andere Leute Brot“, sagte sie.
"Er will uns bei Laune halten. Damit wir nichts Dummes anstellen."
"Ich weiß. Aber da kennt er mich schlecht."
"Und mich noch schlechter“, bemerkte er.
“Ich dachte du wärest gegen einen Alleingang."
"Du meinst ich bin gegen eine gefährliche und sinnlose Kamikazemission“, sagte er und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
"Ich habe jetzt drei Tage abgewartet. Drei Tage. Was machen Goldmanns Leute eigentlich, liegen auf ihren teuren Seidendiwanen und schlürfen Champagner? Wenn er sich auch nur die geringste Mühe geben würde, hätten sie Jens schon längst ausfindig gemacht."
Sie hasste es, hingehalten zu werden. Und wenn sie auch nur noch eine Minute länger untätig herumsaß, würde sie explodieren. Wie konnte sich solch eine große Organisation wie die GSD vor Goldmanns Männern verstecken?
"Und wenn ich die gesamte Stadt umgraben muss, ich werde ihn finden."
Sie riss ihm die ausgedruckte Karte aus der Hand, nahm einen Rotstift und machte sich daran, Kringel um die Orte zu machen, welche in den Aufzeichnungen als mögliche Aufenthaltsorte der GSD-Zentrale galten.
"Ich verstehe deine Frustration, aber wir sollten jetzt nicht unüberlegt handeln“, gab Ben zu bedenken.
"Ich kann aber nicht anders handeln!", rief sie aus und sah ihn an. "Ich kann nicht denken oder essen oder schlafen, nicht solange Jens in der Gewalt dieser Psychopathen ist."
"Deswegen hast du ja mich", sagte er.
Die Gelassenheit in seiner Stimme beruhigte sie ein wenig. Es war verrückt. Sie kannte ihn kaum. Und doch schaffte er es immer wieder, zu ihr durchzudringen. Er hatte eine Engelsgeduld, das musste man ihm lassen. Und er half ihr bei der Suche nach Jens, das rechnete sie ihm hoch an. Also versuchte sie sich Mühe zu geben. Auch wenn es ihr schwer fiel. Freundlichkeit war nicht ihre Stärke.
"Und was schlägst du vor?", fragte sie schließlich und fuhr wieder fort, die Stadtkarte mit roten Kringeln zu verzieren.
"Wir stellen ihm ein Ultimatum." Er zeigte auf den Monitor des kleinen Flachbildfernsehers in der Ecke seines Wohnzimmers, auf dem Goldmann gerade eine seiner Reden an die Nation hielt, die schon seit drei Tagen das gesamte Fernsehprogramm okkupierten. Er hatte nicht gelogen, er war der König der Propaganda. "Er kann die Straße nicht damit überzeugen. Er braucht uns."
Sie wurde hellhörig und legte den Stift beiseite. "Ein Ultimatum?"
"Wir geben ihm einen Zeitrahmen. Eine Woche. Wenn er bis dahin Jens nicht aufgespürt hat, werden wir unsere Viertel gegen ihn aufhetzen. Wir machen ihm klar, dass es dann nur noch eine Frage der Zeit ist, ehe die Übrigen uns folgen werden. Ohne eine politische Mehrheit kann er nicht gewinnen und das weiß er. Käme es zu einem Krieg, würde er verlieren. Er ist ein Geschäftsmann, kein Kämpfer."
Sie dachte kurz darüber nach. Doch sie war zu müde, um klare Gedanken fassen zu können. Ihr war sowieso nur eine einzige Sache von Bedeutung.
"Und wenn er ihn nicht in einer Woche findet?"
"Dann werden wir ihn finden", sagte er ohne zu zögern.
Sie sah ihn unschlüssig an. Sie wollte das Schicksal ihres Bruders nicht in die Hände eines Reichen legen. Aber wenn sie bei einer überstürzten Suche auf eigene Faust umkam, dann würde ihm das auch nicht helfen.
