Kapitel zweiundneunzig

BEI AVASS, IRAN

5. Dezember, 18:39 Uhr GMT+3:30

 

 

»Arfa! Können Sie mich hören? Melden Sie sich!«

General Asadi Daei verfolgte zornig, wie seine Männer den gepanzerten SUV mit fast komisch anmutender Gemächlichkeit über die Rampe des Transportflugzeugs manövrierten. Das Seuchenschutzteam säumte schon seit fünf Minuten in Schutzanzügen die dunkle Straße und wartete.

Der Zustand der ursprünglichen Landezone war viel schlechter, als die Schreibtischhengste aus Omidis Geheimdienstministerium es ihnen berichtet hatten. So schlecht, dass sie gezwungen waren, nach einem Gelände zu suchen, das breit und eben genug war, um landen zu können. Es war ein unverzeihlicher Fehler, durch den sie zwanzig Minuten verloren hatten und sich weiter als geplant von dem Dorf entfernt hatten.

»Arfa! Melden Sie sich!«

Das Funkgerät erwachte stotternd zum Leben, doch die Stimme des Mannes, der den Sicherungstrupp anführte, war durch das Rauschen nur schwer zu verstehen. Daei ging ein Stück die Straße hinunter, um sich von den nervösen Wissenschaftlern zu entfernen, die zum zehnten Mal ihre Ausrüstung überprüften.

»General? Können Sie mich hören?«

»Kaum. Wie ist die Lage? Haben Sie das Ortszentrum gesichert?«

Eine Gewehrsalve war aus dem Funkgerät zu hören, gefolgt von unverständlichen Kommandos, die Arfa seinen Männern zurief.

»Major! Sind Sie noch da?«

»Ich bin da, General. Nein, wir haben das Gebiet noch nicht vollständig sichern können. Es ist schwer, Polizei und Widerstandskämpfer auseinanderzuhalten, vor allem jetzt, wo es dunkel ist. Und da sind Zivilisten …«

»Es ist mir egal, wer wer ist!«, rief Daei ungeduldig. »Sie sollen jeden eliminieren, der Sie nicht aktiv unterstützt. Habe ich Ihnen das nicht klar gesagt?«

»Doch, General, aber …«

»Dann befolgen Sie Ihre Befehle, Major!«

»Jawohl, General.«

Die Zurückhaltung des Mannes war in Anbetracht der Umstände verständlich. Was er jedoch nicht wusste, war, dass schwere Bomber unterwegs waren, die den ganzen Ort noch während ihres Aufenthalts dem Erdboden gleichmachen würden. Die übrigen Fallschirmjäger würden den Ort absperren, damit kein Bewohner flüchten konnte, doch am Ende mussten auch sie geopfert werden. Der Parasit durfte unter keinen Umständen weitergetragen werden.

»Haben Sie schon ein Opfer des Parasiten gefangen, Major?«

»Wir haben es zweimal versucht, aber sie sind viel schneller und stärker, als wir gedacht hatten. Der eine starb bei einem Sturz, und den anderen mussten wir erschießen.«

Daei hämmerte die Faust zornig gegen den Rumpf des Flugzeugs, während er weiter die Straße hinunter marschierte. Hinter ihm ertönte das Dröhnen von Flugzeugtriebwerken, doch er blickte sich nicht um.

»Ich möchte eines klarstellen, Major. Wenn ich in Avass ankomme und Sie haben keinen Infizierten gefangen, dann werden nicht nur Sie, sondern auch Ihre Familie dafür bezahlen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Arfa antwortete etwas, doch seine Worte waren über dem Rauschen und dem Dröhnen der ankommenden Jets nicht mehr zu verstehen. Daei wirbelte zornig herum und sah eine Formation von im Mondlicht nur schwer erkennbaren Kampfflugzeugen. Was in Allahs Namen machten sie da?

»Wiederholen Sie Ihre letzte Meldung, Major. Ich …«

Er verstummte, als einer der Kampfjets aus der Formation ausscherte und im Hochsteigen sein unverkennbares Profil zeigte.

