Emma

 

 

"Was machst du da?" 

Sie wirbelte herum, ihr Messer angriffsbereit ausgestreckt. Blut tropfte von ihrer Hand auf den staubigen und von der Hitze aufgeplatzten Asphalt vor dem leer stehenden Fabrikgebäude hinterm Ostkreuz. Sie hatte sich verletzt, als sie eine der verdreckten, undurchsichtigen Fensterscheiben mit dem Elfenbeingriff ihres Messers einschlug. 

"Ben", stieß sie überrascht hervor. "Was machst du hier?" 

"Du hast mich angerufen, schon vergessen?" 

Er näherte sich ihr vorsichtig, den Blick nicht von der scharfen Klinge abwendend. 

Verwirrt beobachtete sie ihn. Stimmt. Sie hatte ihn angerufen. Er hatte ihr versprochen, bei der Suche nach Jens zu helfen. Doch sie hatte nicht angenommen, dass er tatsächlich kommen würde. 

Unschlüssig stand sie da und wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. In ihrem ganzen Leben hatte ihr noch nie jemand geholfen. Die Straße war kein Ort der Nächstenliebe.  

"Ich muss hier weitermachen", sagte sie schließlich und wendete sich wieder der zerbrochenen Fensterscheibe zu. 

Sie brach die spitzen Stücke, die wie tödliche Wolfszähne aus dem Rahmen stachen, mit ihrer blutigen Handkante heraus. Dann stützte sie sich an dem hölzernen Fensterbrett, an welchem die weißgräuliche Farbe hässlich abgeblättert war, ab und sprang mit einem Satz in die stockdunkle Halle. Sie fluchte, als sie sich einige Splitter in die Handfläche trieb. Unbeeindruckt trat sie über die Scherben, welche sie an ihren abgehärteten und durch wochenlanges Barfußlaufen gefühllos gewordenen Fußsohlen kaum wahrnahm.  

Halb blind tastete sie sich durch die leere Halle, das Knirschen der Scherben hallte gespenstisch an den Wänden wider. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Doch wie erwartet war das Gebäude völlig leer. Ein paar leere Plastikbecher lagen auf dem Boden verstreut, Papier, ein umgeworfener Stuhl mit nur drei Beinen. Sie stieß mit ihrem großen Zeh gegen einen Kugelschreiber, der vor ihr davonrollte. Aus Gewohnheit bückte sie sich flink, hob ihn auf und steckte ihn sich in die Tasche ihrer Shorts. Alles war etwas wert.  

Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich und sie war sofort wieder in Angriffsstellung. Aber es war nur Ben, der ihr durch das Fenster gefolgt war. Mit seinen Sportschuhen zertrat er lautstark das Glas und blickte sich argwöhnisch um. 

"Was suchst du hier?", fragte er.

"Meinen Bruder", gab sie bestimmt zurück und fuhr fort den Raum zu durchsuchen, auch wenn es wohl keinen Sinn hatte.

"Und warum sollte er hier sein?"

"Weil dies einer der Orte ist, an dem die GSD sich trifft."

Er seufzte hörbar hinter ihr. "Ich habe doch gesagt, du sollst mit der Stürmung des Hauptquartiers warten. Wir sollten nicht im Alleingang gegen die GSD vorgehen. Es ist verdammt gefährlich."

"Ist mir egal. Und du kannst gerne wieder gehen. Ich schaff das hier schon alleine."

Wieso hatte sie ihn überhaupt angerufen. Sie ist eben nur abermals bestätigt worden, dass man sich auf niemanden verlassen konnte. Goldmanns Männer hatten es nicht geschafft ihren Bruder zu beschützen. Und nur aus diesem Grund, damit Jens nichts passierte, hatte sie der Zusammenarbeit mit Goldmann zugestimmt. Sie hätte mit ihm flüchten sollen, sobald sie wieder zu Hause gewesen waren. Stattdessen hatten sie sich über seine Hilfsgüter hergemacht. Und dann war sie zu Ben gegangen. Sie hatte sich bei ihm bedanken wollen, für seine Hilfe. Sie hatte Jens alleine gelassen und deswegen war er nun in den Fängen der GSD.

Bei dieser Erkenntnis fuhr sie wütend herum. "Nur wegen dir ist Jens doch erst entführt worden", blaffte sie ihn an.

Es war nicht fair. Doch sie war verzweifelt und müde und furchtbar sauer. Und sonst war gerade niemand hier, an dem sie ihren Frust hätte auslassen können.

"Wieso ist es meine Schuld?", fragte er, weniger verärgert als neugierig.

"Weil du uns geholfen hast. Am besten lässt du uns einfach in Ruhe und kümmerst dich um deinen eigenen Kram." Sie war erstaunt, dass er immer noch so ruhig war. Selber hätte sie sich schon eine Ohrfeige verpasst. Immerhin konnte er auch nichts für den ganzen Mist.

"Wenn du meine Hilfe nicht willst, möchte ich mich bestimmt nicht aufdrängen. Es ist nur so, ich hatte in Erinnerung, dass du mich angerufen hast."

"Ich war verzweifelt", rief sie aus, während sie weiter den Boden nach Hinweisen absuchte.

"Das sehe ich."

Sie ließ resigniert ihre Hände sinken und sah ihn an. "Hör zu, ich bin nicht gut in so was."

"Was? Zwischenmenschlichem Kontakt?" Er zog eine Augenbraue hoch und sah sie belustigt an. "Das habe ich schon gemerkt."

Sie focht kurz einen Kampf mit sich selber aus, dann sagte sie schließlich: "Ich hätte dich nicht in dem Keller zurücklassen sollen."

"In welchem Keller?"

"Bei Goldmann."

"Ach so. Wie kommst du denn jetzt darauf?"

"Es war nicht richtig."

"Du bist mir nichts schuldig."

"Trotzdem."

Er nickte knapp. "Entschuldigung angenommen."

Ihr entschwand ein flüchtiges Lächeln. Sie fühlte sich erleichtert. Jemandem etwas schuldig zu sein war für sie ein Gräuel. Außerdem tat es ihr tatsächlich leid. Und sie war ihm dankbar, dass er nicht nachtragend war. Denn so sehr sie sich auch dagegen sträubte, sie brauchte Hilfe. Sie musste über ihren Schatten springen, nur dieses eine Mal. Jens würde das Gleiche für sie tun.