Ein plötzliches Flackern auf dem Fernsehbildschirm lenkte ihre Aufmerksamkeit ab. Goldmanns Gesicht wurde von schwarzen und weißen Punkten verschlungen, dann erschien ein anderes Bild. Das Logo der GSD. Seit gestern schon hackten sie sich regelmäßig in das laufende Programm, um ihre irrsinnige Ideologie an den Mann zu bringen. Es wechselten sich flammende Reden über die Ziele der Partei und Aufrufe zur Teilnahme an der gerechten Selektion mit Hinrichtungen ab. Opfer dieser Hinrichtungen waren Reiche, Politiker, Polizisten und Berühmtheiten. Sie wurden bei laufender Kamera mit einem Schwert geköpft. Das Schwert der Gerechtigkeit, wie sie es nannten.
"Goldmanns Leute können nicht einmal den Kampf mit den gegnerischen Hackern gewinnen, dabei besitzt er alle Medien. Wenn ich tatsächlich an Politik interessiert wäre, würde ich jetzt sagen, wir setzen definitiv auf das falsche Pferd“, sagte sie.
"Sollen sie doch ihren Wahlkampf führen. Wir müssen es nur so einrichten, dass wir davon profitieren. Sie denken, dass sie uns benutzen, dass sie uns in der Hand hätten. Doch es ist genau anders herum. Und wir müssen das ausnutzen."
"Warst du in einem vorherigen Leben mal Politiker?", fragte sie.
"Ich bin es einfach nur leid, dass die Menschen Opfer der Regierenden sind. Ob nun durch Vernachlässigung, Terror oder Ungerechtigkeit. Wir haben alle eine bessere Zukunft verdient. Wir müssen nur etwas dafür tun."
"Die Frage ist nur, wie diese bessere Zukunft aussehen soll."
Sie zog ihre Beine hoch und setzte sich in einen Schneidersitz. Ihre Füße waren ausnahmsweise einmal sauber. Mit der Öffnung der Wasserleitungen konnten sie endlich wieder duschen. Gisela hatte sich zusammen mit einigen ihrer Freundinnen die letzten Tage daran gemacht, die Straßen von Unrat, Blut und Staub zu befreien. Das Viertel war fast nicht wiederzuerkennen und die Leute nahmen Goldmanns Unterstützung bereitwillig an. Im Gegensatz zu ihr. Weshalb sie auch immer noch keine Schuhe hatte. Sie wusste nicht, ob es Stolz oder Dummheit war. Jens würde jetzt wahrscheinlich sagen, dass es da keinen Unterschied gab.
"Erinnerst du dich noch an die Künstliche Selektion?", fragte sie Ben und wendete sich von dem Bildschirm ab, als das GSD Mitglied sein Schwert zog und an den Hals eines offenbar berühmten Schauspielers legte. Sie kannte sich im Leben der Stars und Sternchen nicht aus, daher erkannte sie ihn nicht wieder.
"Selbstverständlich", antwortete er.
Sie schätzte Ben auf Anfang 30. Wahrscheinlich war er noch jünger. Das Leben auf der Straße ließ einen älter aussehen.
"Das Programm war vom Volk gewollt. Die Menschen haben fast einhundert Jahre einigermaßen in Frieden damit gelebt. Und doch kam dann die Anarchie. Was also stellst du dir unter dieser Zukunft vor? Die Menschen wissen doch selber nicht, was sie wollen."
"Die Anarchie geschah nicht, weil die Menschen unzufrieden waren, sondern weil ein Psychopath Gott spielen wollte und es genug Dummköpfe gibt, die jedem folgen, der ihnen mit einer flammenden Ideologie daherkommt."
Sie seufzte und rieb sich die Stirn. Sie war zu müde um über so etwas nachzudenken, geschweige denn zu diskutieren. Und überhaupt, es war ihr herzlich egal, was mit diesem Land passierte. Solange man sie und ihren Bruder zufrieden ließ.
"Ich will einfach nur meine Ruhe haben und mein altes Leben zurück."
"Du meinst ein Leben in Hunger, Armut und tagtäglicher Lebensgefahr?"
"Es hat funktioniert."
"Das sieht man."
Sie sah ihn genervt an. Wieso zur Hölle musste dieser Typ immer recht haben?
"Jens ist zur GSD gegangen, weil es nicht funktioniert hat", sagte er.
"Was hast du vor, willst du deine eigene Partei gründen und gegen diese beiden Irren antreten?"
