Isabella

 

"Was kann die Bevölkerung von Ihrer Partei erwarten, sollte sie die Wahlen gewinnen?", fragte die Moderatorin des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders. Wobei es sowieso gleich war, ob privat oder staatlich, Goldmann hatte sie allesamt ohne Ausnahme gekauft.

"Sie können Wohlstand erwarten. Ordnung, Sicherheit und Frieden. Zu lange hat die Politik die Bevölkerung im Stich gelassen, zu lange vernachlässigt und ihrem Schicksal auf den Straßen überlassen. Menschliche Selektion sollte nicht willkürlich geschehen, aus reiner Lust und Laune heraus. Wir haben zugelassen, dass Selektion in Terror ausartet, in brutale Gewalt und letztendlich zur Anarchie führte. Mit Goldmann als starken, erfahrenen und verlässlichen Führer wird unsere Partei diese Stadt, dieses Land, aus der Asche wieder auferstehen lassen und es zu seinem alten Glanz, Reichtum und seiner Macht führen."

Isabella hätte beinahe die Augen verdreht, als sie ihre eigene Stimme hörte. Sie glaubte selber wahrscheinlich am allerwenigsten an das, was sie den Deutschen in den schönsten Farben ausmalte. Dieses Land war verloren. Die Menschheit war verloren. Sie hatte keine Illusionen mehr. Die sind vor langer Zeit gemeinsam mit ihren Träumen und Visionen gestorben.

"Und wie wollen Sie im Falle eines Wahlsieges mit der GSD verfahren? Sie bezeichnen Ihre gegnerische Partei offiziell als Terrororganisation. Werden Sie entsprechende strafrechtliche Maßnahmen in die Wege leiten?" Die Moderatorin hatte ein Lächeln wie in Beton gemeißelt. Selbst während sie sprach, verzog sie ihre Mundwinkel nicht nach unten. Ihre strahlend weißen Zähne blitzten in dem gleißenden Licht der Scheinwerfer und ihre perfekte Haut hatte weder Falten noch Muttermale. Sie war einfach makellos. Ihre langen, platinblonden Haare erinnerten sie an ihre beste Freundin Inga. Platinblond war die neue IN-Farbe der Berliner High Society.

"Wir werden die Anführer und leitenden Mitglieder der Terrororganisation strafrechtlich verfolgen. Sie haben zahlreiche Verbrechen gegen die Menschheit begangen und dies ist in einem ordentlichen Rechtsstaat nicht tolerierbar. Sobald die alte Ordnung wiederhergestellt wurde, werden wir alle entsprechenden Maßnahmen in die Wege leiten. Was die Mitglieder der GSD, welche sich nicht in einer leitenden Position befunden haben, angeht, so werden wir ihnen entsprechend des deutschen Grundgesetzes ein faires Verfahren anbieten. Die Anarchie hat viele von uns zu Mördern gemacht. Von Bedeutung sind stets die Beweggründe der Tat. Was die Menschen auf den Straßen angeht, so haben sie nichts zu befürchten. Der gesamte Zeitraum der Anarchie wird als außerordentlicher Ausnahmezustand behandelt und Verbrechen, die nicht im Namen der GSD verübt wurden, werden nicht zum Gegenstand einer strafrechtlichen Verfolgung gemacht. Alle Verbrechen, die nach unserem Amtsantritt registriert werden, werden jedoch nach dem vollen Umfang des Gesetzes bestraft werden."

Die Moderatorin nickte eifrig, klimperte mit ihren überlangen, falschen Wimpern und schlug ihre langen, dürren Beine übereinander. In ihrer perfekt manikürten Hand hielt sie eine Karte, auf der genau stand, was sie zu fragen hatte. Goldmann hatte dafür gesorgt, dass alle Moderatoren und eventuelle Fragensteller aus dem Publikum ausschließlich die von ihm diktierten Worte verwendeten. Er bezahlte sie gut für ihre Kooperation. Es war ein Gewinn für beide Seiten. Die Welt der Reichen und Berühmten, und dazu gehörten Fernsehmoderatoren genauso wie die gut betuchten Gäste, wünschten sich nichts sehnlicher als Goldmann als Präsidenten zu sehen. Die GSD bedrohte sie alle, und sollte die Terrororganisation tatsächlich an die Macht kommen, könnten sie sich alle vom Leben, so wie sie es kannten. verabschieden. Oder überhaupt vom Leben.