"Willst du mir jetzt erklären, was du in diesem Loch hier suchst?", fragte er und stieß gegen eine große Glasscherbe, die klirrend über den Boden schlitterte.

"Jens hat mir erzählt, dass er hier sein erstes Treffen mit der GSD hatte. Vielleicht gibt es hier irgendeinen Hinweis zu seinem Aufenthaltsort oder weiteren Quartieren der GSD. So eine riesige Organisation kann doch nicht ohne jegliche Spuren zu hinterlassen völlig im Untergrund agieren."

Sie lief die Halle ab und durchsuchte auch die kleinen Nebenräume.

"Sie sind verdammt gut darin, ihre Spuren zu verwischen. Ich bezweifle, dass du hier fündig wirst", warf Ben ein, half ihr jedoch bei der Suche.

In einer Ecke fand sie eine zerknüllte Broschüre. Eine von denen, die Jens ihr gezeigt hatte. Die Vorderseite zeigte das Symbol der GSD, die griechische Göttin Justitia, in der einen Hand ein Schwert, in der anderen eine Waage mit Geldmünzen. Gerechte Selektion für Deutschland. Was auch immer diese Idioten für gerecht hielten.

"Wir müssen ein Mitglied ausfindig machen. So kommen wir an keine brauchbaren Informationen. Wir brauchen Insiderwissen. Am besten foltern wir es aus einem der Kids heraus. Du sagtest, du kennst ein paar von denen?“, fragte sie und sah ihn an.

"Bevor du jetzt sinnlose Informationen aus einem armen, unschuldigen Kind herausprügelst …"

"Sie sind nicht unschuldig", berichtigte sie ihn.

"… sollten wir lieber strategisch an die Sache herangehen“, fuhr er ungehindert fort.

Das war nicht ihr Spezialgebiet. Sie handelte, bevor sie nachdachte. Das hatte bisher gut funktioniert. Bisher. Bis zu dem Tag, an dem es nicht mehr funktioniert hatte.

"Was ist dein Plan?", fragte sie schließlich widerstrebend und blieb stehen.

Er sah sie an wie ein Jäger das Reh und näherte sich ihr vorsichtig. "Wir gehen jetzt zu Goldmann …", begann er.

"Du hast sie wohl nicht mehr alle", unterbrach sie ihn grob. "Keine zehn Pferde bringen mich dazu mit diesem Mann noch weiter zusammenzuarbeiten. Jens ist verschwunden. Er hat nichts mehr gegen mich in der Hand."

"Hör mir jetzt nur einmal zu. Danach kannst du mich wieder anschreien."

Sie machte den Mund auf, schloss ihn aber wieder. Sie konnte ihm ja wenigstens zuhören.

"Alleine haben wir keine Chance deinen Bruder wiederzubekommen. Die GSD ist ein weitaus üblerer Gegner als Goldmann. Und was passiert, wenn man gegen den angeht, hast du ja am eigenen Leib erfahren dürfen. Du willst ein Mitglied von ihnen ausfindig machen und ausfragen? Das wird nicht funktionieren. Niemand sagt gegen die GSD aus. Verrätern wird sich entledigt, ohne Umschweife. Keiner hat je lange genug überlebt um etwas auszuplaudern."

Emma wurde blass.

"Ich spreche nicht von Jens", fügte er schnell hinzu. "Sie hätten sich nicht die Mühe gemacht ihn zu entführen, wenn er ihnen nicht lebend wichtiger wäre als tot. Er lebt noch, da bin ich mir sicher."

Er kam noch einen weiteren Schritt auf sie zu und war ihr nun so nahe, dass sie nur ihre Hand hätte ausstrecken müssen um ihn zu berühren. Wie üblich schrien seine gnadenlos verwüsteten Haare fast nach ihren Fingern. Bevor noch etwas passierte, was sie bereuen würde, trat sie einen Schritt zurück.

"Und wir haben nicht die Kapazitäten um ihn zu befreien, selbst wenn wir wüssten wo er sich aufhält. Doch Goldmann hat diese. Für ihn wäre es bestimmt kein Problem deinen Bruder zu finden. Was hast du zu verlieren, wenn du mit ihm kooperierst?"

"Meinen Stolz. Meine Selbstachtung. Meine Würde. Soll ich weitermachen?"

"Du weißt, dass ich recht habe."

Verdammt. Ja, das wusste sie.

"Weiter", sagte sie zähneknirschend.

"Was, weiter?"

"Was dann? Wir bitten Goldmann uns zu helfen und dann? Glaubst du allen Ernstes, er würde das freiwillig tun?"

"Er braucht uns genauso wie wir ihn."

"Wieso das? Er könnte jeden Erstbesten von der Straße nehmen, der ihm bei seinem Wahlkampf hilft. Die Menschen tun alles für Geld. Die Leute würden Schlange stehen für diesen Job."

"Nein, Emma." Es war etwas Eigenartiges daran wie er ihren Namen aussprach. Als hätte er irgendeine Bedeutung. "Er will dich und er will mich und er will Jens. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. Goldmann mag ein stinkreicher, verlogener Wichser sein, aber er ist ganz sicherlich nicht dumm. Wenn man unsere Viertel zusammennimmt, sind wir der bedeutendste Wahlkreis in jeder Hinsicht. Aus Sicht der Reichen sind wir die gefährlichste, aber auch die mächtigste Gegend. In unsere Straßen traut sich niemand, der nicht von hier kommt. Wir haben unsere eigenen Regeln, unsere eigenen Gesetze und unseren eigenen Handel. Wir haben keine Angst vor dem Tod und keine Angst vor dem Töten. Aber aus genau diesem Grund sind wir so verdammt wichtig. Die Straße würde auf uns hören. Sie würde uns folgen. In ganz Berlin. Aus Angst oder Achtung. Das ist egal." Er machte eine kurze Pause. "Ich kenne dich nicht. Doch ich kenne deinen Bruder, und er ist sehr beliebt. Und bei allem was ich über dich gehört habe, wirst du von deiner Nachbarschaft auch nicht unbedingt gehasst."

