Jonas

 

Sie wollten ihm nicht erzählen, was da draußen los war. Wollten ihn nicht zu sehr belasten. Wahrscheinlich dachten sie, er würde dann ausrasten und endgültig den Verstand verlieren.

Doch er war schlauer als sie alle. Er war nicht verrückt. Sein Verstand war glasklar. Und er hörte das Personal tuscheln. Die geschwätzigen Schwestern sprachen während ihrer Kaffeepausen hinter vorgehaltener Hand über den apokalyptischen Schauplatz, der sich Berlin nannte. Ängstlich tuschelten sie über Terror, Menschenjagd und den Weltuntergang.

Wenn er so etwas hörte, legte er ein breites Grinsen auf. Manchmal lachte er auch lauthals auf. Dann beäugten die unwissenden Menschlein ihn nervös und riefen einen der Ärzte, der ihn dann, seinem Status gebührend, höflich in sein Zimmer brachte und ihm ein paar hübscher, bunter Pillen auf einer kleinen Silberschale hinstellte.

Er fragte sich wie sie reagieren würden, wenn sie wüssten, dass er noch nie auch nur eine Einzige eingenommen hatte.

Jetzt, genau in diesem Moment, geschah in der Stadt etwas Großartiges. Es wurde Geschichte geschrieben. Das hatten sie einzig und allein ihm zu verdanken. Die Früchte seiner Arbeit wurden geerntet und er konnte nicht dabei sein.

Grimmig starrte er aus dem Fenster, hinter dem sich die synthetisch hergestellten Vögel, deren Federkleider in allen Farben schimmerten, um den besten Platz an dem kleinen Springbrunnen zankten. Seine Finger schlossen sich so fest um das Wasserglas in seiner Hand, dass seine Knochen schmerzten.

Sie hatten ihm alles zu verdanken. Er war der wahre Held in dieser Geschichte. Ohne ihn würden die Menschen immer noch lieb und brav zur Künstlichen Selektion antanzen und ihr Schicksal in die Hände der unfähigen Politiker legen. Er war der Retter der Menschheit und dabei wussten sie nicht einmal, dass er noch lebte.

Diese schwachsinnigen Idioten da draußen wussten doch gar nicht, was sie taten. Sie brauchten ihn. Eine Revolution konnte nicht ohne ihren Helden Erfolg haben. Dachten sie etwa, sie würden es ohne ihn schaffen? Waren sie so vermessen?

Er zitterte vor Wut. Das dünne Glas in seiner Hand zersprang mit einem lauten Klirren und die Splitter bohrten sich in seine zarte Handfläche.

Er wendete seinen Blick nicht von den streitenden Vögeln ab und ließ seine Hand langsam auf den Scherbenhaufen sinken. Dann lachte er, bis ihm die Tränen die Wangen herunterliefen.

Endlich hatten die Menschen ihre Selektion selbst in der Hand, doch sie waren zu dumm richtig zu selektieren. Sie bekämpften sich gegenseitig, bis niemand mehr da war. Sie hatten es einfach nicht verstanden.

 

Er schlief nie. Er brauchte keinen Schlaf. Er lag im Bett, blickte gegen die weiße Decke und dachte an die Welt dort draußen. Wenn er doch nur aus diesem elenden Haus voller Irrer herauskäme. Wenn sie doch nur sein Gesicht sehen könnten. Wenn sie wüssten, dass er noch lebte, dann hätten sie die nötige Inspiration um sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Auf die gerechte Selektion. Nicht diese Willkür, die dort draußen momentan herrschte.

Natürlich, es war schwer diese gerechte Selektion zu sehen. Sie zu verstehen. Wahrscheinlich war er der Einzige, der diese Gabe besaß. Die Gabe der Beurteilung, wer selektiert werden musste und wer es wert war weiterzuleben.

Wenn er sie doch nur anleiten könnte, führen könnte.

Aber aus dieser Irrenanstalt war kein Entkommen. Wenn die Ärzte ihm erzählten, dass sie ihn nur zu seinem eigenen Schutz gefangen hielten, dann musste er hysterisch lachen. Niemand wollte ihn töten. Man liebte ihn. Verehrte ihn. Er war der gottverdammte Held dieser gottverdammten Stadt.

Seine Eltern hatten ihn besucht, am Anfang. Bis er ihnen gesagt hatte, dass er sie nicht mehr sehen möchte. Er hatte ihnen mit Selbstmord gedroht. Sie sind nie wiedergekehrt. Sie waren so dumm wie alle anderen. Als ob er jemals auf den Gedanken kommen würde, sich etwas anzutun. Was sollte denn aus dieser Welt werden, wenn er nicht mehr da wäre?