Daei ließ sein Funkgerät fallen und rannte in die offene Wüste hinaus. »Schnell weg vom Flugzeug!«, rief er, als die erschrockenen Wissenschaftler ihm nachsahen, wie er über den Sand sprintete. »Geht in Deckung!«

 

Der Schlag, der wie aus dem Nichts kam, riss Smith von den Beinen und schleuderte ihm die Pistole aus der Hand, ehe er abdrücken konnte. Er versuchte sich von dem Mann zu befreien, doch es ging alles so schnell, dass er nur noch versuchen konnte, nicht allzu hart auf dem felsigen Boden zu landen.

Er achtete nicht auf das Knacken von mindestens einer seiner Rippen und streckte die Hand nach der Waffe aus. Doch es war zwecklos. Der Mann auf ihm war in der besseren Position und noch dazu zwanzig Kilo schwerer. Er würde sie vor ihm erreichen.

»Peter! Die P…«

Er sah einen blonden Haarschopf in der Dunkelheit aufblitzen, und plötzlich war er wieder frei. Smith versuchte, die Schmerzen in der Seite zu ignorieren, und schnappte sich die Pistole. Sarie hatte keine Chance in dem Ringkampf gegen den Mann, den sie angegriffen hatte – doch das Blatt wendete sich zu ihren Gunsten, als Smith dem Dorfbewohner die Pistole gegen den Hinterkopf drückte.

Er zog Sarie auf die Beine und blickte in die mondbeschienenen Gesichter ringsum. Die Gruppe von Flüchtlingen, denen sie sich angeschlossen hatten, war auf etwa fünfundzwanzig Leute geschrumpft, von denen vier mit Sicherheit infiziert waren. Drei waren noch im Stadium der Verwirrung, während der vierte gerade zwei Jungen angegriffen hatte, die ihn beim Gehen gestützt hatten.

Farrokh hatte sofort eingegriffen und mit seinem Maschinengewehr gefuchtelt, während er den Leuten etwas auf Persisch zurief, doch auch er konnte das allgemeine Chaos nicht mehr verhindern. Einige flüchteten und stolperten übereinander, während andere versuchten, den tobenden Mann zu bändigen, der, wie Smith vermutete, der Vater der beiden Jungen war, auf die er sich gestürzt hatte.

Howell hatte sich eingeschaltet und versucht, den Mann mit einem gezielten Schuss zu stoppen, doch die durcheinanderlaufenden Leute und die Dunkelheit machten es ihm unendlich schwer. Schließlich riss sich der Infizierte los und wandte dem Briten für einen Sekundenbruchteil die Brust zu, ehe er wieder auf seine Söhne losgehen konnte.

Es war ein bemerkenswerter Schuss – ganz knapp an vier Leuten vorbei, ehe er mitten ins Ziel traf. Der Mann stürzte rücklings zu Boden, schlug wild mit den Armen um sich und heulte wie ein verwundetes Tier.

Als er sich nicht mehr rührte, wandten sich alle Augen Howell zu, der mit der rauchenden Pistole in der Hand dastand. Keiner der Flüchtenden hatte gewusst, was hier vor sich ging und warum die drei Leute aus dem Westen hier bei ihnen waren, doch sie hatten ihre Anwesenheit toleriert. Doch jetzt hatte ein unbekannter Brite einen unbewaffneten Mann erschossen, den sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatten.

Farrokh versuchte die bedrohliche Stille zu nutzen, um den Leuten zu erklären, was hier vor sich ging, aber niemand schien ihm zuzuhören. Er hatte seinen Einfluss in diesem Teil des Landes durchaus richtig eingeschätzt – für diese Leute war er offensichtlich ein Fremder.

Der Junge, dem Howell das Leben gerettet hatte, sprang auf und schrie sie an, und die anderen schienen seinen Zorn durchaus berechtigt zu finden.

»Ich glaube, wir sind hier nicht mehr willkommen«, sagte Smith. »Zeit, zu gehen.«

Farrokh ignorierte ihn und machte mit seinen fruchtlosen Erklärungsversuchen weiter. Ein viel älterer Mann wollte sich auf ihn stürzen, und Farrokh konnte gerade noch ausweichen. Immer mehr Leute kamen auf sie zu und schleuderten ihnen Schimpfworte entgegen, die selbst Smith mit seinen kaum vorhandenen Persischkenntnissen verstand.