Isabella beantwortete noch einige Fragen aus dem Publikum, dann war ihr Auftritt beendet. Sie verließ das große Fernsehstudio im obersten Stockwerk des vollständig verglasten Wolkenkratzers am Potsdamer Platz, dessen neongelbe Lichter in den dämmrigen Himmel leuchteten und die Staubflocken tanzen ließen. Sie stand im Innenhof, inmitten der verschiedenfarbig beleuchteten, schlanken Gebäude, die Cafés waren voll besetzt mit bildschönen Menschen in Designergarderoben und mit top-gestylten Frisuren. Sie wurden streng von Mitarbeitern der privaten Sicherheitsdienste bewacht.

Es war erstaunlich, dass der Potsdamer Platz kein Ziel der Anschläge gewesen ist. Sie konnte es sich nur so erklären, dass die Platzierung von Bomben in dem extrem gesicherten Komplex zu schwierig gewesen ist. Andererseits hatten sie auch das Ministerium für Inneres und das Finanzministerium in die Luft gejagt. Sie wusste, dass die GSD am Platz äußerst aktiv war. Vielleicht war das der Grund. Vielleicht war es auch nur Zufall. Wahrscheinlich hatten sie Bastis Club, das X-Berg, nur zufällig bei einem Würfelspiel ausgewählt. Das Schicksal war schon verdammt mies.

Sie grüßte einige bekannte Gesichter, Politiker, Schauspieler, Models, und schritt eilig über den Platz in Richtung des rot beleuchteten Wolkenkratzers. Sie nickte den Wachmännern knapp zu und betätigte die Klingel mit dem Namen Engel.

"Hey Süße, ich bin sofort unten", kam glasklar Ingas hohe Stimme aus dem Lautsprecher.

Sofort hieß bei Inga üblicherweise in zehn bis fünfzehn Minuten, daher lehnte sie sich gegen die Glaswand und betrachtete das luxuriöse Schauspiel. Junge Leute liefen lachend und angeheitert in Richtung der Clubs, ältere Ehepaare in formeller Kleidung und langen, wallenden Kleidern eilten in die Oper oder machten vorher noch in einem der eleganten Restaurants halt, in welchen man einen Monat vorher eine Reservierung machen musste.

Sie ist mal eine von ihnen gewesen. Hat mit ihren Freunden die Nächte in den angesagtesten Clubs der Stadt durchgefeiert, mit den Mädels in ihrer Lieblingscocktailbar auf eine bestandene Prüfung angestoßen oder das neueste Sushi-Restaurant ausprobiert. Sie sind stets als VIP behandelt worden und Reservierungen hatten sie nicht nötig gehabt, denn ihr Bruder hatte weitreichende Beziehungen in der Gastronomiebranche.

Es ist ein schönes Leben gewesen. Unbeschwert. Sorgenfrei. Naiv.

Doch dieses Leben war lange vorbei. Sie war nicht mehr dieses Mädchen. Sie ist nicht gestorben. Doch irgendwie war sie es doch.

"Na Schätzchen, ist alles gut gelaufen?", riss Inga sie aus ihren Erinnerungen und hauchte ihr zwei flüchtige Küsse auf die Wangen. Sie verströmte einen durchdringenden Duft nach einem blumigen Parfum, welches mit Sicherheit gerade der neueste Schrei auf dem Markt war. Ihre langen, platinblonden Haare schimmerten im Neonlicht Silber und Gold, so als hätte jemand einen Stern über ihrem Kopf zerplatzen lassen. Sie trug ein eng anliegendes, pinkfarbenes Minikleid und goldene High Heels, welche mit funkelnden Edelsteinen besetzt waren.

"Selbstverständlich", sagte sie.

"Das ist gut. Das ist sehr gut. Gott, ich hoffe, dass Goldmann haushoch gewinnen wird. Je eher diese gemeingefährliche Gruppe hinter Schloss und Riegeln sitzt, desto besser."