"Wie schön, dass wir endlich mal einer Meinung sind."
"Einer Meinung? Das war ein Scherz."
"Seh ich nicht so."
"Du willst deine eigene Partei gründen?" Sie sah ihn entgeistert an.
"Nein, nicht ich. Wir."
Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Kopfschüttelnd stand sie von Sofa auf und schüttete sich eine weitere Tasse Kaffee ein, als ihr Handy klingelte.
"Goldmann", sagte sie zu Ben, der daraufhin den Ton des Fernsehers ausstellte.
"Wenn man vom Teufel spricht", raunte er.
"Ja", fragte sie formlos. In ihrer Vereinbarung hatten sie nicht davon gesprochen, dass sie sich anfreunden müssen. Sie verachtete Goldmann und sie war sich sicher, er hatte ihr gegenüber die gleichen Empfindungen.
"Frau Jäger, ich habe eine erfreuliche Neuigkeit für Sie."
Seine ekelhafte pseudo-freundliche Art brachte sie regelmäßig zur Weißglut. Denn sie wusste genau, was unter dieser scheinbar ruhigen, zuvorkommenden Schale steckte. Ein cholerischer, skrupelloser Machtmensch.
"Was", fragte sie knapp.
"Wir haben ihren Bruder. Er - ", fing er an.
"Was?", unterbrach sie ihn und ließ beinahe ihre Kaffeetasse fallen. "Jens ist bei Ihnen? Wie? Wo? Was … Ich komme."
Sie beendete das Gespräch, ohne Goldmann ausreden zu lassen und war schon aus der Tür hinaus, als sie Ben hinter sich herrufen hörte.
"Warte!"
An Goldmanns Anwesen im Grunewald winkten die Wachmänner sie durch und Emma stürmte völlig außer Atem durch das imposante Steintor, Ben im Schlepptau. Goldmanns Sicherheitsdienst kannte sie, nachdem sie in den letzten Tagen bei ihm ein- und ausgegangen waren, um ihre Wahlkampfstrategie zu planen.
Sie rannte über den breiten Kiesweg, der sich durch einen hübschen Park mit saftig grünen Wiesen, akkurat geformten Rosenbüschen und Lotusteichen schlängelte. Die riesige Villa aus schneeweißen Ziegelsteinen, einem dunkelgrauen Giebeldach mit einem Schornstein und altmodischen Doppelflügelfenstern wirkte wie aus einem Paralleluniversum. Die Welt der Reichen hatte nichts mit der der Straße gemein.
Drei Stufen auf einmal nehmend sprang sie die Marmortreppe hinauf, wo sie zwei Wachmänner begrüßten.
"Haben Sie einen Termin, Frau Jäger?", fragte der eine, während der andere in sein Funkgerät sprach.
"Goldmann erwartet mich", keuchte sie atemlos und hielt sich die Seite.
"Ist ok", sagte der Mann mit dem Funkgerät und öffnete die Flügeltür, welche sie in die von pompösen Kronleuchtern hell erleuchtete Vorhalle mit dem dunklen, auf Hochglanz polierten Holzfußboden, den weiß gestrichenen Wänden und dem antiken, aber edlen Mobiliar führte. Es roch nach Rosen, Zitronen und reinem Sauerstoff. Die hohen Decken waren mit raffiniertem Stuck verziert. Gemälde mit Porträts von ihr unbekannten Männern blickten auf sie hinab, in einem Schrank, der die gesamte linke Wand einnahm, befanden sich hinter Glas Hunderte von Büchern. Die Reichen hatten ein Faible für das Antiquierte. Warum, wusste sie nicht. Vielleicht, weil es sie vom Rest der Bevölkerung abgrenzte.
Goldmanns Prunk und grenzenloser Luxus hatten sie noch nie beeindruckt. Geld hatte für sie nur eine Bedeutung. Überleben.
Sie schlitterte über den glatten Fußboden, als sie auf halbem Weg Goldmann die Wendeltreppe herunterkommen sah. Wie üblich trug er einen perfekt sitzenden Designeranzug, seine weißgrauen Haare glänzten wie lackiert und waren fein säuberlich zur Seite gekämmt. Für seine über 150 Jahre sah er noch quicklebendig und gesund aus. Die Reichen konnten sich die beste medizinische Versorgung in speziellen Privatkliniken leisten. Krebs war dort so einfach zu kurieren wir ein Schnupfen.