"Das klang jetzt aber sehr ungläubig."

"Du musst zugeben, dass du es einem aber auch nicht leicht machst."

"Wollte ich auch nie."

"Und doch hast du Freunde auf der Straße."

"Ich habe keine Freunde."

Er seufzte laut. "Man kennt dich."

"Ich schätze schon", gab sie zu. Sie hatte sich nie um Freundschaften geschert. Feinde waren ihr grundsätzlich lieber als Freunde. Sie waren berechenbarer und vertrauenswürdiger. Bei ihnen wusste man, woran man war.

"Mich kennt man auch. Meine Kids würden mir ohne zu zögern alles abnehmen, was ich ihnen sage. Um es kurz zu machen, nicht in einhundert Jahren würde Goldmann drei angesehene Persönlichkeiten aus den miesesten aber bedeutendsten Vierteln der Stadt finden, die ihm bereitwillig helfen seinen Wahlkampf zu führen. Er wird von unseren Leuten verachtet. Und ganz bestimmt findet er niemanden innerhalb von wenigen Stunden, denn der Wahlkampf beginnt morgen früh. Wir haben ihn in der Hand, Emma. Und das werden wir ausnutzen."

"Und was springt für dich dabei heraus?", fragte sie argwöhnisch. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass dieser Mann ihr nur aus reiner Nächstenliebe helfen wollte. Ihr Misstrauen gegen die Menschheit saß zu tief. Was hatte er zu verbergen?

"Da die Tatsache, dass ich Jens helfen möchte weil er mein Freund ist, dir mit Sicherheit nicht genügen wird, wie wäre es denn damit - eine Zusammenarbeit mit Goldmann bedeutet die Rettung der Straßen. Wasser, Strom, Nahrung. Er wird es uns geben. Niemand wird mehr verhungern oder verdursten müssen. Es wird weniger Gewalt geben, weniger sinnlose Morde."

"Wir brauchen das nicht. Wir brauchen seine Almosen nicht."

"Doch, das tun wir. Das tut die Straße und das tust du. Verhungern ist kein ehrenhafter Tod, Emma. Es ist nichts Heldenhaftes an einem Kind, welches für ein Brot einen Menschen absticht. Wir bekommen keine Almosen, sondern das, was uns zusteht. Was man uns ungerechterweise genommen hat."

"Wir würden für immer in seiner Schuld stehen."

"Darüber, und was das für uns bedeutet, können wir uns immer noch Gedanken machen wenn es so weit ist und die Menschen der Straßen wieder ein halbwegs humanes Leben führen. Willst du, dass dein Bruder in so einer Welt sein Leben führen muss? Was ist das denn für eine Zukunft? Stell dir nur einmal vor, die GSD würde die Wahlen gewinnen. So schwer dir diese Entscheidung auch fallen mag, die Reichen sind hier die bessere Alternative. Vertrau mir."

Sie hatte die Live-Hinrichtung von Goldmanns Sohn gesehen. Und sie erinnerte sich an die beiden Jungen, die Oliver, den Polizeibeamten, auf dem Postdamer Platz mit einem Schwert attackiert haben. Den Hass und die Blutlust in ihren Augen. In Augen, die eigentlich viel zu jung dafür waren.

Sie seufzte.

"Ich rufe Goldmann aber ganz bestimmt nicht an", sagte sie dann und steckte ihr Messer weg.

Ben zog einen Mundwinkel hoch und zog sein Handy aus der Gesäßtasche einer grauen Jeans heraus, die auch schon einmal bessere Tage gesehen hatte. Sie betrachtete seine Schnittwunde am Hals, von der nur noch eine schwache Narbe zu sehen war. Die Medizin der Reichen erstaunte sie immer wieder. Obwohl mit ihr im Grunde alles erst angefangen hat. Würden die Menschen nicht so exorbitant alt werden, wäre das Problem der Überbevölkerung gar nicht erst aufgetaucht. Aber da sie sich ja nun alle selber ausrotteten, war dieses Problem wohl Geschichte. Sie konnten froh sein, wenn am Ende überhaupt jemand übrig blieb.

"Lass uns gehen, ich will nicht mit Mitgliedern der GSD zusammenstoßen", sagte Ben, während er darauf wartete, dass Goldmann abhob.

Sie folgte ihm nach einem letzten Blick in die verlassene Halle. Er machte mit Goldmann einen Termin am morgigen Vormittag aus, beendete das Gespräch und sprang aus dem Fenster nach draußen. Als er ihr die Hand ausstreckte um ihr herauszuhelfen, ignorierte sie ihn und landete prompt auf einer besonders großen Scherbe, die sich schmerzhaft in ihre Ferse bohrte. Sie biss die Zähne zusammen und ließ sich nichts anmerken.

Am Eingang der Unterführung trennten sich ihre Wege.

"Du solltest das verarzten", bemerkte er und zeigte auf ihre Füße, welche eine Blutspur vom Fabrikgebäude bis zur U-Bahn-Station hinterlassen hatten.

"Ich hatte schon weitaus schlimmere Verletzungen."

"Ich weiß."

Musste er immer alles besser wissen?

"Also dann bis morgen, schätze ich", sagte sie, zwang sich schließlich ein Lächeln ab und ließ ihn stehen.

Sie konnte nicht freundlich sein. Nicht heute Nacht. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um ihren Bruder. Wo war er? War er noch am Leben?

Als sie an der Station Lichtenberg aus dem versifften Waggon stieg, erhob sich einer der Penner aus dem Berg von Schlafsäcken an der gegenüberliegenden Wand und schlurfte auf sie zu.

"Emma", rief er mit heiserer Stimme, gefolgt von einem Hustenanfall. In seinem Vollbart hingen Brotkrumen, die durch die Erschütterung auf den Boden rieselten. "Was ist denn bei euch da oben los?"

"Wieso, was meinst du?", fragte sie. Dann, hellhörig: "Ist etwas passiert? Ist die GSD gekommen? Hast du Jens gesehen?"

"Nee, nicht die GSD." Er hustete ihr ins Gesicht. Sie machte sich nicht einmal die Mühe sich abzuwenden.