Inga nickte ihren beiden Bodyguards zu und hakte sich dann bei ihr ein. Inga verließ ihre Wohnung niemals ohne ihren privaten Wachdienst. Nach dem Vorfall am Potsdamer Platz vor einigen Tagen konnte sie ihr das auch nicht verübeln. Sie war sogar verdammt froh, dass sie Schutz hatte. Auch wenn sie ihr Apartmentgebäude sowieso fast ausschließlich in ihrer gepanzerten Limousine verließ.

"Ich hatte ja heute einen ganz furchtbaren Tag", verkündete sie, während sie in Richtung einer der Cocktailbars am anderen Ende des Platzes schlenderten.

Die lange Schlange der wartenden Gäste war schon von hier zu erkennen. Sie fragte sich manchmal, wo immer noch die ganzen Menschen herkamen. Die Anarchie hatte auf allen Seiten Opfer gefordert. Es zeigte nur, wie massiv die Überbevölkerung gewesen ist.

"Ich habe so ein neues Model, das noch grün hinter den Ohren ist, aber meint die Schönheit und Anmut für sich gepachtet zu haben. Das Problem ist, dass sie tatsächlich unfassbar hübsch ist, und das weiß sie auch. Bekommt jeden Job hinterher geschmissen, obwohl sie sich bei den Castings verspätet und die Fotografen beleidigt. Eine Figur hat sie, da fehlen einem die Worte. Ich meine, ich bin natürlich froh, dass sie sich für mich entschieden hat. So einen wunderschönen Rohdiamanten zu managen ist das Beste, was einem in diesem Business passieren kann. Aber sie ist unerträglich. Ihr Name ist Sophie. Du hast sie bestimmt schon in der Glamour 'n Shine Werbung gesehen. Sie hat diese wahnsinnigen blauen Augen. Weißt du wen ich meine?"

"Nicht wirklich."

"Ach, die kennst du bestimmt. Die sieht man überall. Ist natürlich klasse für mich. Gibt mir eine einmalige Reputation."

"Das freut mich für dich."

Wenn Inga plapperte, war es das Beste, man ließ sie reden, bis ihr Wortschwall versiegte. Isabella verstand nur die Hälfte von dem, was sie ihr über die Mode- und Beauty-Welt vorschwärmte, und es interessierte sie nicht im Geringsten, welcher Schauspieler mit welchem Model auf der letzten VIP-Party rumgemacht hat. Doch sie musste zugeben, dass sie die gemeinsame Zeit mit ihrer Freundin genoss. Es war erfrischend und lenkte sie von dem ganzen Leid und Elend in der Stadt und ihren Schuldgefühlen ab. Mit Inga auszugehen war wie eine Therapie. Und sie wurde daran erinnert, dass das Leben weiterging, egal was da draußen geschah. Und das war etwas, wofür es sich lohnte zu kämpfen.

"Na ja, und meine Mutter ist selbstverständlich total neidisch auf sie. Ich darf sie nicht in ihre Nähe lassen, sonst kratzt sie ihr noch die Augen aus. Ihre letzte Schönheitsoperation ist nicht so ganz nach ihren Wünschen verlaufen, daher ist sie sowieso schon die ganze Woche stinkig. Wieso hab ich nur die Wohnung direkt über ihr genommen? War ich nicht ganz bei Sinnen? Wieso hast du mir keine Ohrfeige verpasst? Außerdem hat sie einen neuen Lover, ist wohl irgend so ein Politiker. Kenn ich nicht, ist aber wohl steinreich. Ich bin nur froh über die schalldichten Wände und Decken, kannst du dir vorstellen."

Sie passierten die endlose Schlange wartender Menschen, die ihren Feierabend mit einem Cocktail ausklingen lassen wollten, und wurden von den Türstehern mit einem freundlichen Lächeln eingelassen. Sie kannte beinahe jeden Türsteher dieser Stadt. Wenn man bei Tag eine eigene, äußerst berühmte Bar führte und bei Nacht durch die Straßen schlich und GSD Mitglieder jagte, war man schnell ein bekanntes Gesicht. Doch kaum jemand kannte beide Seiten. Die einen kannten sie als Isabella Sommer, die junge, hübsche Politikerin aus reichem Haus, die von der Realität überrascht und enttäuscht wurde und in die rebellischen Fußstapfen ihres Bruders getreten war, um eine erfolgreiche Gastronomin zu werden.