"Frau Jäger, passen Sie auf, dass Sie nicht ausrutschen", säuselte er zuckersüß und kam ihr mit seinem selbstsicheren, eleganten Gang entgegen. Er war außerordentlich groß, was bei seinen Geschäftspartnern bestimmt einschüchternd wirkte.
"Wo ist er?", rief sie ihm entgegen und konnte sich gerade noch auffangen, bevor sie in ihn hineinschlitterte.
"Beruhigen Sie sich, Frau Jäger. Wir kümmern uns um Ihren Bruder. Es geht ihm gut."
"Wo ist mein Bruder?", fragte sie noch einmal und ihre Stimme überschlug sich.
"Er befindet sich in einem meiner Krankenzimmer im ersten Stock. Aber er wird noch behandelt, vielleicht - ".
Sie beachtete ihn nicht weiter, rannte an ihm vorbei und die Treppen hinauf. Sie hielt eine Bedienstete auf, die gerade aus einem der zahlreichen Zimmer kam.
"Wo liegt Jens Jäger?", fragte sie und packte die Frau am Handgelenk.
Diese sah Emma verwirrt an, dann zeigte sie zu dem Zimmer, aus dem sie eben gekommen war. Sie stieß die Frau beiseite und stürmte in das Krankenzimmer.
Und da lag er, in dem frisch bezogenen Bett, nur sein Kopf schaute aus dem schneeweißen Lacken hervor. Eine Krankenschwester saß neben ihm und hantierte mit einer Pinzette und einer langen, spitzen Nadel in seinem Gesicht rum. Er sah aus, als wäre er in einen schlimmen Kampf geraten, sein rechtes Auge war dick geschwollen und schillerte rotblau, seine Lippe war aufgeplatzt und verkrustet, außerdem hatte er zahlreiche Schrammen und Blutergüsse. Doch er war am Leben und schaute sie aus seinem gesunden linken Auge an. Er versuchte zu lächeln, doch eine der Krusten löste sich und Blut trat aus seiner Oberlippe hervor. Er stöhnte und fasst sich auf die Wunde.
"Jens!", rief sie und hastete an seine Seite. Sie nahm seine Hand und umklammerte sie fest. Dann strich sie ihm durch die zerzausten Haare, in denen Blut und schwarzer Staub klebten. "Bist du ok?"
Er nickte.
"Aua", presste er hervor.
"Was? Tut dir was weh? Soll ich den Arzt holen?", fragte sie und betrachtete ihn besorgt.
Er schüttelte leicht den Kopf. "Meine Hand."
"Oh", sagte sie und lockerte schnell ihren Griff.
"Geht es ihm gut? Ist er schwer verletzt?", fragte sie die Schwester, welche gerade das Garn abschnitt, mit dem sie die tiefe Wunde an seiner Augenbraue zusammengenäht hatte.
"Es geht ihm gut. Keine inneren Verletzungen. Es wird alles wieder verheilen", sagte sie und packte dann ihre medizinischen Utensilien zusammen.
Emma atmete erleichtert aus. Ihr Bruder ist schon so häufig in handgreifliche Streits geraten, dass sie diese gar nicht mehr zählen konnte. Er war verdammt zäh. Wahrscheinlich freute er sich über ein paar neue schicke Narben.
"Was machst du denn für Sachen?", fragte sie und strich ihm die blonden Locken aus der Stirn. "Haben sie dich gefoltert?"
Er schüttelte den Kopf.
"Ich nehme an, Goldmanns Männer haben deine Entführer kalt gemacht?"
Er sah sie leicht verwirrt an. "Wieso?"
"Na, sie werden dich ja wohl nicht nur befreit haben. Sie haben dich doch in einem der GSD Quartiere gefunden, schätze ich?"
"Niemand hat mich gefunden. Ich bin geflohen."
"Du bist geflohen?", fragte sie erstaunt. Sie hatte angenommen, dass Goldmann ihn ausfindig gemacht hatte.