"Wer dann?"

"Die Reichen. Irgendwelche reichen Typen sind bei euch eingefallen und machen sich auf der Straße breit. Aber keine Sorge, Otto und die anderen haben schon alle zusammengepfiffen und zeigen denen jetzt erst mal wer hier das Sagen hat. Du kommst genau richtig."

"Du meinst Goldmanns Männer?"

"Wer?"

Sie hatte jede Menge Aufklärungsarbeit zu leisten. Nur wegen Goldmann würde sie noch ihren guten Ruf auf der Straße verlieren. Und wenn der weg war, konnte man sich auch gleich ein Grab schaufeln.

So schnell ihre verletzten Füße sie trugen, rannte sie die stillgelegten Rolltreppen hinauf, drei Stufen auf einmal nehmend, und stürmte die Straße hinunter. Trotz der Dunkelheit, die durch die smogverhangene, trübe Luft noch undurchdringlicher war, sprang sie geschickt über Schlaglöcher, deren Positionen sich nach fast 30 Jahren in ihr Unterbewusstsein eingebrannt hatten. Über allem hing der vertraute Geruch nach Abfall, Verwesung und Exkrementen. Die hochsommerliche Hitze tat ihr Übriges, um das Hässlichste aus den Straßen herauszuholen.

Jetzt, wo Goldmann das Wasser in ihrem Viertel wieder angestellt hatte, könnten sie das erste Mal in einer halben Ewigkeit die Straßen säubern. Und wenn sie von ihm Essensrationen und finanzielle Hilfe für die gesamte Nachbarschaft einfordern würde, hätten sie sogar die Zeit und Muße dazu. Denn man sparte sich die Zeit, die man ansonsten bei Raubzügen verschwendet hätte, beim stundenlangen Warten auf ein passendes Opfer. Oder dem gegenseitigen Töten, weil man sich um ein Päckchen Kaffee stritt.

Doch wollte sie das? Immerhin kannte sie das Leben nicht anders. Gut, vor dem Anschlag auf das Spandauer Gefängnis war es anders gewesen. Doch daran konnte sie sich kaum noch erinnern. Die letzten 10 Jahre hatten alles andere überschattet. Und auch damals war das Leben nicht unbedingt leicht gewesen. Und sie mochte das raue Leben auf der Straße, es hatte seine eigenen Strukturen, seine eigenen Regeln. Würde sie sich in einer sauberen und sicheren, von fremden Menschen, welche sich Politiker nannten, geleiteten Welt wohl fühlen? Würde Jens es? Wahrscheinlich, er regte sich sowieso ständig über ihre Unordnung und ihr nicht vorhandenes Organisationstalent auf.

Schon von weitem sah sie eine Traube von Menschen an ihrer Straßenecke stehen. Dort, wo eines der Luxusautos von Goldmanns Wachmännern gestanden hat. Jetzt erkannte sie dort nur noch ein verkohltes und verbogenes Gerüst aus Metall und Leder. Die Wachmänner konnten von Glück sagen, dass sie bereits tot gewesen waren, bevor die Straßenkids auf sie aufmerksam geworden sind. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass die Anwesenheit von Goldmanns Männern bei ihnen Probleme bereiten würden.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge und wich dabei den zahlreichen Waffen aus, von Macheten über einfache Messer bis hin zu rasiermesserscharfen Dosendeckeln. Als sie an der Spitze der Ansammlung ankam, erblickte sie genau die Leute, die sie erwartet hatte hier anzutreffen.

"Eik, was ist hier los?", fragte sie den Anführer der gefürchtetsten Jugendbande ihres Viertels.

Er war über und über mit Tattoos versehen, seine zahlreichen Piercings klackerten bei jeder Gesichtsbewegung. Die Goldringe an seinen Händen zeugten von erfolgreichen Raubüberfällen, sie waren zumeist Eheringe von reichen Opfern und wurden auf der Straße wie Trophäen getragen. Auch seine neuen, teuren Designer Sneaker waren wohl erst vor kurzem erbeutet worden. Für ihn und seine Freunde war Kriminalität keine Notwendigkeit um zu überleben. Es war ihr Leben. Ihre Berufung. Eik schlitzte jemandem ohne Skrupel für eine neue Lederjacke die Kehle auf. Es war das, was sie taten, weil sie es schon immer getan haben.

Er drehte sich zu ihr um, in seinem Gesicht spiegelte sich Entschlossenheit, Mordlust und eine Spur von Erleichterung.

"Emma!", rief er, eine auf Hochglanz polierte Pistole locker in seiner Hand schwenkend. "Da bist du ja. Wir dachten schon die Reichen hätten dich erwischt. Was fährst du auch immer mit denen rum. Das ist kein guter Umgang, Emma."

"Nein, bin ich nicht. Und ausgerechnet du solltest nicht unbedingt über guten oder schlechten Umgang reden."

Er grinste breit.

"Was macht ihr denn alle hier?", fragte sie und warf einen Blick in die durchmischte Runde. Sie kannte jeden einzelnen von ihnen. Es waren die üblichen Verdächtigen und alle, die von dem Tumult um drei Uhr morgens wach geworden sind.

"Reiche", sagte Nick angewidert, zog tief seinen Rotz hoch und spuckte aus. Dann rammte er seine lange Machete in den Boden und stütze sich darauf ab.

"Sie standen an beiden Enden eures Blocks. Wollten sie alle machen, aber die waren schon tot", erklärte Seb. Auf seiner Glatze war ein blutroter Drache tätowiert. In seiner linken Hand spielte er mit einem scharfen Butterflymesser.

"Dann haben wir bei euch das zerbrochene Fenster gesehen. Weißt du, dass eure Wohnung aufgebrochen und total verwüstet ist?", plapperte Ricky aufgeregt. Er war der Jüngste von Eiks Bande. Gerade mal 11 Jahre alt war er. Aber unheimlich geschickt und flink wie ein Wiesel.

"Ja, sorry, dass wir drin waren, aber die Türen waren ja weit geöffnet", sagte Eik und sah sie entschuldigend an. Man betrat nicht andere Leute Wohnung. Nicht bei ihnen.