Die anderen kannten sie als die namen- und gesichtslose Heldin der Straße, die es sich zur Mission gemacht hatte, die Bürger dieser Stadt vor der GSD zu beschützen. Ihre Feinde nannten sie auch Mörderin. Lautlose, skrupellose Killerin. Der schwarze Tod. Erzfeindin der GSD.

Doch nur sie kannte die ganze Wahrheit. Nämlich, dass sie alles von dem war. Und es war für sie das Einzige, was zählte. Dass sie selber wusste, wer sie war. Und wofür sie lebte.

Sie betraten die schicke Bar und wurden zu ihrem Stammtisch im ersten Stock geführt. Die Luft war so rein, wie sie es nur sein konnte. Höchste Sauerstoffkonzentration. Neonlichter in allen Farben des Regenbogens schwirrten durch den Raum und aus den Lautsprechern kamen die sanften Klänge einer berühmten, deutschen Soulband. Der Kellner brachte ihnen unaufgefordert ihre Lieblingsgetränke und verschwand so schnell wie er gekommen war. Sie nippte an ihrem Cocktail und schaute gedankenversunken durch die verglaste Wand, während sie Inga nur mit halbem Ohr zuhörte.

Dieser Teil des Potsdamer Platzes, der ehemalige Komplex des Sonycenters, war eine Enklave inmitten des chaotischen, dreckigen und zu Zeiten ziemlich gefährlichen Platzes. Es trafen Reich und Arm aufeinander. Alle Bevölkerungsschichten vermischten sich, um dem Vergnügen nachzugehen. Einer der wenigen öffentlichen Orte, an denen solch eine Koexistenz relativ reibungslos funktionierte. Von der alltäglichen Kriminalität einmal abgesehen.

Doch hier, zwischen den endlos in den düsteren, bedrohlichen Himmel ragenden, neonfarbigen Wolkenkratzern, war man unter sich. Nur die Reichen. Hier fühlten sie sich sicher. Doch natürlich war auch das eine Illusion. Man war nirgendwo sicher. Nicht einmal im wie Fort Knox abgeschotteten Villenviertel ihrer Eltern im Grunewald. Die Selektion fand immer ihren Weg. So oder so.

"Na ja, und dann bin ich natürlich sofort gegangen. So etwas lasse ich mir nicht bieten, ist ja klar. Ich habe immerhin einen Ruf zu verlieren." Inga nahm einen Schluck aus ihrem Glas und spitzte dabei ihren Mund wie ein Goldfisch. Oder zumindest wie die synthetisch hergestellten Goldfische, die sich in manchen Gartenteichen der Reichen tummelten.

"Sag mal, kannst du nicht Jana fragen, ob sie für unsere nächste Coverreihe die Outfits entwirft? Oder hat sie immer noch so viel zu tun? Wir zahlen sehr gut."

"Sicher. Das würde sie bestimmt gerne machen", log sie.

Mit Sicherheit würde ihre Mitbewohnerin das nicht gerne machen, denn sie hasste es mit Topmodels zusammenzuarbeiten. Aber sie würde den Job wahrscheinlich annehmen. Durch die Terroranschläge sind viele von Janas Aufträgen geplatzt und um ihren recht teuren Lebensstandard beizubehalten, musste sie, im Gegensatz zu ihr, arbeiten. Sie hatte keine reiche Familie. Keine reichen Bekannten. Sie war in armen Verhältnissen aufgewachsen und ohne ihre gemeinsame Auswahl in die Künstliche Selektion vor zehn Jahren hätten sie sich wahrscheinlich niemals getroffen.

"Was macht Oli eigentlich? Ich habe ihn seit dem Vorfall am Potsdamer Platz nicht mehr gesehen."

"Er hat viel zu tun. Als neuer Polizeipräsident hat er eine enorme Verantwortung. Es wird eine Menge auf ihn zukommen."