Sie verstanden ihn einfach nicht. Genauso wenig wie der Rest dieser Weißkittel.

 

Als er ein Geräusch an der Tür vernahm, gab er sich nicht einmal die Mühe seinen Kopf umzudrehen. Es war wahrscheinlich nur mal wieder einer dieser psychopathischen Insassen, welche tatsächlich dachten, er wäre einer von ihnen. Manchmal machte er sich den Spaß und redete mit ihnen. Man lernte erstaunlich viel über die Menschheit, wenn man sich mit einem Irren unterhielt. Manche waren sogar ganz nett. Und lustig waren sie. Schade eigentlich, dass sie alle würden aussortiert werden. Sie waren kein Überlebensmaterial. Jemand musste dafür sorgen, dass sie nicht länger den Platz eines stärkeren Exemplars blockierten. Ganz offensichtlich schaffte diese Aufgabe niemand anderes außer ihm. Vorausgesetzt, er käme irgendwann noch einmal hier heraus.

Als die Tür zu seinem Zimmer langsam und geräuschlos aufging und ihn nicht der übliche blauweiße Schein der Flurstrahlen blendete, wendete er sich widerstrebend um. Wer wagte es ihn mitten in der Nacht zu stören? Man hatte an diesem Ort einfach keine Würde. Schlimm genug, dass sie einen wie ein unterbelichtetes Kind behandelten, jetzt störten sie auch noch seine Nachtruhe.

Er konnte drei Schatten ausmachen. Es mussten Insassen sein. Die Weißkittel schlichen sich nicht im Dunkeln in ein Patientenzimmer.

"Ich habe heute keine Sprechstunde. Geht zur Schwester und holt euch ein paar gelbe Pillen", sagte er und fuhr fort gen Decke zu starren.

"Jonas?", fragte einer. "Jonas Seibert?"

Jonas seufzte und schloss die Augen. Seine Hand tastete nach der Notfalltaste auf seinem Nachttisch.

"Sind Sie es wirklich? Sind Sie Jonas Seibert?"

Die Stimme klang ungläubig. Beinahe ehrfürchtig.

Jonas hielt in seiner Bewegung inne. Einem Bewunderer konnte er ein paar Minuten seiner Zeit schenken.

"Das bin ich in der Tat", sagte er. "Wer fragt?"

"Oh mein Gott, er ist es", flüsterte eine. "Ich glaub es nicht, er ist es wirklich."

"Natürlich bin ich es. Wer soll es denn sonst sein?" Jonas betätigte den Lichtschalter und augenblicklich wurde der Raum in ein weiches, gelbes Licht gehüllt.

"Ihr seid keine Patienten", stellte er fest, als er die drei Jugendlichen sah, welche weder die weiße Personalbekleidung noch die blaue Bekleidung der Insassen trugen. Stattdessen steckten sie in gewöhnlichen, grauen T-Shirts und Jeans sowie Sportschuhen. Sie waren allesamt bewaffnet.

Interessiert setzte er sich auf. Wer waren diese Kinder? Oder hatte er aus Versehen eine der Pillen verschluckt und halluzinierte nun?

Er schloss die Augen, zählte langsam bis drei und öffnete sie wieder. Doch die drei waren immer noch dort. Zwei Jungen und ein Mädchen. Sie sahen ihn mit großen Augen an, als wäre er ein Stern, der soeben vom Himmel gefallen war.

"Jonas Seibert. Sie leben tatsächlich", sagte das Mädchen. Sie hatte ihre Haare bis auf wenige Zentimeter abgeschoren. Sie sah furchtbar gewöhnlich aus. Wie eines von diesen Kids, für die er sich früher eingesetzt hatte, wenn sie von der Künstlichen Selektion erwählt worden waren. Die zu arm und unbedeutend waren um sich selber gegen die Entscheidung der Regierung zur Wehr zu setzen.

Amüsiert lächelte Jonas. "Wie seid ihr hier herein gekommen?", fragte er.

Nachts gab es keine Besuchszeiten. Und schon gar nicht für bewaffnete Kinder. Nein, diese jungen Menschen waren hier um ihn zu abzuholen. Es war soweit.

"Wir sind wegen Ihnen hier", sagte einer von ihnen. Der Junge schien nach Beifall zu heischen. Er erinnerte ihn an jemanden. Richtig. An ihn selber. "Wir werden Sie befreien."

Jonas nickte bedächtig, immer noch lächelnd. "Ich habe euch schon erwartet."