Schließlich sah Farrokh ein, dass er nichts ausrichten konnte, und feuerte eine Salve über die Köpfe der Leute ab, ehe er sich Smith, Howell und Sarie anschloss, die bereits das Weite suchten. Sie hielten ihre Waffen auf den Mob gerichtet, wichen den Steinen aus, die die wütenden Leute nach ihnen warfen, und blieben nicht stehen, bis sie sich gut fünfhundert Meter entfernt hatten.

»Bei den drei anderen werden die Symptome in weniger als einer Stunde voll ausbrechen«, sagte Sarie. »Wir können diese Leute nicht einfach alleinlassen. Wir sind als Einzige bewaffnet!«

»Die Waffen nützen nichts«, erwiderte Smith. »Sie lassen uns nicht mehr an sich heran. Wir können nichts mehr tun.«

»Nichts mehr tun?«, rief sie verzweifelt. »Die Iraner können das hier nicht unter Kontrolle bekommen. Diese Leute haben keine Ahnung, was da auf sie zukommt.«

»Sie hat recht«, warf Farrokh ein. »Du hast gesagt, die Amerikaner würden uns helfen, Jon. Wo sind sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was heißt das – du weißt es nicht? Du hast doch mit ihnen gesprochen.«

»Ja, das habe ich.«

»Und?«

Er sah Howell an, doch der blieb stumm.

»Ich habe ihnen gesagt, sie sollen das ganze Gebiet auslöschen.«

»Was meinst du mit auslöschen?«, fragte Sarie.

»Wir haben ein Atom-U-Boot vor der Küste. Ich habe ihnen geraten, es einzusetzen.«

Einige Augenblicke herrschte nur Schweigen; es war Farrokh, der als Erster reagierte. »Ich verstehe nicht ganz. Ein Atom-U-Boot, das ist ein Unterseeboot mit Nuklearantrieb, mit konventionellen Waffen bestückt, nicht wahr?«

»Das hier hat Atomwaffen.«

Smith sah den Angriff kommen, doch er verteidigte sich nicht, als ihn der Gewehrkolben mitten auf die Brust traf und ihn schmerzhaft zu Boden gehen ließ. Howells Hand verharrte über der Pistole in seinem Hosenbund, doch er schien sich nicht unbedingt einmischen zu wollen. Sarie stand einfach nur völlig verdutzt da.

»Du hast deinen Leuten gesagt, sie sollen mein Land angreifen?« , rief Farrokh und richtete sein Gewehr auf Smiths Kopf. »Ich habe dir vertraut. Meine Männer sind für dich gestorben!«

»Farrokh …«, begann er. Er brachte kaum ein Wort heraus mit seinen gebrochenen Rippen, außerdem lastete das Gewicht dessen, was er getan hatte, schwer auf ihm. »Was sollte ich denn machen? Ich konnte nicht riskieren …«

Eine Explosion blitzte im Westen auf, und im nächsten Augenblick folgte ein tiefes Donnergrollen, das die Erde erschütterte. Sie drehten sich alle um und sahen vielleicht zwanzig Kilometer südlich von Avass eine mächtige Wand aus Flammen emporsteigen.

Die Flugzeuge darüber scherten aus der Formation aus und zeichneten sich immer deutlicher im Lichtschein des Feuers ab, bis Smith sie definitiv erkannte. Es waren amerikanische F-16-Kampfjets.

Er brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Die Aussicht des sicheren Todes hatte seinen Sinn für das Hier und Jetzt getrübt und ihn in Schuldgefühlen versinken lassen.

»Castilla hat nicht auf mich gehört«, begriff er schließlich. »Er wird die Atomwaffen nicht einsetzen! Farrokh, gib mir noch einmal das Telefon. Wenn ich unsere Position durchgebe, kann ich uns vielleicht hier rausbringen.«

Die Ares Entscheidung
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