"Also ich weiß ja nicht, wie man sich freiwillig für so einen Beruf entscheiden kann. Tagtäglich sein Leben riskieren und zum Dank wird man noch von der GSD verfolgt. Aber ich habe ihn ja noch nie wirklich verstanden."

"Er möchte wieder gut machen, was passiert ist. Dies ist seine Art, mit der Schuld umzugehen."

Inga stöhnte theatralisch. "Ihr immer mit dieser Schuld. Niemand hat Schuld an dieser abscheulichen Sache. Oli nicht, du nicht, ich nicht, niemand. Niemand außer … du weißt schon wer." Inga wich ihrem Blick aus.

"Er hätte es verhindern können. Es stand in seiner Macht. Ich hätte es erkennen müssen. Er war mein Freund."

"Hört das irgendwann nochmal auf? Ihr könnt euch doch nicht ewig dafür selbst bestrafen. Ich denke, wir haben alle genug dafür bezahlt, haben genug gelitten. Es ist Vergangenheit. Es ist geschehen. Doch es ist vorbei. Lasst es gut sein und stellt euch nicht freiwillig in die Schusslinie. Als hättet ihr einen Todeswunsch."

"Du verstehst das nicht."

"Ich weiß, ihr haltet mich für dumm …", fing Inga an.

"Wir halten dich nicht für dumm."

"...aber auch ich war dabei. Ich habe den toten, blutüberströmten Leichnam meiner besten Freundin in den Armen gehalten. Es sind schon zu viele gestorben, Isa. Warum könnt ihr nicht einfach damit abschließen und endlich mal wieder leben? Wieso müsst ihr unbedingt die Helden spielen? Es ist nicht eure Verantwortung."

"Wessen ist es dann? Niemand tut etwas. Das ist das Problem."

"Gott, ihr seid beide so stur!" Sie stocherte hektisch mit ihrem Strohhalm in dem leeren Glas. "Und was soll ich machen, wenn es euch erwischt? Ich kann nicht auch noch euch verlieren. Wie soll ich diese verrückte Welt denn bitteschön ohne dich ertragen? Mit wem soll ich mich über meine Models lustig machen? Mit wem meine Mutter verarschen?"

"Wir leben in einer Zeit, in der jeden Moment jemand plötzlich nicht mehr da sein könnte."

"Aber du musst die Gefahr ja nicht unbedingt suchen“, insistierte Inga.

"Lassen wir dieses deprimierende Thema. Erzähl mir mehr von dem neuen Lover deiner Mutter." Sie brauchte die Ablenkung. Der Ernst des Lebens würde sie schon früh genug wieder einholen.

Inga zog einen Schmollmund, doch nach wenigen Sekunden hatte sie sich bereits wieder in die Liebesbeziehung ihrer Mutter hereingesteigert.

Sie lästerten noch einige Zeit über Stars, tauschten die heißesten Neuigkeiten die High Society aus und lachten Tränen über die Veröffentlichung von geheimen Videos aus dem Ministerium für Inneres, welche die wenigen gelangweilten Politiker, die sich noch auf die Arbeit trauten, beim Schnarchen zeigten. Man hätte es für pietätlos halten können, denn das Amt für Inneres gab es nun nicht mehr und Hunderte Politiker sind bei den terroristischen Anschlägen in der letzten Woche ums Leben gekommen. Doch sie lebten in keiner Zeit für Anstand und Respekt vor den Toten.

Sie bestellten sich noch eine Runde, danach gaben sie den begehrten Tisch an die sehnsüchtig wartenden Gäste ab und verließen die Bar. Sobald sie ins Freie traten, schlug ihnen die drückende Hitze trotz der an den Außenwänden angebrachten Sauerstoffbläser, welche zusätzlich einen feinen, kühlen Sprühregen in der Luft verteilten, entgegen.

"Was machst du heute noch so?", fragte Inga wie beiläufig.

"Das Übliche."

"Du gehst wieder auf die Straßen", stellte sie fest. Inga wusste von ihrem Zweitleben. Sie hatte zwar nur eine grobe Vorstellung davon, und von ihrer unerbittlichen Vorgehensweise hatte sie keine Ahnung, doch sie wusste Bescheid.