"Und wir haben uns Sorgen gemacht", fügte Nick hinzu und bohrte mit dem spitzen Ende seiner Machete ein Lock in den aufgeweichten Asphalt.

"Außerdem meinte Gisela, dass ihr Probleme hättet", warf Seb ein und warf der kleinen, stämmigen Pizzariabesitzerin mit den kurzen, bordeauxfarbenen Haaren einen flüchtigen Blick zu.

"Ich habe ihnen nichts erzählt, Emma!", versicherte Gisela.

Emma nickte ihr dankbar zu. Auch wenn es im Grunde egal war. Sie musste alles erzählen. Ihr blieb gar keine andere Wahl.

"Und dann lagen vor eurer Tür auch noch zwei von den reichen Wachleuten!", rief Ricky wieder dazwischen.

"In was für eine Scheiße hast du dich denn da reingeritten, Emma?", fragte Eik.

"Haste 'ne Berühmtheit überfallen und wirst jetzt von der Familie gejagt, oder was?", kam es von Seb.

Ganz warm, dachte Emma, ganz warm.

"Voll krass! Da war nirgendwo Blut, keine Schussverletzung, nichts! Als ob die einfach entschlossen hätten zu sterben in ihren teuren Autos", bemerkte Nick und stieß gegen eine verkohlte Felge.

"Die GSD", sagte Emma schließlich.

"Was? Wie, die GSD?", fragte Eik und wurde hellhörig.

Die GSD war ebenso unbeliebt wie die Reichen. Es war richtig, dass sie eine Hochburg in ihrem Bezirk hatten, doch nicht in ihren Straßen. Nicht in der Höllenküche, wie ihr Viertel von den Reichen genannt wurde. Hier waren sie nicht willkommen. Und das wussten sie. Daher fand bei ihnen auch nie eine Mitgliederakquise statt. Sie wussten, dass sie sich hier an den Straßenkids die Zähne ausbeißen würden. Man ließ sich hier nicht herumkommandieren. Niemand sagte einem, was man tun oder lassen soll. Kids wie Eik und die anderen töteten Reiche, weil sie es für richtig hielten. Nicht, weil es jemand mit einer halbseidenen Ideologie von ihnen verlangte.

"Sie haben spezielle Waffen. Gift, Chemie, keine Ahnung wie das Zeugs genau heißt", erklärte sie den anderen.

"Du meinst die GSD hat die kalt gemacht?", fragte Eik und blickte auf die verbrannte Karosserie.

"Ich weiß es", sagte sie und auf einmal starrten sie alle an.

Das war er wohl. Der Moment der Wahrheit. Wie würden ihre Nachbarn reagieren? Jens hatte ihr versichert, dass die Leute von der Straße auf sie hören würden. Aber was machte ihn da so sicher? Es ist ja nicht so, als ob sie irgendwelche Freunde hätte. Sie war einfach nur Emma, die Taxifahrerin. Man hielt mit ihr dann und wann ein Schwätzchen und sie hielt die anderen mit dem neuesten Tratsch und Klatsch aus der Stadt, den sie von ihren Fahrten aufgegriffen hatte, auf dem Laufenden. Man tauschte Besitz und diskutierte über die besten Orte um einen Raub zu begehen. Doch reichte so etwas aus, um sie von etwas zu überzeugen, von dem sie selber nicht völlig überzeugt war?

"Emma, was ist hier los? Wieso sind die Reichen hinter dir her? Und wo ist eigentlich Jens?", fragte Eik ungeduldig.

Er und Jens waren zwar nicht die besten Freunde, aber sie respektierten einander. Sie war froh, dass er sich nie auf eine der kriminellen Banden eingelassen hatte. Auch wenn es jetzt tausendmal schlimmer gekommen war.

"Also gut", seufzte und setzte sich auf die Überreste der immer noch heißen Kühlerhaube. Sie wartete, bis sich alle um sie gruppiert hatten und sie gespannt anblickten. Sie fühlte sich wie die neue Anführerin einer riesigen, bis an die Zähne bewaffneten Straßengang, welche keine Altersbeschränkung vorsah.

Langsam, und für die Ältesten wie die Jüngsten verständlich, begann sie ihnen alles zu erzählen. Angefangen bei Jens Eintritt in die GSD, welcher mit schockierten Rufen aufgenommen wurde, über seinen ersten großen Coup, bei welchem Goldmanns Sohn live im Fernsehen hingerichtet worden war, den er aber vermasselt hatte und sich somit nicht nur Goldmanns sondern auch den Hass der GSD eingehandelt hatte, bis zu der gezwungenen Kooperation mit Goldmann und nun Jens Entführung.

Als sie fertig war, verschränkte sie die Arme und blickte auffordernd in die Menge. "Lasst es nur raus. Wir haben Scheiße gebaut und ich habe euch an Goldmann verkauft. Ehrlich, lasst alles raus, ich kann es verkraften."

"Versteh ich das richtig, die GSD hat jetzt Jens?", fragte Otto langsam.

Er war U-Bahn-Fahrer auf der Linie 10. Es war die übelste Linie. Er hatte es mit so vielen Leichen auf den Gleisen zu tun, dass er schon an den Gedanken gekommen war, auf Bestatter umzusatteln. Aber da Leichen, wenn es keine reichen Angehörigen gab, im besten Falle verbrannt oder in die Spree geworfen wurden, war das kein allzu lukrativer Job. Otto war 86 Jahre alt. Für jemanden von der Straße war das alt. Hier wurde man nicht 300, wie in den edlen Bezirken mit ihrer vornehmen medizinischen Versorgung.

"Ja", bestätigte sie.

"Und du bist dir sicher, dass er noch lebt?", fragte Gisela skeptisch.

"Ja. Sie hätten sich nicht die Mühe gemacht ihn zu entführen, wenn er nicht wichtig für sie wäre."

"Und dieser Goldmann soll dir jetzt helfen ihn wiederzubekommen?", fragte Hannah, eine hübsche junge Frau, die als Prostituierte vor Emmas Wolkenkratzer arbeitete. Zögerlich drängte sie sich nach vorne.

