Emma
Es ging alles so schnell, dass ihr keine Zeit blieb zu reagieren. Als sich der Schuss aus kurzer Entfernung zu Jonas Kopf löste, wendete sie sich instinktiv ab. Der Tod war nie schön.
Als sie sich wieder der Szenerie zuwendete, lag Jonas ausgestreckter Körper bewegungslos am Boden. Unter seinem Kopf breitete sich eine größer werdende Blutlache aus. Seine Finger lagen auf der Tastatur des Handys, aus welchem sie immer noch eine weit entfernte Stimme vernahm. Erst das Scheppern der Waffe, die aus Isabellas Hand rutschte, holte sie aus ihrer zeitweiligen Trance zurück. Sie wollte zu ihr laufen, doch eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ sie innehalten. Den anderen Mann hatte sie völlig vergessen. Er stand hinter dem Schreibtisch, die Waffe auf sie gerichtet.
„Bleib stehen!“, rief er. Seine Stimme klang schrill. Er wirkte nervös, sein Blick huschte zwischen ihr und den am Boden liegenden hin und her.
„Ich will nur nachsehen ob sie noch am Leben ist“, sagte sie und hob beschwichtigend ihre Hände.
„Rühr dich nicht von der Stelle!“, schrie er und fuchtelte mit der Waffe herum, als wäre sie ein Messer und keine Pistole.
Dann hörte sie ein schwaches Röcheln aus Isabellas Richtung. Sie bewegte ihre Finger und hob leicht den Kopf an.
„Das ist doch irrsinnig“, sagte Emma und lief auf sie zu. Die Kugel zischte haarscharf an ihrer Nase vorbei und sie taumelte zurück.
„Ich hab gesagt du sollst stehenbleiben.“ Seine Stimme überschlug sich wie bei einem Jungen in der Pubertät.
„Sie ist noch am Leben, willst du sie vor deinen Augen sterben lassen?“, fragte sie und hielt ihren Blick auf den Lauf der Waffe gerichtet, der hin und her tanzte.
In seinem Zustand würde er noch aus Versehen abdrücken. Aber sie glaubte sowieso nicht mehr, dass irgendjemand in diesem Raum die nächsten Minuten überleben würde. Doch wenigstens wollte sie sich nicht in diesen letzten Minuten etwas von einem wie Espenlaub zitternden GSD Mitglied, welches noch grün hinter den Ohren war, vorschreiben lassen. Und ganz bestimmt ging sie nicht ohne einen Kampf.
Sie wollte gerade ihr Glück versuchen und über den Schreibtisch hechten, als sie irgendetwas über den Boden schlittern hörte. Ein Gegenstand stieß gegen ihren großen Zeh. Sie blickte nach unten und sah das blutverschmierte Handy. Dann sah sie zu Isabella, die ihr einmal zunickte, bevor sie in einen blutigen Hustenanfall verfiel.
Ohne zu zögern, griff sie nach dem Elfenbeingriff ihres Messers, wirbelte herum und ließ es in die Richtung des GSD Mitgliedes fliegen. Es traf ihn am Unterarm und er ließ mit einem Schmerzensschrei die Waffe fallen.
Emma bückte sich und hob das Handy auf.
„Hallo? Hallo! Wir brauchen ihren Befehl!“, hörte sie eine männliche Stimme aus der anderen Leitung rufen.
„Stoppen Sie es“, sagte sie und sah zu Isabella. Sie hatte aufgehört zu husten und bewegte sich nicht mehr.
„Stoppen? Aber …“ Die Stimme klang verunsichert.
„Ja, stoppen. Sofort. Das ist ein Befehl von … Jonas Seibert.“
„Wir werden das Gas abstellen. Sollen wir in Bereitschaft bleiben?“
Emma lief zu Isabella und tastete nach ihrem Puls. Sie fand keinen. Sie strich die kurzen, kastanienbraunen Haare aus ihrem Gesicht. Sie sah friedlich aus. Es war ein seltsamer Anblick in dem Blutbad, welches hier stattgefunden hat.
Dann sah sie zu Jonas. Er lag in einem See aus seinem eigenen Blut. Sie brauchte kein Arzt sein, um zu erkennen, dass er nicht mehr lebte.
Als sie ein Geräusch hinter sich vernahm, drehte sie sich um und konnte gerade noch die Klinge sehen, die auf sie zugerast kam. Sie warf sich zur Seite. Das Messer traf sie am Oberarm.