Isabella gab keine Antwort.

"Kannst du nicht wenigstens jetzt, in der Wahlkampfphase, deine lebensgefährliche Freizeitbeschäftigung pausieren lassen? Wenn Goldmann gewinnt, ist doch sowieso alles bald vorbei. Warum konzentrierst du dich nicht darauf, diesen Wahlsieg einzufahren?"

"So einfach wird das nicht sein."

"Was meinst du damit? Glaubst du nicht an einen Wahlsieg?" Panik schwang in Ingas Stimme mit. "Willst du mir damit sagen, dass die GSD ernsthafte Chancen hat zu gewinnen?"

"Ja."

"Mein Gott, Isa, wie kannst du nur immer so ruhig bleiben? Wäre das nicht unser aller Untergang? Sie würden uns alle töten! Einen nach dem anderen!"

"Wahrscheinlich."

"Isa!"

"Soll ich dich anlügen? Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, dass die GSD gewinnt. Und genau deswegen gehe ich weiterhin auf die Straßen. Damit das nicht passieren wird."

"Wie willst du das denn verhindern? Willst du jedes Mitglied der GSD jagen und in ein riesiges Gefängnis sperren?"

"So ähnlich."

"Was soll so ähnlich heißen? Isa, ich mag so ähnlich gar nicht."

"Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich schon darum."

"Aber ich mache mir Sorgen. Um dich!"

"Das brauchst du nicht."

"Das hilft mir nicht weiter."

Vor Ingas rot beleuchtetem Wolkenkratzer blieben sie stehen. Ihre beiden Bodyguards, die ihnen wie zwei Geister auf Schritt und Tritt folgten, hielten ihr die Tür auf.

"Es wird alles gut werden, Inga, das verspreche ich dir. Bald wird es keine GSD mehr geben und alles wird wieder so wie früher."

"Meinst du wirklich?", fragte sie zweifelnd.

"Ja. Und jetzt ab in den Schönheitsschlaf mit dir."

"Als ob ich den nötig hätte", gab sie leicht gekränkt zurück und Isabella grinste. Als Inga sie umarmte, bekam sie von ihrem aufdringlichen Parfum beinahe einen Hustenanfall.

"Pass auf dich auf", sagte Inga und drückte ihre Hand.

"Mach ich", versicherte Isabella und winkte ihr noch zu, als sie das Gebäude betreten hatte und hinter der Glaswand auf den Aufzug wartete, der sie in das oberste Stockwerk bringen würde.

Dann drehte sie sich um und begab sich auf direktem Weg zur U-Bahn Station. Sie hätte auch auf dem Potsdamer Platz bleiben und geduldig warten können, bis ein Mitglied auftauchte, doch dazu hatte sie keinen Nerv. Sie wollte es erledigen. So schnell wie möglich. Keine Spielchen mehr. Keine kleinen Fische mehr. Sie musste die GSD dort treffen, wo es wehtat. Sie musste sie ein für alle Mal zerstören.

Sie fuhr nach Hause, in den ehemaligen Bezirk Prenzlauer Berg, im nordöstlichen Teil der Innenstadt. Es kam ihr so vor, als liefen ihr weniger Kriminelle als üblich über den Weg. War das etwa schon Goldmann und seiner einzigen zur Verfügung stehenden Taktik, dem Einkauf von Wählern und dem Ködern der Straße durch Ressourcen, Geld und Propaganda, zu verdanken? Oder - schlimmer - waren die Kriminellen der Straßen zu der GSD übergetreten und planten ihren endgültigen Schlag gegen die Reichen?

Ohne auch nur eine ungemütliche Begegnung erreichte sie ihren sonnenblumengelben Wolkenkratzer, dessen Fassade von den Anwohnern kunstvoll verziert worden war. Es lebten viele Künstler in ihrem Viertel. Es war die einzige Gegend Berlins, in der Arme und Reiche relativ friedlich beisammen wohnten. Reiche Aussteiger, so wie sie, vermischten sich hier mit den Armen der Straße, welche jedoch, anstatt sich kriminell zu betätigen, ihr Überleben durch künstlerische oder handwerkliche Fähigkeiten sicherten.