"Ja, das ist der Plan. Er versorgt unser Viertel mit Wasser, Strom, Essensrationen und finanzieller Unterstützung. Und im Gegenzug sollen wir ihm bei seiner Wahl helfen."

Die Menge blieb still. Erschreckend still.

"Hört zu, ihr müsst das nicht machen. Ich sage Goldmann einfach, dass ich euch nicht überzeugen konnte. Ich werde Jens schon alleine finden." Sie ließ sich von der Motorhaube gleiten und wollte abhauen, doch Gisela stellte sich ihr in den Weg.

"Sag Goldmann, dass du schon einmal eine Stimme hast. Auf mich kannst du zählen“, sagte sie.

Emma blieb überrascht stehen. "Ist das dein Ernst?", fragte sie zweifelnd.

"Aber sicher ist es das! Glauben diese Typen denn, dass sie einfach so bei uns reinschneien und einen von unseren besten Jungs nehmen können? Das lassen wir uns nicht bieten. Richtig?" Sie stemmte die Arme in ihre Seiten und blickte herausfordernd in die Menge.

Zustimmendes Gemurmel. Otto trat nach vorne, gefolgt von seinen alten Freunden Heinz und Ingo. "Ganz richtig. Niemand legt sich mit uns an. Wir zeigen denen was passiert, wenn man in unser Revier kommt und unsere Leute bedroht." Er schlug sich mit der Faust in die flache Hand und aus seinen müden, milchigen Augen sprühten wütende Funken.

"Recht so! Kommen her, greifen sich unsere Kids und geben denen 'ne Gehirnwäsche. Aber nicht mit uns!", rief Heinz und schwang sein Messer.

"Wir stehen hinter dir, Emma. Kannst dich darauf verlassen. Wir sorgen dafür, dass Jens aus den dreckigen Fingern der GSD befreit wird." Otto reckte seinen Kopf in die Höhe und plusterte seine Brust auf. Beinahe hätte Emma gelacht, so komisch sah der kleine, alte Mann aus, wie er stolz in Kampfeshaltung dastand.

"Aber ihr müsstet für Goldmann und die Reichen stimmen. Geht das nicht gegen all unsere Überzeugungen?", fragte sie. Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet. Gleichgültigkeit, Ausgrenzung, Hass. Das hatte sie erwartet.

"Wer von uns ist denn jemals wählen gegangen? Ich bin 70 Jahre alt und weiß nicht mal wie unser Präsident heißt. Gibt es überhaupt noch einen?" Heinz warf seinem Freund einen fragenden Blick zu.

"Es ist uns doch völlig egal, wer da oben sitzt und in den Sessel furzt. Was hat das mit uns zu tun. Wir haben unsere eigenen Gesetze, hier gibt es keine Politik. Ob nun dieser Goldmann Präsident wird oder ein anderer Schmarotzer, wen interessiert's?", pflichtete Ingo ihm bei.

"Für uns wird sich eh nichts ändern. Niemand herrscht über uns. Niemand kontrolliert die Straßen außer uns selber. Goldmann oder nicht", fügte auch Gisela bestimmt hinzu.

Emma sah in die Gesichter der Menschen, die sie schon ihr Leben lang kannte, aber nie wirklich gekannt hat. Warum sollte man sich auch die Mühe machen jemanden näher kennenzulernen, wenn er am nächsten Tag schon ermordet am Bordstein liegen könnte? Seit die Bevölkerungszahlen durch die anarchischen Zustände drastisch gesunken waren, traf man zwar auf weniger Menschen, doch die Anonymität wurde nach wie vor hoch wertgeschätzt. Auch wenn man die Gesichter kannte, Namen, Zugehörigkeiten, so wusste man doch nichts über den Menschen hinter der Schale.

"Ihr wollt also tatsächlich Goldmanns Almosen annehmen?", fragte Emma, immer noch ein wenig aus der Fassung. War sie jetzt auf einmal zur Anführerin ihres Viertels aufgestiegen? Warum folgten ihr all diese Menschen? Auf einmal fühlte sie sich verantwortlich für ihre Nachbarn. Sie wollte ihnen helfen. Sie wollte, dass es ihnen besser ging. Ihnen allen stand ein besseres Leben zu. Eine bessere Zukunft.

"Es sind keine Almosen, Emma. Es ist das, was uns zusteht. Die Reichen haben uns den Hahn abgedreht, da können sie ihn auch wieder aufdrehen", sagte Gisela.

"Wenn die Reichen uns kaufen wollen, sollen sie doch. Sollen sie sich an uns die Zähne ausbeißen. Wir sind nicht käuflich. Wir nehmen von denen, was wir bekommen können und damit hat sich die Sache. Sollten sie es wagen uns beherrschen zu wollen, dann werden sie das bitter bereuen", verkündete Otto.

Emma blickte abwartend zu Eik und seiner Bande. Sie gaben den Ton in ihrem Viertel an. Wenn sie gegen die ganze Sache waren, würde es keines der Kids in ihrer Straße wagen sich ihnen entgegenzusetzen. Und da der Altersdurchschnitt in ihrem Bezirk bei 30 lag und Jugendliche die Hauptbevölkerungsgruppe darstellten, war das praktisch die gesamte Nachbarschaft.

Eik verschränkte seine tätowierten Arme, die Pistole ließ er an seinem Zeigefinger baumeln. "Also so wie ich das sehe, bekommen wir Wasser, Strom, Essen und was sonst noch alles. Und Jens wird befreit. Die GSD dabei von diesem Goldmann vielleicht sogar zerschlagen. Und wir müssen dafür nur 'nen Kreuz auf 'nem Wisch machen." Er drehte sich zu seinen Freunden um. Sie sahen ihn erwartungsvoll an. "Hat damit jemand 'nen Problem?"

Sie schüttelten einvernehmlich ihre Köpfe.

"Das fließende Wasser ist echt eine riesige Erleichterung. Meine Mutter ist schwer krank und sie leidet enorm unter der Dehydrierung", warf eine junge Frau aus den hinteren Reihen ein.

"Es gibt kaum noch was zu Essen. Wir Händler haben bald nichts mehr anzubieten, wovon sollen wir leben?", rief jemand.