„Soll ich jetzt der schlechten Waffenausbildung der GSD oder deinem unterirdischen Zielvermögen danken?“, fragte sie und versuchte sich wieder aufzurichten, was sich bei dem glitschigen Untergrund als relativ schwierig erwies. Ihre Hand rutschte mehrmals auf dem Blut weg, ehe sie sich aufrappeln konnte.
Ihr Gegner hatte sie bereits erreicht und warf sich auf sie. Sie versuchte noch ihr Messer zu erreichen, doch es lag zu weit entfernt. Er drückte sie auf den Boden und presste seinen Unterarm gegen ihre Kehle. Sie trat mit ihrem Knie kräftig in seinen Schritt und beförderte ihn über ihren Kopf nach hinten. Er löste seinen Griff und sie warf ihn zur Seite. Was sie als nächstes tat, war wahrscheinlich der größte Fehler, den sie je begangen hatte. Doch ohne es fühlte sie sich ausgeliefert. Und so, anstatt sich weiter um ihn zu kümmern, robbte sie zu ihrem Messer und atmete erleichtert aus, als sie dessen kühlen Griff in ihrer Hand spürte.
Erst als sie sein Gewicht auf ihrem Rücken wahrnahm, erkannte sie ihren Fehler. Er umfasste ihren Hals von hinten und drückte zu. Sie versuchte sich zu wehren, doch sein Gewicht drückte sie zu Boden. Blind stach sie mit dem Messer nach hinten und er lockerte kurz seinen Griff, ehe er wieder mit voller Kraft zudrückte. Als sie weiter auf ihn einzustechen versuchte, landete sein Fuß schmerzhaft auf ihrem Handgelenk und presste ihre Hand mit seinem schweren Schuh auf den Boden. Ihre Finger ließen das Messer los. Sie rang verzweifelt nach Luft und strampelte mit ihren Beinen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie versuchte, die nahende Ohnmacht wegzublinzeln. Mit letzter Kraft tastete sie mit ihrer anderen Hand nach dem einzigen Gegenstand, den sie erreichen konnte, und schleuderte das Handy wahllos nach hinten.
Er schrie auf, doch sein Griff lockerte sich nicht. Ihre Hand tastete abermals über den Boden bis zu Isabellas Körper. Sie umfasste ihren türkisfarbenen Gürtel und versuchte die Schnalle zu öffnen, doch ihre Finger gehorchten ihr nicht mehr und ihr Blick verschwamm. Hätte sie es gekonnt, sie hätte vor Wut und Verzweiflung aufgeschrien. So hatte ihr Leben nicht enden sollen. Sie verlor nie einen Kampf. Und schon gar nicht gegen einen Typen von der GSD. Ihre Finger rutschten von dem Gürtel. Schwärze hüllte sie ein.
Bevor sie komplett in der Dunkelheit versank, vernahm sie plötzlich wie von weither Schritte und Stimmen. War sie schon in der Hölle?
Dann verschwanden mit einem Mal das Gewicht auf ihrem Rücken und der Fuß von ihrem Handgelenk, schließlich ließen die Hände von ihrem Hals ab. Sie schnappte nach Luft. Wieder und wieder. Es schien einfach nicht auszureichen.
Dann fasste sie jemand am Arm und zog sie hoch, ein weiterer Arm schlang sich um ihre Taille und stützte sie.
„Emma? Bist du ok?“
Die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie klammerte sich an seinen Arm und schaffte es aufzusehen, immer noch nach Luft ringend. Ben sah sie besorgt an und strich ihr die Haare aus dem Gesicht, die ihr in Augen und Mund klebten.
„Bist du ok?“, fragte er noch einmal und seine silbergrauen Augen wanderten sorgenvoll über ihr Gesicht, auf der Suche nach einer Antwort.
Sie nickte stumm. Erleichtert lächelte er schwach und streichelte ihr sanft über die Wange. Ehe ihre Knie unter ihr nachgaben, ließ sie sich in seine Arme fallen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Erst jetzt merkte sie, wie sehr sie am ganzen Körper zitterte. Ben hielt sie fest umschlungen, seine Hand strich beruhigend über ihren Rücken. Als sie endlich das Gefühl hatte wieder halbwegs Luft in ihre Lungen zu bekommen, vergrub sie ihr Gesicht in seiner Schulter und ließ den Tränen, die sie plötzlich überfielen, freien Lauf.