Sie durchschritt die schneeweiße, noble Eingangshalle, grüßte den Portier und seine beiden Bodyguards und stieg in den verglasten Aufzug. Ihre Wohnung, das Penthouse, befand sich auf der obersten Etage.

Als der Lift im 178. Stockwerk zum Stehen kam, sah sie die Frau bereits durch die Glastür. Sie stand mit dem Rücken zu ihr und betätigte die Klingel. Sie trug einen hellgrauen Anzug, schwarze Pumps mit breitem Blockabsatz und hatte auffallend orangerote Locken, die ihr bis zu den Schultern gingen. Sie sah aus wie eine einfache Politikerin. Sie war klein und zierlich. Keine offensichtliche Waffe, was nichts heißen sollte.

Isabella zog ein Messer aus dem Gürtel ihrer Hose und als die Fahrzugtüren sich öffneten, blieb sie abwartend stehen.

Die Frau drehte sich um und blickte sie unerschrocken an. Ihr hübsches, schmales Gesicht war von Sommersprossen übersät. Sie hätte süß und unschuldig aussehen können, doch Isabella erkannte in ihren Augen den abgestumpften, kalten Ausdruck, den ihr der Überlebenskampf ins Gesicht gezeichnet hatte.

Alarmiert näherte Isabella sich ihr langsam, das Messer locker aber angriffsbereit in der Hand.

"Wer sind Sie?", fragte sie.

Die Frau hob langsam ihre Hände in die Höhe, doch sie konnte nicht den Anflug von Angst oder Erstaunen erkennen. Diese Frau kannte sie offenbar. Doch Isabella kannte sie nicht. Und das mochte sie gar nicht. Es war gefährlich.

"Ich bin in friedlichen Absichten hier", sagte sie ruhig und sah ihr dabei fest in die Augen. "Ich bin nicht Ihr Feind. Sie können mich durchsuchen, wenn Sie wollen. Ich habe nur eine Pistole unter meiner Bluse. Ich kann sie Ihnen geben, wenn Sie möchten."

"Das ist nicht nötig", erwiderte Isabella und blieb zwei Meter vor ihr stehen. "Wenn Sie mir nichts tun, tue ich Ihnen auch nichts. Es sei denn, Sie sind von der GSD."

Die Frau zwinkerte kurz, doch diese kurze Bewegung reichte Isabella aus. Sie sprang blitzschnell nach vorne, drückte sie gegen die Tür und hielt ihr die scharfe Klinge ihres Messers an die Kehle. Gleichzeitig zog sie mit ihrer linken Hand die kleine Pistole aus dem Ausschnitt der Frau hervor und steckte sie in ihre eigene Gesäßtasche.

"Sie sind von der GSD", zischte sie hasserfüllt.

Die Frau verzog immer noch keine Miene. Das war typisch für Mitglieder der GSD. Sie waren so fanatisch in ihre Selektion vernarrt, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken dafür sterben würden. Es waren Psychopathen.

"Ja, ich bin von der GSD", presste die Frau hervor. "Mein Name ist Miriam Hundskamp. Ich bin die stellvertretende Leiterin. Ich war mit Ihrem Bruder liiert."

Miriam? Der Name rief in ihr eine Erinnerung wach. Es war in den letzten Tagen so viel passiert, dass sie einige Sekunden brauchte, bevor die Erkenntnis einsetzte.

Natürlich. Sie war Bastis Ex-Freundin. Das Mädchen von der GSD. Isabella hatte sich erfolgreich geweigert sie kennenzulernen. Beziehungsweise hatte Basti sie tunlichst voneinander fern gehalten. Eigentlich hatten sie ein gemeinsames Abendessen geplant, um es endlich hinter sich zu bringen. Gemeinsam mit ihren Eltern. Doch das hatte sich schließlich erledigt.

Was tat sie hier? Sie war verantwortlich für Bastis Tod, was erlaubte sie sich hierherzukommen und ihr aufzulauern?

Isabella verstärkte den Druck des Messers. "Du hast meinen Bruder getötet", raunte sie ihr ins Gesicht.