"Wir sterben wie die Fliegen, wenn das so weitergeht. Die Reichen schulden uns unsere Ressourcen."

"Genau!"

"Ich hab seit zwei Wochen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. Ich mache dir auch drei Kreuze auf diesen Wisch, wenn mir dadurch der Hungertod erspart bleibt.“

Immer mehr Leute traten vor und bekundeten ihre Zustimmung.

"Na bitte", sagte Eik zufrieden und wendete sich wieder an Emma. "Du kannst diesem Reichen mitteilen, dass er uns seine Stimmzettel rüberschicken soll. Aber er soll es ja nicht noch einmal wagen, seine Leute in unser Viertel zu senden. Wir können uns selber verteidigen. Wir fürchten uns nicht vor der GSD, oder Leute?", fragte er die anderen, welche ihm lautstark zustimmten. "Wir kümmern uns um unseren eigenen Kram. Wir wollen weder Wachhunde noch Polizei oder sonst was. Dies bleibt unser Revier."

Emma nickte. "Ok. Ich werde morgen alles mit ihm besprechen. Dann werde ich ihm klar machen, was wir wollen und wozu wir bereit sind. Lasst uns morgen Abend zusammenkommen und ich werde von dem Treffen berichten. In Giselas Pizzeria? Um 10?"

Zustimmendes Gemurmel und Kopfnicken. Eik hielt seinen Daumen in die Höhe.

"Alles klar", sagte sie. "Und kann mir eben noch jemand erklären, warum ihr die Luxusautos abgefackelt habt, anstatt sie zu verkaufen oder damit an irgendwelchen Straßenrennen teilzunehmen?"

"Weil's mehr Spaß macht", bemerkte Nick und grinste breit.

Er hatte eine lange Narbe quer über dem Gesicht, die von seinem linken Mundwinkel über seinen rechten Nasenflügel bis hin zu seinem Haaransatz führte. Vielleicht ist sie ihm von der Machete zugefügt worden, ohne die er nie auf die Straße ging. Wenn er lachte, bewegte die Narbe sich mit. Als hätte sie ein Eigenleben. Sein furchterregendes Aussehen verschreckte jeden, der ihn nicht kannte. Oder auch diejenigen, die ihn kannten. Er hatte keine Eltern, keine Verwandten. Doch dank seiner sehr erfolgreichen Verbrecherkarriere bewohnte er eine riesige Wohnung im Dachgeschoss eines Wolkenkratzers, die bis obenhin mit Beute angefüllt war. Wenn man ganz verzweifelt war, lieh man sich bei ihm Geld. Er war großzügig, doch er verschenkte nichts. Wenn man nicht in der von ihm angegebenen Frist zurückzahlen konnte, hatte man ein Problem. Das war nur fair.

Nachdem diese spontane Versammlung beendet war, verstreuten sich die Leute in alle Richtungen, viele blieben auf der Straße, setzten sich an den Bordstein oder auf Fensterbretter, drehten sich Zigaretten aus Abfall und teilten sich selbst gebrannten Alkohol aus irgendwelchen zweifelhaften Zutaten.

Sie bedankte sich bei Eik, der sich nur an die Stirn tippte und ihr zurief: "Die Straße muss zusammenhalten, richtig?", bevor er in einer der stockdunklen Häuserschluchten verschwand.

Emma lief langsam zurück zu ihrem Wolkenkratzer. Ihr Magen drehte sich schon bei dem Anblick der herausgeschlagenen Fensterscheibe um sich selbst. Ihre gemeinsame kleine Wohnung im Erdgeschoss war immer ihr Rückzugsort gewesen. Eine winzige, bunte, unerträglich heiße, aber charmante Insel inmitten des hässlichen Viertels, in dem alles nur grau in grau war. Seit dem Tod ihres Vaters wohnten sie und Jens dort und hatten sich ihr Leben so eingerichtet, wie es ihnen beiden gefiel.

Doch nun war es der Ort des Grauens. Der Ort, an dem erst sie, dann Jens entführt worden war. In dem Menschen getötet und gefoltert worden sind. Und wenn sie an das heillose Chaos dachte, die umgeworfenen Möbel, ihr weniges Hab und Gut, welches über dem Boden verstreut lag, wurde ihr ganz schlecht. Ganz abgesehen davon, dass es einfach seltsam war, wenn ihr Bruder nicht in seinem Zimmer schlief.

Sie entschied, dass sie heute Nacht sowieso nicht mehr würde schlafen können, und betrat stattdessen Giselas Pizzeria, die sich direkt gegenüber ihrer Wohnung befand.

Gisela war immer wach. Egal, wann sie ihren nach billigen Gewürzen und verbranntem Teig duftenden Laden betrat, sie stand immer hinter dem Tresen. Und sie hatte immer ein offenes Ohr für jedermanns Probleme. Außerdem konnte man sich auf sie immer verlassen. Sie behielt jedes Geheimnis für sich. Sie war praktisch der Beichtstuhl ihres Viertels.

Sie setzte sich an einen der runden Metalltische, der gefährlich wackelte als sie ihre Ellbogen darauf ablegte, und ließ das Kinn auf ihre Handflächen sinken. Sie streckte ihre Beine aus, damit das Blut an ihren Fußsohlen trocknen konnte. Als sie die Blutstropfen sah, die auf das vergilbte Tischtuch tropften, begutachtete sie ihre Handkante, die völlig zerschnitten war.

"Du solltest das auswaschen", bemerkte Hannah, die sie gar nicht hatte kommen hören.

"Ach, Gisela macht sich nichts aus Blutflecken. Das kommt hier öfters vor", sagte sie und leckte das Blut von ihrer Hand, um die Sauerei zu minimieren.

"Ich meinte eigentlich deine Wunden", bemerkte Hannah und setzte sich ihr gegenüber. "Darf ich?"

"Du sitzt doch schon."

"Ja, sorry, bin manchmal ein bisschen aufdringlich. Kommt wahrscheinlich durch meinen Beruf."

"Ist schon in Ordnung."

"Wenn du möchtest, kannst du gerne bei uns schlafen. Ich könnte verstehen, wenn du nicht zurück in deine Wohnung möchtest. Sieht ja aus wie im Schweinestall bei euch." Sie winkte Gisela zu und bestellte zwei Cola.

