Oliver

 

 

Die spitzen Ahornblätter des kleinen Bäumchens im Vorgarten hatten sich bereits feuerrot verfärbt und leuchteten gegen den schwach blauen Himmel. Die Dunstglocke über der Stadt war lichter geworden in den letzten Wochen. Die während der Anarchie durch Anschläge, Mord und Krankheit radikal geschrumpfte Bevölkerungsdichte machte sich langsam bemerkbar. Auch seine neuen, oder eher wiedereingeführten, Verkehrsregeln inklusive eines zumindest teilweise eingehaltenen autofreien Sonntags, entfalteten ihre Wirkung.

Er wünschte, er könnte noch mehr tun. Doch sie lebten in einer direkten Demokratie. Und die Menschen waren unverbesserlich. In den nächsten Jahren würde eine Menge Arbeit auf ihn zukommen. Doch er nahm diese Aufgabe an. Und er würde sein Bestes geben. Für Isa. Denn sie hätte es so gewollt. Das wusste er.

„Oliver. Es tut mir leid, dass du warten musstest“, Isabellas Vater kam aus dem Haus und streckte ihm seine Hand entgegen. Oliver stand von der Bank auf und erwiderte seinen festen Händedruck.

„Kein Problem.“

„Hast du bereits die vorläufigen Ergebnisse?“

„Ja. Wie zu erwarten war, wurde der Volksentscheid mit fünfundachtzig Prozent der Stimmen abgelehnt.“

„Wunderbar“, stieß Isabellas Vater erleichtert aus. „Das ist eine sehr freudige Nachricht.“

Oliver erwiderte nichts.

„Du musst das verstehen, Oliver. Viele von uns hätten ihre Arbeit verloren. Das Geschäft der Gesundheit und des langen Lebens ist nun mal sehr profitabel. Und wie man sieht sind die Menschen trotz aller Konsequenzen nicht bereit ihre Langlebigkeit aufzugeben. Es ist durchaus nachvollziehbar, findest du nicht? Wer möchte schon wegen ein paar mutierter Zellen aus dem Leben gerissen werden. Oder mit fünfzig an einem Herzinfarkt sterben, obwohl man dank unserer Fähigkeiten und Kenntnisse noch gut und gerne 200 Jahre weiterleben könnte?“

„Natürlich verstehe ich das. Die Menschen lernen selten aus ihren Fehlern.“

„Wenn du vor der Wahl ständest, Tod oder Leben, würdest du dich nicht für das Leben entscheiden?“

„Wenn das Leben schlimmer ist als der Tod, dann nicht.“

„Und ist es das?“

„Wenn wir nicht rechtzeitig zur Vernunft kommen, dann wird es das sehr bald wieder werden.“

„Ich gebe zu, die Anarchie und alles, was passiert ist, war furchtbar. Doch es hatte nichts mit dem medizinischen Fortschritt zu tun. Es war die dumme Entscheidung eines rebellischen Kindes, dem leider Gottes viele gelangweilte, unterdrückte Bürger gefolgt sind. Solange die Politiker diese revolutionären Ideen im Keim erstickt, wird so etwas auch nicht wieder vorkommen.“

Oliver seufzte nur leise und sagte nichts. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Es würde nichts nutzen. Ihm war klar gewesen, dass, sobald die Stadt wieder einigermaßen aufgeblüht war, die Menschen vergaßen und in ihr altes Muster zurückfallen würden. Noch war keine Künstliche Selektion von Nöten, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis das alte Problem wieder auftauchen würde. Hatten die Menschen gar nichts gelernt?

„Hör zu, Oliver, ich muss wieder zurück an meine Arbeit. Kommst du am Wochenende zum Abendessen vorbei? Wir würden uns sehr freuen.“

„Ja, sicher“, sagte er.

Isabellas Vater lächelte geschäftlich, dann verabschiedete er sich und verschwand wieder im Haus.

Oliver warf noch einen letzten Blick auf die verschnörkelte, blaue Bank, auf der Isabella oft gesessen und so verträumt in den Himmel geblickt hatte, dass sie einen gar nicht bemerkte. Hatte sie geahnt, dass ihr kein langes Leben gegönnt war? Doch selbst wenn sie gewusst hätte, welches Schicksal ihr bevorstehen würde, sie hätte es nicht abwenden können. Am Tag ihrer Auswahl ist ihre Zukunft und die jedes anderen in dieser Stadt besiegelt worden.

Er drehte sich um, schritt den schmalen Kiesweg hinunter und schloss die kleine Gartentür hinter sich. Als er die eichenumsäumte Straße hinunterlief, fühlte er sich in seine Jugend zurückversetzt. Doch die war endgültig vorbei. Es war nichts geblieben, von dieser Zeit. Der Einzige, der übriggeblieben war, war er selbst. Und mit sich selbst hatte er schon immer ein problematisches Verhältnis gehabt. Er war froh, dass ihm diese vertrauensvolle Aufgabe zugeteilt worden ist. Er konnte dieses Land nicht im Stich lassen. Es hinderte ihn daran, einfach aufzugeben.

Die Sonne warf echte Schatten auf das Kopfsteinpflaster, noch ein wenig schwach, doch es war ein gutes Zeichen. Es war Sonntagnachmittag, weshalb es erstaunlich ruhig war. Auch die Luft war klarer als an den übrigen Tagen. Die Nachbarn schlenderten entspannt über die Gehwege, einige grüßten ihn freundlich. Er versuchte stets zurückzulächeln, doch es wollte ihm nicht recht gelingen.

Er wünschte sich, dass er sie noch ein letztes Mal hätte lächeln sehen. So wie früher. Als sie noch ein unbeschwertes Leben hatten. Doch auch wenn es ihm schwer fiel, dies zu akzeptieren - Isa, seine beste Freundin Isa, war schon vor langer Zeit gestorben. Es war wohl so, wie sie es ihm vor einiger Zeit einmal erzählt hatte – sie war nur ein Geist, der noch etwas zu erledigen hatte.

Und das hatte sie. Natürlich war sie nicht umsonst gestorben. Sobald er dies dachte, wäre alles verloren.

Sie starb als Heldin. Sie hatte den Menschen noch einmal eine Chance gegeben. Ob sie diese nahmen, war ihre Entscheidung. Was ihm blieb, war alles dafür zu tun, dass sich die Geschichte nie wiederholen würde.