"Mein Vorgesetzter hat mit eine falsche Uhrzeit genannt. Ich wollte ihn warnen. Doch es war zu spät."

"Ich glaube dir kein Wort."

"Das musst du auch nicht. Und du hast recht. Ja, ich habe ihn getötet. Wir haben ihn getötet. Doch das ist jetzt nicht mehr wichtig."

"Für mich ist es wichtig", zischte Isabella und drückte die Klinge noch einen Millimeter tiefer in ihr Fleisch, sodass die ersten Blutstropfen an ihrem Hals herunterrannen und ihre schneeweiße Bluse verfärbten.

"Wichtig ist, was ich dir anbieten möchte", sagte Miriam atemlos.

"Du willst mir etwas anbieten?", fragte Isabella ungläubig. Die Frau konnte froh sein, dass sie noch lebte.

"Ja. Ich weiß, dass du die GSD hasst. Und jetzt haben sie deinen Bruder getötet. Du möchtest Rache. Oder nicht?"

"Ja, das will ich", sagte Isabella vorsichtig.

"Schön. Ich auch."

"Wieso?"

"Wieso? Du magst nicht viel von uns halten, aber wir sind auch nur Menschen. Ich habe deinen Bruder geliebt. Und sie haben ihn mir genommen. Und das werden sie büßen." Sie sah Entschlossenheit in Miriams Augen aufblitzen. Und noch etwas anderes. Etwas, das sie von sich selber kannte. Schuldgefühle. "Ich bin für seinen Tod verantwortlich. Und ich werde dafür sorgen, dass seine Mörder ihre gerechte Strafe bekommen."

"Und wie willst du das anstellen?", fragte Isabella und lockerte ihren Griff etwas.

"Mit deiner Hilfe."

Isabella sah sie abwartend an.

"Ich arbeite in der Führungsriege der GSD. Ich kenne alle hochrangigen Mitarbeiter. Ich weiß, wo sie wohnen, ich weiß, wo sie essen, ich weiß, welche Macken sie haben und ich weiß, wann sie aufs Klo gehen. Ich könnte sie einfach selber töten, doch so einfach ist das nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie paranoid meine Kollegen sind." Sie machte eine Pause, um die Informationen sacken zu lassen. Sie war eben eine Politikerin. "Eigentlich wollte ich dich nur treffen, um mit dir über Basti zu sprechen. Ich dachte, es würde mir helfen … Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Ich bin dir gefolgt, eine Nacht. Ich habe gesehen, was du tust. Wer du bist. Du bist Wagners Erzfeindin, richtig? Der schwarze Tod. So nennen wir dich bei uns. Ich wusste nicht, dass du es bist. Niemand weiß es. Du hast es geschafft, jahrelang unerkannt GSD Mitglieder zu töten ohne erwischt zu werden. Und du bist gut. Du bist echt gut."

Diese Frau war ihr gefolgt und sie hatte es nicht bemerkt? Sie wurde unaufmerksam.

"Sag mir nicht, du möchtest mir jetzt eine Zusammenarbeit vorschlagen. Ich denke nicht, dass wir Freundinnen werden könnten."

"Das brauchen wir auch nicht. Darum geht es nicht. Wir haben ein gemeinsames Ziel. Diese Ziele heißen Wagner, Rabe, Eckert und Meininger. Du kennst bestimmt ihre Namen. Doch du weißt nicht, wo du sie finden kannst. Ich werde dir helfen. Und du wirst mir helfen. Ich nenne dir die Orte, den perfekten Zeitpunkt, die ideale Mordwaffe. Und du wirst sie töten. Einen nach dem anderen. Wir werden sie ausschalten. Alle."

Isabella ließ von ihr ab und steckte das Messer weg. Miriam fasste sich an den Hals.

"Und wieso um alles in der Welt sollte ich dir vertrauen?"

"Weil du nicht dumm bist. Du weißt, dass ich nicht lüge."

"Traue niemals der GSD", zitierte Isabella den beliebten Spruch, der ihres Wissens nach hundertprozentig der Richtigkeit entsprach.

"Ich bin nicht mehr die GSD."

"Wer bist du dann?"

"Jemand, der einen Fehler wiedergutmachen möchte."