Emma sah überrascht auf. "Ist das dein Ernst?", fragte sie.

"Natürlich", antwortete sie, nahm Gisela die beiden Flaschen ab und legte zwei abgenutzte Münzen in die schwielige Hand der Pizzariabesitzerin.

Emma betrachtete sie eingehend. Das einzige, was sie von Hannah wusste, war ihr Name, ihr Beruf und dass sie eine Tochter namens Katerina hatte. Sie wohnte im gleichen Wolkenkratzer, im 43. Stock. Und sie hatte russische Vorfahren, was ungewöhnlich war, denn Ausländer gab es in Deutschland seit fast 100 Jahren nicht mehr. Sämtliche Grenzen sind im frühen Stadium der Überbevölkerung geschlossen worden und Tourismus ist schon vor langer Zeit verboten worden. Manchmal fragte sie sich, was in der übrigen Welt vor sich ging. Sie hatte keinen blassen Schimmer. Und was würde sie mit dieser Information auch anfangen. Ihre kleine Welt war für sie schon schwer genug zu meistern.

"Ich komm schon klar", sagte sie dann und wühlte in den Taschen ihrer Shorts nach Münzen, doch sie fand keine.

"Lass mal, kannst mir die Mark ein andern Mal zurückgeben", sagte Hannah, die genau wusste wie ungern man auf der Straße einen Gefallen annahm.

"Danke", sagte Emma resigniert und nahm einen großen Schluck. So oft wie in den letzten Tagen hatte sie sich noch nie bedankt. Es ging ihr schwer über die Lippen. Denn bisher hatte es nicht viel gegeben, wofür sie sich hätte bedanken müssen. Und auf einmal tauchten von überall her Leute auf, die ihr helfen wollten.

"Er wird schon wieder auftauchen."

Emma hob den Kopf. "Wer?", fragte sie irritiert.

"Na, Jens. Dein Bruder."

"Ach so." Sie stand neben sich, nach allem, was passiert ist. Außerdem sollte sie in der Tat dringend mal ein Arzt durchchecken. Doch ihre Gedanken kreisten permanent nur um eines. Jens.

"Also mein Angebot steht noch, komm einfach hoch und klopf 5-mal. Dann weiß ich, dass du es bist. Ich geh jetzt mal schlafen, meine Tochter vermisst mich bestimmt schon."

Emma nickte und rang sich ein Lächeln ab. Hannah verabschiedete sich und verschwand in ihrem gegenüberliegenden Wolkenkratzer.

Der Strom ist gestern Abend zusammen mit dem Wasser wieder angestellt worden, doch da all ihre Straßenlaternen zerschlagen waren, lag die Straße wie eh und je im Dunklen. Auch in den Wolkenkratzern konnte sie nur wenige beleuchtete Fenster ausmachen. Man hatte sich an den Zustand gewöhnt. Vielleicht waren die meisten Wohnungen auch unbewohnt.

Wie viele Menschen lebten eigentlich noch? Führte überhaupt jemand Buch? Was zur Hölle machten die Politiker eigentlich? Würde Goldmann es besser machen? Konnte es überhaupt irgendjemand besser machen?

Sie beobachtete, wie Gisela eine halb verkohlte Pizza ohne Handschuhe aus dem Ofen zog. Zumindest sie konnte sich über den Strom freuen.

Gedankenverloren beobachtete sie die Blutstropfen, die von ihrer Hand herunterfielen und das Tischtuch rot färbten. Sie hasste es, nichts tun zu können. Einfach nur herumzusitzen. Dafür war sie einfach nicht gemacht. Am liebsten würde sie sich auf der Stelle aufmachen und die Stadt nach ihrem Bruder und der GSD absuchen. Irgendein Mitglied aufstöbern und aus ihm die benötigten Informationen herausprügeln. Doch sie dachte an das, was Ben gesagt hatte. Einfache Mitglieder wussten nicht Bescheid. Und hochrangige Mitglieder sprachen nicht. Niemals.

"Emma, ehrlich, du blutest wie ein abgestochener Hund."

Gisela kam auf sie zu, umfasste ihren Arm, zog sie mit einer erstaunlichen Kraft vom Stuhl und schleifte sie mit sich in die kleine Küchenzeile hinter dem Tresen. Emma wollte schon protestieren, aber ließ sie dann gewähren. Das Wasser brannte in ihren Wunden, doch es machte ihr nichts aus. Wenn man auf der Straße nicht schmerzresistent war, ging man schnell unter.

Sie schaute geduldig zu, wie Gisela ihr eine tatsächlich beinahe weiße Papierserviette um die Hand legte und verknotete.

"Du musst besser auf dich achtgeben, Emma", sagte sie, sah dann auf ihre Füße und schüttelte den Kopf. "Und wenn das Geld von Goldmann kommt, dann kauf dir endlich mal Schuhe."

"Du hörst dich schon an wie Jens."

"Jens ist ein intelligenter Junge. Du solltest öfter auf ihn hören."

"Ich weiß", sagte sie nur und drückte ihre bandagierte Hand an die Brust.

"Wir werden ihn wiederbekommen. Der Junge ist zäh. Er ist immerhin dein Bruder."

Emma lächelte. Ja, er war ziemlich tough. Er war mit Sicherheit kein einfacher Gefangener. Er war ein Kämpfer. So wie sie.

"Wir werden denen schon zeigen, wer in dieser Stadt das Sagen hat. Das sind nicht die Reichen. Oder die GSD. Sondern wir", sagte Gisela mit Nachdruck, reichte ihr ein Viertel von der verbrannten Pizza und begann dann eine weitere auszurollen.

Emma sah sie nachdenklich an. Schließlich setzte sie sich wieder an den blutverschmierten Platz und kaute auf der nach Kohle und Analogkäse schmeckenden Pizza herum. Und dann wartete sie, bis das Schwarz der Nacht sich langsam in das trübe, staubige Licht des Morgens verwandelte und die graue, traurige Welt in eine nebelige, gelbe Atmosphäre tauchte. Dann machte sie sich auf den Weg.