"Ja. Ich bin hierhergekommen, weil ich dachte hier wäre ich sicher. Du arbeitest doch noch mit Goldmann zusammen?" In seinen Augen blitzte kurz so etwas wie Unsicherheit auf.
"Ja, das tue ich. Er hat mir versprochen, dich zu befreien. Aber wie … wie bist du denn entkommen?"
"Matze hat mir geholfen."
"Matze? Und wo ist er jetzt?"
Er schüttelte nur den Kopf und starrte an die Decke.
"Scheiße", sagte sie nur.
Sie hatte den besten Freund ihres Bruders immer gern gehabt. Er war nicht so zurückgeblieben wie die meisten anderen Straßenkinder. Seitdem sie ihre Band The Suburbs gegründet hatten, waren die beiden beinahe unzertrennlich gewesen. Sie war froh gewesen, dass Jens eine Beschäftigung gefunden hatte, die ihn von der Kriminalität der Straße abhielt. Matze ist ein guter Junge gewesen. So ein Ende hatte er nicht verdient. An der Selektion der GSD war rein gar nichts gerecht.
"Hey Ben", sagte er unvermittelt und blickte zur Tür.
Emma drehte sich um. Sie hatte Ben völlig vergessen. Er lehnte am Türrahmen und grinste Jens zu.
"Hey Jens. Wie ich sehe, hast du dich ordentlich geschlagen." Er zog anerkennend eine Augenbraue hoch. "Ich hoffe du hast jetzt erst einmal genug von diesem Verein."
"Ich schätze schon", murmelte Jens.
"Kannst du laufen?", fragte sie, als die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatte.
"Nehm ich doch an. Meine Beine hab ich zumindest noch."
"Ok, dann lass uns gehen." Sie schlug das Laken weg und half ihm dabei sich aufzusetzen.
"Wo willst du hin?", fragte Ben hinter ihr.
"Nach Hause", sagte sie nur und stützte Jens, als er aufstand.
"Lass ihn sich doch wenigstens noch für eine Weile erholen. Er hat einiges hinter sich."
Sie funkelte ihn wütend an. "Ich denke, ich weiß was für meinen Bruder am besten ist."
Jens brummte nur und humpelte leicht neben ihr her, während sie ihn in Richtung Tür führte.
Sie hörte Ben stöhnen, doch sie beachtete ihn gar nicht und schob sich grob an ihm vorbei. Als sie in der Vorhalle ankam, erwartete sie Goldmann.
"Frau Jäger, was machen Sie denn da? Ihr Bruder sollte in dem Zustand nicht herumlaufen."
"Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht", entgegnete sie unwirsch und marschierte schnurstracks in Richtung Ausgang und stieß die Flügeltür auf.
"Sie können meinetwegen tun und lassen, was Sie wollen. Aber vergessen Sie nicht unsere Abmachung, Frau Jäger. Das ist nur eine gut gemeinte Warnung", rief er ihr hinterher.
"Arschloch", murmelte sie und half Jens die Stufen hinunter.
"Mit dir hat man es aber echt nicht einfach", raunte Ben, der hinter ihnen hergeeilt kam und Jens an der anderen Seite unter den Ellbogen fasste.
"Nee, mit Emma hat man es nie einfach", bemerkte Jens und stolperte prompt über eine Stufe.
"Sei bloß still", wies sie ihn zurecht. "Wer hat sich denn hier mit der GSD angefreundet."
"Wir haben uns schon von Giselas Müll ernährt, ich wollte uns doch nur helfen."
"Ich weiß, ich weiß. Ist ja auch völlig egal jetzt. Wir fahren nun nach Hause und dann lassen wir die ganze Scheiße hinter uns", sagte sie, während die drei über den knirschenden Kies Goldmanns Anwesen hinter sich ließen. Die Sicherheitsleute beäugten sie argwöhnisch und sprachen in ihre Funkgeräte.
"Emma, wir stecken vollständig in der Scheiße drin. Da kommen wir nicht mehr raus", bemerkte Jens trocken, und spuckte auf den Boden. Das hellrote Blut hinterließ einen Schandfleck auf den blank polierten, weißen Kieselsteinen.